Geschichte Des Agathon Teil 1

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Author: Christoph Martin Wieland

Erstes Kapitel

Vorbereitung zu einem sehr interessanten Diskurs

"Wenn wir auf das Tun und Lassen der Menschen acht geben, mein lieber Callias, so scheint zwar, dass alle ihre Sorgen und Bemuehungen kein andres Ziel haben als sich gluecklich zu machen; allein die Seltenheit dererjenigen die es wuerklich sind, oder es doch zu sein glauben, beweiset zugleich, dass die meisten nicht wissen, durch was fuer Mittel sie sich gluecklich machen sollen, wenn sie es nicht sind; oder wie sie sich ihres guten Glueckes bedienen sollen, um in denjenigen Zustand zu kommen den man Glueckseligkeit nennt. Es gibt eben so viele die im Schosse des Ansehens, des Gluecks und der Wollust, als solche die in einem Zustande von Mangel, Dienstbarkeit und Unterdrueckung elend sind. Einige haben sich aus diesem letztern Zustand emporgearbeitet, in der Meinung, dass sie nur darum unglueckselig sein, weil es ihnen am Besitz der Gueter des Gluecks fehle. Allein die Erfahrung hat sie gelehrt, dass wenn es eine Kunst gibt, die Mittel zur Glueckseligkeit zu erwerben, es vielleicht eine noch schwerere, zum wenigsten eine seltnere Kunst sei, diese Mittel recht zu gebrauchen. Es ist daher allezeit die Beschaeftigung der Verstaendigsten unter den Menschen gewesen, durch Verbindung dieser beiden Kuenste diejenige heraus zu bringen, die man die Kunst gluecklich zu leben nennen kann, und in deren wuerklichen Ausuebung, nach meinem Begriffe, die Weisheit besteht, die so selten ein Anteil der Sterblichen ist. Ich nenne sie eine Kunst, weil sie von der fertigen Anwendung gewisser Regeln abhaengt, die nur durch die uebung erlangt werden kann: Allein sie setzt wie alle Kuenste einen gewissen Grad von Faehigkeit voraus, den nur die Natur gibt, und den sie nicht allen zu geben pflegt. Einige Menschen scheinen kaum einer groessern Glueckseligkeit faehig zu sein als die Austern, und wenn sie ja eine Seele haben, so ist es nur so viel als sie brauchen, um ihren Leib eine Zeitlang vor der Faeulnis zu bewahren. Ein groesserer und vielleicht der groesste Teil der Menschen befindet sich nicht in diesem Fall; aber weil es ihnen an genugsamer Staerke des Gemuets, und an einer gewissen Zaertlichkeit der Empfindung mangelt, so ist ihr Leben gleich dem Leben der uebrigen Tiere des Erdbodens, zwischen Vergnuegen, die sie weder zu waehlen noch zu geniessen, und Schmerzen, denen sie weder zu widerstehen noch zu entfliehen wissen, geteilt. Wahn und Leidenschaften sind die Triebfedern dieser menschlichen Maschinen; beide setzen sie einer unendlichen Menge von uebeln aus, die es nur in einer betrognen Einbildung, aber eben darum wo nicht schmerzlicher doch anhaltender und unheilbarer sind, als diejenigen die uns die Natur auferlegt. Diese Art von Menschen ist keines gesetzten und anhaltenden Vergnuegens, keines Zustandes von Glueckseligkeit faehig; ihre Freuden sind Augenblicke, und ihre uebrige Dauer ist entweder ein wuerkliches Leiden, oder ein unaufhoerliches Gefuehl verworrner Wuensche, eine immerwaehrende Ebbe und Flut von Furcht und Hoffnung, von Phantasien und Geluesten; kurz eine unruhige Bewegung die weder ein gewisses Mass noch ein festes Ziel hat, und also weder ein Mittel zur Erhaltung dessen was gut ist sein kann, noch dasjenige geniessen laesst, was man wuerklich besitzt. Es scheint also unmoeglich zu sein, ohne eine gewisse Zaertlichkeit der Empfindung, die uns in einer weitern Sphaere, mit feinern Sinnen und auf eine angenehmere Art geniessen laesst, und ohne diejenige Staerke der Seele, die uns faehig macht das Joch der Phantasie und des Wahns abzuschuetteln, und die Leidenschaften in unsrer Gewalt zu haben, zu demjenigen ruhigen Zustande von Genuss und Zufriedenheit zu kommen, der die Glueckseligkeit ausmacht. Nur derjenige ist in der Tat gluecklich, der sich von den uebeln die nur in der Einbildung bestehen, gaenzlich frei zu machen; diejenigen aber, denen die Natur den Menschen unterworfen hat, entweder zu vermeiden, oder doch zu vermindern—und das Gefuehl derselben einzuschlaefern, hingegen sich in den Besitz alles des Guten, dessen uns die Natur faehig gemacht hat, zu setzen, und was er besitzt, auf die angenehmste Art zu geniessen weiss; und dieser Glueckselige allein ist der Weise.

Wenn ich dich anders recht kenne, Callias, so hat dich die Natur mit den Faehigkeiten es zu sein so reichlich begabt, als mit den Vorzuegen, deren kluger Gebrauch uns die Gunstbezeugungen des Gluecks zu verschaffen pflegt. Dem ungeachtet bist du weder gluecklich, noch hast du die Miene es jemals zu werden, so lange du nicht gelernt haben wirst, von beiden einen andern Gebrauch zu machen als du bisher getan hast. Du wendest die Staerke deiner Seele an, dein Herz gegen das wahre Vergnuegen unempfindlich zu machen, und beschaeftigest deine Empfindlichkeit mit unwesentlichen Gegenstaenden, die du nur in der Einbildung siehest, und nur im Traume geniessest; die Vergnuegungen, welche die Natur dem Menschen zugeteilt hat, sind fuer dich Schmerzen, weil du dir Gewalt antun musst sie zu entbehren; und du setzest dich allen uebeln aus, die sie uns vermeiden lehrt, indem du anstatt einer nuetzlichen Geschaeftigkeit dein Leben mit den suessen Einbildungen wegtraeumest, womit du dir die Beraubung des wuerklichen Vergnuegens zu ersetzen suchst. Dein uebel, mein lieber Callias, entspringt von einer Einbildungskraft, die dir ihre Geschoepfe in einem ueberirdischen Glanze zeigt, der dein Herz verblendet, und ein falsches Licht ueber das was wuerklich ist ausbreitet; einer dichterischen Einbildungskraft, die sich beschaeftiget schoenere Schoenheiten, und angenehmere Vergnuegungen zu erfinden als die Natur hat; einer Einbildungskraft, ohne welche weder Homere, noch Alcamene, noch Polygnote waeren; welche gemacht ist unsre Ergoetzungen zu verschoenern, aber nicht die Fuehrerin unsers Lebens zu sein. Um weise zu sein, hast du nichts noetig als die gesunde Vernunft an die Stelle dieser begeisterten Zauberin, und die kalte ueberlegung an den Platz eines sehr oft betrueglichen Gefuehls zu setzen. Bilde dir auf etliche Augenblick’ ein, dass du den Weg zur Glueckseligkeit erst suchen muessest; frage die Natur, hoere ihre Antwort, und folge dem Pfade, den sie dir vorzeichnen wird."

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