Die Leiden Des Jungen Werther— Volume 2

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Author: Johann Wolfgang von Goethe

Am 20. Dezember

Ich danke deiner Liebe, Wilhelm, dass du das Wort so aufgefangen hast. Ja, du hast recht: mir waere besser, ich ginge. Der Vorschlag, den du zu einer Rueckkehr zu euch tust, gefaellt mir nicht ganz; wenigstens moechte ich noch gern einen Umweg machen, besonders da wir anhaltenden Frost und gute Wege zu hoffen haben. Auch ist mir es sehr lieb, dass du kommen willst, mich abzuholen; verziehe nur noch vierzehn Tage, und erwarte noch einen Brief von mir mit dem Weiteren. Es ist noetig, dass nichts gepflueckt werde, ehe es reif ist. Und vierzehn Tage auf oder ab tun viel. Meiner Mutter sollst du sagen: dass sie fuer ihren Sohn beten soll, und dass ich sie um Vergebung bitte wegen alles Verdrusses, den ich ihr gemacht habe. Das war nun mein Schicksal, die zu betrueben, denen ich Freude schuldig war. Leb’ wohl, mein Teuerster! Allen Segen des Himmels ueber dich! Leb’ wohl!"

Was in dieser Zeit in Lottens Seele vorging, wie ihre Gesinnungen gegen ihren Mann, gegen ihren ungluecklichen Freund gewesen, getrauen wir uns kaum mit Worten auszudruecken, ob wir uns gleich davon, nach der Kenntnis ihres Charakters, wohl einen stillen Begriff machen koennen, und eine schoene weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihr empfinden kann.

So viel ist gewiss, sie war fest bei sich entschlossen, alles zu tun, um Werthern zu entfernen, und wenn sie zauderte, so war es eine herzliche, freundschaftliche Schonung, weil sie wusste, wie viel es ihm kosten, ja dass es ihm beinahe unmoeglich sein wuerde. Doch ward sie in dieser Zeit mehr gedraengt, Ernst zu machen; es schwieg ihr Mann ganz ueber dies Verhaeltnis, wie sie auch immer darueber geschwiegen hatte, und um so mehr war ihr angelegen, ihm durch die Tat zu beweisen, wie ihre Gesinnungen der seinigen wert seien.

An demselben Tage, als Werther den zuletzt eingeschalteten Brief an seinen Freund geschrieben, es war der Sonntag vor Weihnachten, kam er abends zu Lotten und fand sie allein. Sie beschaeftigte sich, einige Spielwerke in Ordnung zu bringen, die sie ihren kleinen Geschwistern zum Christgeschenke zurecht gemacht hatte. Er redete von dem Vergnuegen, das die Kleinen haben wuerden, und von den Zeiten, da einen die unerwartete OEffnung der Tuer und die Erscheinung eines aufgeputzten Baumes mit Wachslichtern, Zuckerwerk und aepfeln in paradiesische Entzueckung setzte.—"Sie sollen,"sagte Lotte, indem sie ihre Verlegenheit unter ein liebes Laecheln verbarg,"Sie sollen auch beschert kriegen, wenn Sie recht geschickt sind; ein Wachsstoeckchen und noch was".—"Und was heissen Sie geschickt sein?"rief er aus;"wie soll ich sein? Wie kann ich sein? Beste Lotte!"-"Donnerstag abend", sagte sie,"ist Weihnachtsabend, da kommen die Kinder, mein Vater auch, da kriegt jedes das Seinige, da kommen Sie auch—aber nicht eher".—Werther stutzte.—"Ich bitte Sie, "fuhr sie fort,"es ist nun einmal so, ich bitte um meiner Ruhe willen, es kann nicht, es kann nicht so bleiben".—Er wendete seine Augen von ihr und ging in der Stube auf und ab und murmelte das"es kann nicht so bleiben!"zwischen den Zaehnen.—Lotte, die den schrecklichen Zustand fuehlte, worein ihn diese Worte versetzt hatten, suchte durch allerlei Fragen seine Gedanken abzulenken, aber vergebens.—"Nein, Lotte,"rief er aus,"ich werde Sie nicht wiedersehen!"-"Warum das?"versetzte sie,"Werther, Sie koennen, Sie muessen uns wiedersehen, nur maessigen Sie sich. O warum mussten Sie mit dieser Heftigkeit, dieser unbezwinglich haftenden Leidenschaft fuer alles, was Sie einmal anfassen, geboren werden! Ich bitte Sie,"fuhr sie fort, indem sie ihn bei der Hand nahm,"maessigen Sie sich! Ihr Geist, Ihre Wissenschaften, Ihre Talente, was bieten die Ihnen fuer mannigfaltige Ergetzungen dar! Sein Sie ein Mann, wenden Sie diese traurige Anhaenglichkeit von einem Geschoepf, das nichts tun kann als Sie bedauern".—Er knirrte mit den Zaehnen und sah sie duester an.—Sie hielt seine Hand. "Nur einen Augenblick ruhigen Sinn, Werther!"sagte sie". Fuehlen Sie nicht, dass Sie sich betriegen, sich mit Willen zugrunde richten! Warum denn mich, Werther? Just mich, das Eigentum eines andern? Just das? Ich fuerchte, ich fuerchte, es ist nur die Unmoeglichkeit, mich zu besitzen, die Ihnen diesen Wunsch so reizend macht".—Er zog seine Hand aus der ihrigen, indem er sie mit einem starren, unwilligen Blick ansah. "Weise!"rief er,"sehr weise! Hat vielleicht Albert diese Anmerkung gemacht? Politisch! Sehr politisch! "-"Es kann sie jeder machen", versetzte sie drauf, "und sollte denn in der weiten Welt kein Maedchen sein, das die Wuensche Ihres Herzens erfuellte? Gewinnen Sie’s ueber sich, suchen Sie darnach, und ich schwoere Ihnen, Sie werden sie finden; denn schon lange aengstigt mich, fuer Sie und uns, die Einschraenkung, in die Sie sich diese Zeit her selbst gebannt haben. Gewinnen Sie ueber sich, eine Reise wird Sie, muss Sie zerstreuen! Suchen Sie, finden Sie einen werten Gegenstand Ihrer Liebe, und kehren Sie zurueck, und lassen Sie uns zusammen die Seligkeit einer wahren Freundschaft geniessen". "das koennte man", sagte er mit einem kalten Lachen, "drucken lassen und allen Hofmeistern empfehlen. Liebe Lotte! Lassen Sie mir noch ein klein wenig Ruh, es wird alles werden!"-"nur das, Werther, dass Sie nicht eher kommen als Weihnachtsabend!"—er wollte antworten, und Albert trat in die Stube. Man bot sich einen frostigen Guten Abend und ging verlegen im Zimmer neben einander auf und nieder. Werther fing einen unbedeutenden Diskurs an, der bald aus war, Albert desgleichen, der sodann seine Frau nach gewissen Auftraegen fragte und, als er hoerte, sie seien noch nicht ausgerichtet, ihr einige Worte sagte, die Werthern kalt, ja gar hart vorkamen. Er wollte gehen, er konnte nicht und zauderte bis acht, da sich denn sein Unmut und Unwillen immer vermehrte, bis der Tisch gedeckt wurde, und er Hut und Stock nahm. Albert lud ihn zu bleiben, er aber, der nur ein unbedeutendes Kompliment zu hoeren glaubte, dankte kalt dagegen und ging weg.

Er kam nach Hause, nahm seinem Burschen, der ihm leuchten wollte, das Licht aus der Hand und ging allein in sein Zimmer, weinte laut, redete aufgebracht mit sich selbst, ging heftig die Stube auf und ab und warf sich endlich in seinen Kleidern aufs Bette, wo ihn der Bediente fand, der es gegen eilfe wagte hineinzugehn, um zu fragen, ob er dem Herrn die Stiefeln ausziehen sollte, das er denn zuliess und dem Bedienten verbot, den andern Morgen ins Zimmer zu kommen, bis er ihm rufen wuerde.

Montags frueh, den einundzwanzigsten Dezember, schrieb er folgenden Brief an Lotten, den man nach seinem Tode versiegelt auf seinem Schreibtische gefunden und ihr ueberbracht hat, und den ich absatzweise hier einruecken will, so wie aus den Umstaenden erhellet, dass er ihn geschrieben habe.

"Es ist beschlossen, Lotte, ich will sterben, und das schreibe ich dir ohne romantische ueberspannung, gelassen, an dem Morgen des Tages, an dem ich dich zum letzten Male sehen werde. Wenn du dieses liesest, meine Beste, deckt schon das kuehle Grab die erstarrten Reste des Unruhigen, Ungluecklichen, der fuer die letzten Augenblicke seines Lebens keine groessere Suessigkeit weiss, als sich mit dir zu unterhalten. Ich habe eine schreckliche Nacht gehabt und, ach, eine wohltaetige Nacht. Sie ist es, die meinen Entschluss befestiget, bestimmt hat: ich will sterben! Wie ich mich gestern von dir riss, in der fuerchterlichen Empoerung meiner Sinne, wie sich alles das nach meinem Herzen draengte und mein hoffnungsloses, freudeloses Dasein neben dir in graesslicher Kaelte mich anpackte—ich erreichte kaum mein Zimmer, ich warf mich ausser mir auf meine Knie, und o Gott! Du gewaehrtest mir das letzte Labsal der bittersten Traenen! Tausend Anschlaege, tausend Aussichten wueteten durch meine Seele, und zuletzt stand er da, fest, ganz, der letzte, einzige Gedanke: ich will sterben!—ich legte mich nieder, und morgens, in der Ruhe des Erwachens, steht er noch fest, noch ganz stark in meinem Herzen: ich will sterben!—es ist nicht Verzweiflung, es ist Gewissheit, dass ich ausgetragen habe, und dass ich mich opfere fuer dich. Ja, Lotte! Warum sollte ich es verschweigen? Eins von uns dreien muss hinweg, und das will ich sein! O meine Beste! In diesem zerrissenen Herzen ist es wuetend herumgeschlichen, oft—deinen Mann zu ermorden!—dich!—mich! —so sei es denn!—wenn du hinaufsteigst auf den Berg, an einem schoenen Sommerabende, dann erinnere dich meiner, wie ich so oft das Tal heraufkam, und dann blicke nach dem Kirchhofe hinueber nach meinem Grabe, wie der Wind das hohe Gras im Scheine der sinkenden Sonne hin und her wiegt.—ich war ruhig, da ich anfing, nun, nun weine ich wie ein Kind, da alles das so lebhaft um mich wird.-"

Gegen zehn Uhr rief Werther seinem Bedienten, und unter dem Anziehen sagte er ihm, wie er in einigen Tagen verreisen wuerde, er solle daher die Kleider auskehren und alles zum Einpacken zurecht machen; auch gab er ihm Befehl, ueberall Kontos zu fordern, einige ausgeliehene Buecher abzuholen und einigen Armen, denen er woechentlich etwas zu geben gewohnt war, ihr Zugeteiltes auf zwei Monate voraus zu bezahlen.

Er liess sich das Essen auf die Stube bringen, und nach Tische ritt er hinaus zum Amtmanne, den er nicht zu Hause antraf. Er ging tiefsinnig im Garten auf und ab und schien noch zuletzt alle Schwermut der Erinnerung auf sich haeufen zu wollen.

Die Kleinen liessen ihn nicht lange in Ruhe, sie verfolgten ihn, sprangen an ihm hinauf, erzaehlen ihm, dass, wenn morgen, und wieder morgen, und noch ein Tag waere, sie die Christgeschenke bei Lotten holten, und erzaehlten ihm Wunder, die sich ihre kleine Einbildungskraft versprach.—"morgen!"rief er aus,"und wieder morgen! Und noch ein Tag!"—und kuesste sie alle herzlich und wollte sie verlassen, als ihm der Kleine noch etwas in das Ohr sagen wollte. Der verriet ihm, die grossen Brueder haetten schoene Neujahrswuensche geschrieben, so gross! Und einen fuer den Papa, fuer Albert und Lotten einen und auch einen fuer Herrn Werther; die wollten sie am Neujahrstage frueh ueberreichen. Das uebermannte ihn, er schenkte jedem etwas, setzte sich zu Pferde, liess den Alten gruessen und ritt mit Traenen in den Augen davon.

Gegen fuenf kam er nach Hause, befahl der Magd, nach dem Feuer zu sehen und es bis in die Nacht zu unterhalten. Den Bedienten hiess er Buecher und Waesche unten in den Koffer packen und die Kleider einnaehen. Darauf schrieb er wahrscheinlich folgenden Absatz seines letzten Briefes an Lotten.

"Du erwartest mich nicht! Du glaubst, ich wuerde gehorchen und erst Weihnachtsabend dich wieder sehn. O Lotte! Heut oder nie mehr. Weihnachtsabend haeltst du dieses Papier in deiner Hand, zitterst und benetzest es mit deinen lieben Traenen. Ich will, ich muss! O wie wohl ist es mir, dass ich entschlossen bin".

Lotte war indes in einen sonderbaren Zustand geraten. Nach der letzten Unterredung mit Werthern hatte sie empfunden, wie schwer es ihr fallen werde, sich von ihm zu trennen, was er leiden wuerde, wenn er sich von ihr entfernen sollte.

Es war wie im Voruebergehn in Alberts Gegenwart gesagt worden, dass Werther vor Weihnachtsabend nicht wieder kommen werde, und Albert war zu einem Beamten in der Nachbarschaft geritten, mit dem er Geschaefte abzutun hatte, und wo er ueber Nacht ausbleiben musste.

Sie sass nun allein, keins von ihren Geschwistern war um sie, sie ueberliess sich ihren Gedanken, die stille ueber ihren Verhaeltnissen herumschweiften. Sie sah sich nun mit dem Mann auf ewig verbunden, dessen Liebe und Treue sie kannte, dem sie von Herzen zugetan war, dessen Ruhe, dessen Zuverlaessigkeit recht vom Himmel dazu bestimmt zu sein schien, dass eine wackere Frau das Glueck ihres Lebens darauf gruenden sollte; sie fuehlte, was er ihr und ihren Kindern auf immer sein wuerde. Auf der andern Seite war ihr Werther so teuer geworden, gleich von dem ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an hatte sich die uebereinstimmung ihrer Gemueter so schoen gezeigt, der lange dauernde Umgang mit ihm, so manche durchlebte Situationen hatten einen unausloeschlichen Eindruck auf ihr Herz gemacht. Alles, was sie Interessantes fuehlte und dachte, war sie gewohnt mit ihm zu teilen, und seine Entfernung drohete in ihr ganzes Wesen eine Luecke zu reissen, die nicht wieder ausgefuellt werden konnte. O, haette sie ihn in dem Augenblick zum Bruder umwandeln koennen, wie gluecklich waere sie gewesen! Haette sie ihn einer ihrer Freundinnen verheiraten duerfen, haette sie hoffen koennen, auch sein Verhaeltnis gegen Albert ganz wieder herzustellen!

Sie hatte ihre Freundinnen der Reihe nach durchgedacht und fand bei einer jeglichen etwas auszusetzen, fand keine, der sie ihn gegoennt haette.

ueber allen diesen Betrachtungen fuehlte sie erst tief, ohne sich es deutlich zu machen, dass ihr herzliches, heimliches Verlangen sei, ihn fuer sich zu behalten, und sagte sich daneben, dass sie ihn nicht behalten koenne, behalten duerfe; ihr reines, schoenes, sonst so leichtes und leicht sich helfendes Gemuet empfand den Druck einer Schwermut, dem die Aussicht zum Glueck verschlossen ist. Ihr Herz war gepresst, und eine truebe Wolke lag ueber ihrem Auge.

So war es halb sieben geworden, als sie Werthern die Treppe heraufkommen hoerte und seinen Tritt, seine Stimme, die nach ihr fragte, bald erkannte. Wie schlug ihr Herz, und wir duerfen fast sagen zum erstenmal, bei seiner Ankunft. Sie haette sich gern vor ihm verleugnen lassen, und als er hereintrat, rief sie ihm mit einer Art von leidenschaftlicher Verwirrung entgegen:"Sie haben nicht Wort gehalten".—"Ich habe nichts versprochen"war seine Antwort.—"So haetten Sie wenigstens meiner Bitte stattgeben sollen", versetzte sie, "ich bat Sie um unser beider Ruhe".

Sie wusste nicht recht, was sie sagte, ebensowenig was sie tat, als sie nach einigen Freundinnen schickte, um nicht mit Werthern allein zu sein. Er legte einige Buecher hin, die er gebracht hatte, fragte nach andern, und sie wuenschte, bald dass ihre Freundinnen kommen, bald dass sie wegbleiben moechten. Das Maedchen kam zurueck und brachte die Nachricht, dass sich beide entschuldigen liessen.

Sie wollte das Maedchen mit ihrer Arbeit in das Nebenzimmer sitzen lassen; dann besann sie sich wieder anders. Werther ging in der Stube auf und ab, sie trat ans Klavier und fing eine Menuett an, sie wollte nicht fliessen. Sie nahm sich zusammen und setzte sich gelassen zu Werthern, der seinen gewoehnlchen Platz auf dem Kanapee eingenommen hatte.

"Haben Sie nichts zu lesen?"sagte sie.—Er hatte nichts.—"Da drin in meiner Schublade", fing sie an,"liegt Ihre UEbersetzung einiger Gesaenge Ossians; ich habe sie noch nicht gelesen, denn ich hoffte immer, sie von Ihnen zu hoeren; aber zeither hat sich’s nicht finden, nicht machen wollen".—Er laechelte, holte die Lieder, ein Schauer ueberfiel ihn, als er sie in die Haende nahm, und die Augen standen ihm voll Traenen, als er hineinsah. Er setzte sich nieder und las.

"Stern der daemmernden Nacht, schoen funkelst du in Westen, habst dein strahlend Haupt aus deiner Wolke, wandelst stattlich deinen Huegel hin. Wornach blickst du auf die Heide? Die stuermenden Winde haben sich gelegt; von ferne kommt des Giessbachs Murmeln; rauschende Wellen spielen am Felsen ferne; das Gesumme der Abendfliegen schwaermet uebers Feld. Wornach siehst du, schoenes Licht? Aber du laechelst und gehst, freudig umgeben dich die Wellen und baden dein liebliches Haar. Lebe wohl, ruhiger Strahl. Erscheine, du herrliches Licht von Ossians Seele!

Und es erscheint in seiner Kraft. Ich sehe meine geschiedenen Freunde, sie sammeln sich auf Lora, wie in den Tagen, die vorueber sind.—Fingal kommt wie eine feuchte Nebelsaeule; um ihn sind seine Helden, und, siehe! Die Barden des Gesanges: grauer Ullin! Stattlicher Ryno! Alpin, lieblicher Saenger! Und du, sanft klagende Minona!—Wie veraendert seid ihr, meine Freunde, seit den festlichen Tagen auf Selma, da wir buhlten um die Ehre des Gesanges, wie Fruehlingsluefte den Huegel hin wechselnd beugen das schwach lispelnde Gras.

Da trat Minona hervor in ihrer Schoenheit, mit niedergeschlagenem Blick und traenenvollem Auge, schwer floss ihr Haar im unsteten Winde, der von dem Huegel herstiess.—duester ward’s in der Seele der Helden, als sie die liebliche Stimme erhob; denn oft hatten sie das Grab Salgars gesehen, oft die finstere Wohnung der weissen Colma. Colma, verlassen auf dem Huegel, mit der harmonischen Stimme; Salgar versprach zu kommen; aber ringsum zog sich die Nacht. Hoeret Colmas Stimme, da sie auf dem Huegel allein sass.

Colma Es ist Nacht!—Ich bin allein, verloren auf dem stuermischen Huegel. Der Wind saust im Gebirge. Der Strom heult den Felsen hinab. Keine Huette schuetzt mich vor Regen, mich Verlassne auf dem stuermischen Huegel. Tritt, o Mond, aus deinen Wolken, erscheinet, Sterne der Nacht! Leite mich irgend ein Strahl zu dem Orte, wo meine Liebe ruht von den Beschwerden der Jagd, sein Bogen neben ihm abgespannt, seine Hunde schnobend um ihn! Aber hier muss ich sitzen allein auf dem Felsen des verwachsenen Stroms. Der Strom und der Sturm saust, ich hoere nicht die Stimme meines Geliebten.

Warum zaudert mein Salgar? Hat er sein Wort vergessen?—da ist der Fels und der Baum und hier der rauschende Strom! Mit einbrechender Nacht versprachst du hier zu sein; ach! Wohin hat sich mein Salgar verirrt? Mit dir wollt’ ich fliehen, verlassen Vater und Bruder, die stolzen! Lange sind unsere Geschlechter Feinde, aber wir sind keine Feinde, o Salgar!

Schweig eine Weile, o Wind! Still eine kleine Weile, o Strom, dass meine Stimme klinge durchs Tal, dass mein Wanderer mich hoere. Salgar! Ich bin’s, die ruft! Hier ist der Baum und der Fels! Salgar! Mein Lieber! Hier bin ich; warum zauderst du zu kommen?

Sieh, der Mond erscheint, die Flut glaenzt im Tale, die Felsen stehen grau den Huegel hinauf; aber ich seh’ ihn nicht auf der Hoehe, seine Hunde vor ihm her verkuendigen nicht seine Ankunft. Hier muss ich sitzen allein.

Aber wer sind, die dort unten liegen auf der Heide?—Mein Geliebter? Mein Bruder?—Redet, o meine Freunde! Sie antworten nicht. Wie geaengstet ist meine Seele!—Ach sie sind tot! Ihre Schwester rot vom Gefechte! O mein Bruder, mein Bruder, warum hast du meinen Salgar erschlagen? O mein Salgar, warum hast du meinen Bruder erschlagen? Ihr wart mir beide so lieb! O du warst schoen an dem Huegel unter Tausenden! Es war schrecklich in der Schlacht. Antwortet mir! Hoert meine Stimme, meine Geliebten! Aber ach, sie sind stumm, stumm auf ewig! Kalt wie die Erde ist ihr Busen!

O von dem Felsen des Huegels, von dem Gipfel des stuermenden Berges, redet, Geister der Toten! Redet! Mir soll es nicht grausen!—wohin seid ihr zur Ruhe gegangen? In welcher Gruft des Gebirges soll ich euch finden?—keine schwache Stimme vernehme ich im Winde, keine wehende Antwort im Sturme des Huegels. Ich sitze in meinem Jammer, ich harre auf den Morgen in meinen Traenen. Wuehlet das Grab, ihr Freunde der Toten, aber schliesst es nicht, bis ich komme. Mein Leben schwindet wie ein Traum; wie sollt’ ich zurueckbleiben! Hier will ich Felsens—wenn’s Nacht wird auf dem Huegel, und Wind kommt ueber die Heide, soll mein Geist im Winde stehn und trauern den Tod meiner Freunde. Der Jaeger hoert mich aus seiner Laube, fuerchtet meine Stimme und liebt sie; denn suess soll meine Stimme sein um meine Freunde, sie waren mir beide so lieb!

Das war dein Gesang, o Minona, Tormans sanft erroetende Tochter. Unsere Traenen flossen um Colma, und unsere Seele ward duester.

Ullin trat auf mit der Harfe und gab uns Alpins Gesang— Alpins Stimme war freundlich, Rynos Seele ein Feuerstrahl. Aber schon ruhten sie im engen Hause, und ihre Stimme war verhallet in Selma. Einst kehrte Ullin zurueck von der Jagd, ehe die Helden noch fielen. Er hoerte ihren Wettegesang auf dem Huegel. Ihr Lied war sanft, aber traurig. Sie klagten Morars Fall, des ersten der Helden. Seine Seele war wie Fingals Seele, sein Schwert wie das Schwert Oskars—aber er fiel, und sein Vater jammerte, und seiner Schwester Augen waren voll Traenen, Minonas Augen waren voll Traenen, der Schwester des herrlichen Morars. Sie trat zurueck vor Ullins Gesang, wie der Mond in Westen, der den Sturmregen voraussieht und sein schoenes Haupt in eine Wolke verbirgt.—Ich schlug die Harfe mit Ullin zum Gesange des Jammers.

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