Italienische Reise— Volume 1

Contents:
Author: Johann Wolfgang von Goethe

Karlsbad Bis Auf Den Brenner

Den 3. September 1786.

Frueh drei Uhr stahl ich mich aus Karlsbad, weil man mich sonst nicht fortgelassen haette. Die Gesellschaft, die den achtundzwanzigsten August, meinen Geburtstag, auf eine sehr freundliche Weise feiern mochte, erwarb sich wohl dadurch ein Recht, mich festzuhalten; allein hier war nicht laenger zu saeumen. Ich warf mich ganz allein, nur einen Mantelsack und Dachsranzen aufpackend, in eine Postchaise und gelangte halb acht Uhr nach Zwota, an einem schoenen stillen Nebelmorgen. Die obern Wolken streifig und wollig, die untern schwer. Mir schienen das gute Anzeichen. Ich hoffte, nach einem so schlimmen Sommer einen guten Herbst zu geniessen. Um zwoelf in Eger, bei heissem Sonnenschein; und nun erinnerte ich mich, dass dieser Ort dieselbe Polhoehe habe wie meine Vaterstadt, und ich freute mich, wieder einmal bei klarem Himmel unter dem funfzigsten Grade zu Mittag zu essen.

In Bayern stoesst einem sogleich das Stift Waldsassen entgegen—koestliche Besitztuemer der geistlichen Herren, die frueher als andere Menschen klug waren. Es liegt in einer Teller-, um nicht zu sagen Kesseltiefe, in einem schoenen Wiesengrunde, rings von fruchtbaren sanften Anhoehen umgeben. Auch hat dieses Kloster im Lande weit umher Besitzungen. Der Boden ist aufgeloester Tonschiefer. Der Quarz, der sich in dieser Gebirgsart befindet und sich nicht aufloest, noch verwittert, macht das Feld locker und durchaus fruchtbar. Bis gegen Tirschenreuth steigt das Land noch. Die Wasser fliessen einem entgegen, nach der Eger und Elbe zu. Von Tirschenreuth an faellt es nun suedwaerts ab, und die Wasser laufen nach der Donau. Mir gibt es sehr schnell einen Begriff von jeder Gegend, wenn ich bei dem kleinsten Wasser forsche, wohin es laeuft, zu welcher Flussregion es gehoert. Man findet alsdann selbst in Gegenden, die man nicht uebersehen kann, einen Zusammenhang der Berge und Taeler gedankenweise. Vor gedachtem Ort beginnt die treffliche Chaussee von Granitsand; es laesst sich keine vollkommenere denken; denn da der aufgeloeste Granit aus Kiesel und Tonerde besteht, so gibt das zugleich einen festen Grund und ein schoenes Bindungsmittel, die Strasse glatt wie eine Tenne zu machen. Die Gegend, durch die sie gefuehrt ist, sieht desto schlechter aus: gleichfalls Granitsand, flachliegend, moorig, und der schoene Weg desto erwuenschter. Da nun zugleich das Land abfaellt, so koemmt man fort mit unglaublicher Schnelle, die gegen den boehmischen Schneckengang recht absticht. Beiliegendes Blaettchen benennt die verschiedenen Stationen. Genug, ich war den andern Morgen um zehn Uhr in Regensburg und hatte also diese vierundzwanzig und eine halbe Meile in einunddreissig Stunden zurueckgelegt. Da es anfing, Tag zu werden, befand ich mich zwischen Schwanendorf und Regenstauf, und nun bemerkte ich die Veraenderung des Ackerbodens ins Bessere. Es war nicht mehr Verwitterung des Gebirgs, sondern aufgeschwemmtes, gemischtes Erdreich. Den Regenfluss herauf hatte in uralten Zeiten Ebbe und Flut aus dem Donautal in alle die Taeler gewirkt, die gegenwaertig ihre Wasser dorthin ergiessen, und so sind diese natuerlichen Polder entstanden, worauf der Ackerbau gegruendet ist. Diese Bemerkung gilt in der Nachbarschaft aller groessern und kleinern Fluesse, und mit diesem Leitfaden kann der Beobachter einen schnellen Aufschluss ueber jeden der Kultur geeigneten Boden erlangen.

Donau bei Regensburg. Zeichnung von Goethe

Regensburg liegt gar schoen. Die Gegend musste eine Stadt herlocken; auch haben sich die geistlichen Herren wohl bedacht. Alles Feld um die Stadt gehoert ihnen, in der Stadt steht Kirche gegen Kirche und Stift gegen Stift. Die Donau erinnert mich an den alten Main. Bei Frankfurt haben Fluss und Bruecke ein besseres Ansehn, hier aber nimmt sich das gegenueberliegende Stadt am Hof recht artig aus. Ich verfuegte mich gleich in das Jesuitenkollegium, wo das jaehrliche Schauspiel durch Schueler gegeben ward, sah das Ende der Oper und den Anfang des Trauerspiels. Sie machten es nicht schlimmer als eine angehende Liebhabertruppe und waren recht schoen, fast zu praechtig gekleidet. Auch diese oeffentliche Darstellung hat mich von der Klugheit der Jesuiten aufs neue ueberzeugt. Sie verschmaehten nichts, was irgend wirken konnte, und wussten es mit Liebe und Aufmerksamkeit zu behandeln. Hier ist nicht Klugheit, wie man sie sich in Abstracto denkt, es ist eine Freude an der Sache dabei, ein Mit—und Selbstgenuss, wie er aus dem Gebrauche des Lebens entspringt. Wie diese grosse geistliche Gesellschaft Orgelbauer, Bildschnitzer und Vergulder unter sich hat, so sind gewiss auch einige, die sich des Theaters mit Kenntnis und Neigung annehmen, und wie durch gefaelligen Prunk sich ihre Kirchen auszeichnen, so bemaechtigen sich die einsichtigen Maenner hier der weltlichen Sinnlichkeit durch ein anstaendiges Theater.

Heute schreibe ich unter dem neunundvierzigsten Grade. Er laesst sich gut an. Der Morgen war kuehl, und man klagt auch hier ueber Naesse und Kaelte des Sommers; aber es entwickelte sich ein herrlicher gelinder Tag. Die milde Luft, die ein grosser Fluss mitbringt, ist ganz etwas Eigenes. Das Obst ist nicht sonderlich. Gute Birnen hab’ ich gespeist; aber ich sehne mich nach Trauben und Feigen.

Der Jesuiten Tun und Wesen haelt meine Betrachtungen fest. Kirchen, Tuerme, Gebaeude haben etwas Grosses und Vollstaendiges in der Anlage, das allen Menschen insgeheim Ehrfurcht einfloesst. Als Dekoration ist nun Gold, Silber, Metall, geschliffene Steine in solcher Pracht und Reichtum gehaeuft, der die Bettler aller Staende blenden muss. Hier und da fehlt es auch nicht an etwas Abgeschmacktem, damit die Menschheit versoehnt und angezogen werde. Es ist dieses ueberhaupt der Genius des katholischen aeusseren Gottesdienstes; noch nie habe ich es aber mit so viel Verstand, Geschick und Konsequenz ausgefuehrt gesehen als bei den Jesuiten. Alles trifft darin ueberein, dass sie nicht wie andere Ordensgeistliche eine alte abgestumpfte Andacht fortsetzten, sondern sie dem Geist der Zeit zuliebe durch Prunk und Pracht wieder aufstutzten.

Ein sonderbar Gestein wird hier zu Werkstuecken verarbeitet, dem Scheine nach eine Art Totliegendes, das jedoch fuer aelter, fuer urspruenglich, ja fuer porphyrartig gehalten werden muss. Es ist gruenlich mit Quarz gemischt, loecherig, und es finden sich grosse Flecke des festesten Jaspis darin, in welchem sich wieder kleine runde Flecken von Breccienart zeigen. Ein Stueck war gar zu instruktiv und appetitlich, der Stein aber zu fest, und ich habe geschworen, mich auf dieser Reise nicht mit Steinen zu schleppen.

Muenchen, den 6. September.

Den fuenften September halb ein Uhr Mittag reiste ich von Regensburg ab. Bei Abach ist eine schoene Gegend, wo die Donau sich an Kalkfelsen bricht, bis gegen Saale. Es ist der Kalk wie der bei Osteroda am Harz, dicht, aber im ganzen loecherig. Um sechs Uhr morgens war ich in Muenchen, und nachdem ich mich zwoelf Stunden umgesehen, will ich nur weniges bemerken. In der Bildergalerie fand ich mich nicht einheimisch; ich muss meine Augen erst wieder an Gemaelde gewoehnen. Es sind treffliche Sachen. Die Skizzen von Rubens von der Luxemburger Galerie haben mir grosse Freude gemacht.

Hier steht auch das vornehme Spielwerk, die Trajanische Saeule in Modell. Der Grund Lapislazuli, die Figuren verguldet. Es ist immer ein schoen Stueck Arbeit, und man betrachtet es gern.

Im Antikensaale konnte ich recht bemerken, dass meine Augen auf diese Gegenstaende nicht geuebt sind, deswegen wollte ich nicht verweilen und Zeit verderben. Vieles sprach mich gar nicht an, ohne dass ich sagen koennte warum. Ein Drusus erregte meine Aufmerksamkeit, zwei Antonine gefielen mir und so noch einiges. Im ganzen stehen die Sachen auch nicht gluecklich, ob man gleich mit ihnen hat aufputzen wollen, und der Saal oder vielmehr das Gewoelbe ein gutes Ansehn haette, wenn es nur reinlicher und besser unterhalten waere. Im Naturalienkabinett fand ich schoene Sachen aus Tirol, die ich in kleinen Musterstuecken schon kenne, ja besitze.

Es begegnete mir eine Frau mit Feigen, welche als die ersten vortrefflich schmeckten. Aber das Obst ueberhaupt ist doch fuer den achtundvierzigsten Grad nicht besonders gut. Man klagt hier durchaus ueber Kaelte und Naesse. Ein Nebel, der fuer einen Regen gelten konnte, empfing mich heute frueh vor Muenchen. Den ganzen Tag blies der Wind sehr kalt vom Tiroler Gebirg. Als ich vom Turm dahin sah, fand ich es bedeckt und den ganzen Himmel ueberzogen. Nun scheint die Sonne im Untergehen noch an den alten Turm, der mir vor dem Fenster steht. Verzeihung, dass ich so sehr auf Wind und Wetter achthabe: der Reisende zu Lande, fast so sehr als der Schiffer, haengt von beiden ab, und es waere ein Jammer, wenn mein Herbst in fremden Landen so wenig beguenstigt sein sollte als der Sommer zu Hause.

Nun soll es gerade auf Innsbruck. Was lass’ ich nicht alles rechts und links liegen, um den einen Gedanken auszufuehren, der fast zu alt in meiner Seele geworden ist!

Mittenwald, den 7. September, abends.

Es scheint, mein Schutzgeist sagt Amen zu meinem Kredo, und ich danke ihm, der mich an einem so schoenen Tage hierher gefuehrt hat. Der letzte Postillon sagte mit vergnueglichem Ausruf, es sei der erste im ganzen Sommer. Ich naehre meinen stillen Aberglauben, dass es so fortgehen soll, doch muessen mir die Freunde verzeihen, wenn wieder von Luft und Wolken die Rede ist.

Als ich um fuenf Uhr von Muenchen wegfuhr, hatte sich der Himmel aufgeklaert. An den Tiroler Bergen standen die Wolken in ungeheuern Massen fest. Die Streifen der untern Regionen bewegten sich auch nicht. Der Weg geht auf den Hoehen, wo man unten die Isar fliessen sieht, ueber zusammengeschwemmte Kieshuegel hin. Hier wird uns die Arbeit der Stroemungen des uralten Meeres fasslich. In manchem Granitgeschiebe fand ich Geschwister und Verwandte meiner Kabinettsstuecke, die ich Knebeln verdanke.

Die Nebel des Flusses und der Wiesen wehrten sich eine Weile, endlich wurden auch diese aufgezehrt. Zwischen gedachten Kieshuegeln, die man sich mehrere Stunden weit und breit denken muss, das schoenste fruchtbarste Erdreich wie im Tale des Regenflusses. Nun muss man wieder an die Isar und sieht einen Durchschnitt und Abhang der Kieshuegel, wohl hundertundfunfzig Fuss hoch. Ich gelangte nach Wolfrathshausen und erreichte den achtundvierzigsten Grad. Die Sonne brannte heftig, niemand traut dem schoenen Wetter, man schreit ueber das boese des vergehenden Jahres, man jammert, dass der grosse Gott gar keine Anstalt machen will.

Nun ging mir eine neue Welt auf. Ich naeherte mich den Gebirgen, die sich nach und nach entwickelten.

Benediktbeuern liegt koestlich und ueberrascht beim ersten Anblick. In einer fruchtbaren Flaeche ein lang und breites weisses Gebaeude und ein breiter hoher Felsruecken dahinter. Nun geht es hinauf zum Kochelsee; noch hoeher ins Gebirge zum Walchensee. Hier begruesste ich die ersten beschneiten Gipfel, und auf meine Verwunderung, schon so nahe bei den Schneebergen zu sein, vernahm ich, dass es gestern in dieser Gegend gedonnert, geblitzt und auf den Bergen geschneit habe. Aus diesen Meteoren wollte man Hoffnung zu besserem Wetter schoepfen und aus dem ersten Schnee eine Umwandlung der Atmosphaere vermuten. Die Felsklippen, die mich umgeben, sind alle Kalk, von dem aeltesten, der noch keine Versteinerungen enthaelt. Diese Kalkgebirge gehen in ungeheuern ununterbrochenen Reihen von Dalmatien bis an den Sankt Gotthard und weiter fort. Hacquet hat einen grossen Teil der Kette bereist. Sie lehnen sich an das quarz—und tonreiche Urgebirge.

Nach Walchensee gelangte ich um halb fuenf. Etwa eine Stunde von dem Orte begegnete mir ein artiges Abenteuer: ein Harfner mit seiner Tochter, einem Maedchen von eilf Jahren, gingen vor mir her und baten mich, das Kind einzunehmen. Er trug das Instrument weiter, ich liess sie zu mir sitzen, und sie stellte eine grosse neue Schachtel sorgfaeltig zu ihren Fuessen. Ein artiges ausgebildetes Geschoepf, in der Welt schon ziemlich bewandert. Nach Maria-Einsiedel war sie mit ihrer Mutter zu Fuss gewallfahrtet, und beide wollten eben die groessere Reise nach St. Jago von Compostell antreten, als die Mutter mit Tode abging und ihr Geluebde nicht erfuellen sollte. Man koenne in der Verehrung der Mutter Gottes nie zuviel tun, meinte sie. Nach einem grossen Brande habe sie selbst gesehen ein ganzes Haus niedergebrannt bis auf die untersten Mauern, und ueber der Tuere hinter einem Glase das Muttergottesbild, Glas und Bild unversehrt, welches denn doch ein augenscheinliches Wunder sei. All ihre Reisen habe sie zu Fusse gemacht, zuletzt in Muenchen vor dem Kurfuersten gespielt und sich ueberhaupt vor einundzwanzig fuerstlichen Personen hoeren lassen. Sie unterhielt mich recht gut. Huebsche grosse braune Augen, eine eigensinnige Stirn, die sich manchmal ein wenig hinaufwaerts faltete. Wenn sie sprach, war sie angenehm und natuerlich, besonders wenn sie kindischlaut lachte; hingegen wenn sie schwieg, schien sie etwas bedeuten zu wollen und machte mit der Oberlippe eine fatale Miene. Ich sprach sehr viel mit ihr durch, sie war ueberall zu Hause und merkte gut auf die Gegenstaende. So fragte sie mich einmal, was das fuer ein Baum sei. Es war ein schoener grosser Ahorn, der erste, der mir auf der ganzen Reise zu Gesichte kam. Den hatte sie doch gleich bemerkt und freute sich, da mehrere nach und nach erschienen, dass sie auch diesen Baum unterscheiden koenne. Sie gehe, sagte sie, nach Bozen auf die Messe, wo ich doch wahrscheinlich auch hinzoege. Wenn sie mich dort antraefe, muesse ich ihr einen Jahrmarkt kaufen, welches ich ihr denn auch versprach. Dort wollte sie auch ihre neue Haube aufsetzen, die sie sich in Muenchen von ihrem Verdienst habe machen lassen. Sie wolle mir solche im voraus zeigen. Nun eroeffnete sie die Schachtel, und ich musste mich des reichgestickten und wohlbebaenderten Kopfschmuckes mit ihr erfreuen.

ueber eine andere frohe Aussicht vergnuegten wir uns gleichfalls zusammen. Sie versicherte naemlich, dass es gut Wetter gaebe. Sie truegen ihren Barometer mit sich, und das sei die Harfe. Wenn sich der Diskant hinaufstimme, so gebe es gutes Wetter, und das habe er heute getan. Ich ergriff das Omen, und wir schieden im besten Humor, in der Hoffnung eines baldigen Wiedersehns.

Auf dem Brenner, den 8. September, abends.

Hierher gekommen, gleichsam gezwungen, endlich an einen Ruhepunkt, an einen stillen Ort, wie ich ihn mir nur haette wuenschen koennen. Es war ein Tag, den man jahrelang in der Erinnerung geniessen kann. Um sechs Uhr verliess ich Mittenwald, den klaren Himmel reinigte ein scharfer Wind vollkommen. Es war eine Kaelte, wie sie nur im Februar erlaubt ist. Nun aber bei dem Glanze der aufgehenden Sonne die dunkeln, mit Fichten bewachsenen Vordergruende, die grauen Kalkfelsen dazwischen und dahinter die beschneiten hoechsten Gipfel auf einem tieferen Himmelsblau, das waren koestliche, ewig abwechselnde Bilder.

Bei Scharnitz kommt man ins Tirol. Die Grenze ist mit einem Walle geschlossen, der das Tal verriegelt und sich an die Berge anschliesst. Es sieht gut aus: an der einen Seite ist der Felsen befestigt, an der andern steigt er senkrecht in die Hoehe. Von Seefeld wird der Weg immer interessanter, und wenn er bisher seit Benediktbeuern herauf von Hoehe zu Hoehe stieg und alle Wasser die Region der Isar suchten, so blickt man nun ueber einen Ruecken in das Inntal, und Inzingen liegt vor uns. Die Sonne war hoch und heiss, ich musste meine Kleidung erleichtern, die ich bei der veraenderlichen Atmosphaere des Tages oft wechsele.

Bei Zirl faehrt man ins Inntal herab. Die Lage ist unbeschreiblich schoen, und der hohe Sonnenduft machte sie ganz herrlich. Der Postillon eilte mehr, als ich wuenschte: er hatte noch keine Messe gehoert und wollte sie in Innsbruck, es war eben Marientag, um desto andaechtiger zu sich nehmen. Nun rasselte es immer an dem Inn hinab, an der Martinswand vorbei, einer steil abgehenden ungeheuern Kalkwand. Zu dem Platze, wohin Kaiser Maximilian sich verstiegen haben soll, getraute ich mir wohl ohne Engel hin und her zu kommen, ob es gleich immer ein frevelhaftes Unternehmen waere.

Innsbruck liegt herrlich in einem breiten, reichen Tale zwischen hohen Felsen und Gebirgen. Erst wollte ich dableiben, aber es liess mir keine Ruhe. Kurze Zeit ergetzte ich mich an dem Sohne des Wirts, einem leibhaftigen Soeller. So begegnen mir nach und nach meine Menschen. Das Fest Mariae Geburt zu feiern, ist alles geputzt. Gesund und wohlhaebig, zu Scharen, wallfahrten sie nach Wilten, einem Andachtsorte, eine Viertelstunde von der Stadt gegen das Gebirge zu. Um zwei Uhr, als mein rollender Wagen das muntere bunte Gedraenge teilte, war alles in frohem Zug und Gang.

Von Innsbruck herauf wird es immer schoener, da hilft kein Beschreiben. Auf den gebahntesten Wegen steigt man eine Schlucht herauf, die das Wasser nach dem Inn zu sendet, eine Schlucht, die den Augen unzaehlige Abwechselungen bietet. Wenn der Weg nah am schroffsten Felsen hergeht, ja in ihn hineingehauen ist, so erblickt man die Seite gegenueber sanft abhaengig, so dass noch kann der schoenste Feldbau darauf geuebt werden. Es liegen Doerfer, Haeuser, Haeuschen, Huetten, alles weiss angestrichen, zwischen Feldern und Hecken auf der abhaengenden hohen und breiten Flaeche. Bald veraendert sich das Ganze; das Benutzbare wird zur Wiese, bis sich auch das in einen steilen Abhang verliert.

Zu meiner Welterschaffung habe ich manches erobert, doch nichts ganz Neues und Unerwartetes. Auch habe ich viel getraeumt von dem Modell, wovon ich so lange rede, woran ich so gern anschaulich machen moechte, was in meinem Innern herumzieht, und was ich nicht jedem in der Natur vor Augen stellen kann.

Nun wurde es dunkler und dunkler, das Einzelne verlor sich, die Massen wurden immer groesser und herrlicher, endlich, da sich alles nur wie ein tiefes geheimes Bild vor mir bewegte, sah ich auf einmal wieder die hohen Schneegipfel vom Mond beleuchtet, und nun erwarte ich, dass der Morgen diese Felsenkluft erhelle, in der ich auf der Grenzscheide des Suedens und Nordens eingeklemmt bin.

Ich fuege noch einige Bemerkungen hinzu ueber die Witterung, die mir vielleicht ebendeswegen so guenstig ist, weil ich ihr so viele Betrachtungen widme. Auf dem flachen Lande empfaengt man gutes und boeses Wetter, wenn es schon fertig geworden, im Gebirge ist man gegenwaertig, wenn es entsteht. Dieses ist mir nun so oft begegnet, wenn ich auf Reisen, Spaziergaengen, auf der Jagd Tag und Naechte lang in den Bergwaeldern, zwischen Klippen verweilte, und da ist mir eine Grille aufgestiegen, die ich auch fuer nichts anders geben will, die ich aber nicht loswerden kann, wie man denn eben die Grillen am wenigsten loswird. Ich sehe sie ueberall, als wenn es eine Wahrheit waere, und so will ich sie denn auch aussprechen, da ich ohnehin die Nachsicht meiner Freunde so oft zu pruefen im Falle bin.

Betrachten wir die Gebirge naeher oder ferner und sehen ihre Gipfel bald im Sonnenscheine glaenzen, bald vorn Nebel umzogen, von stuermenden Wolken umsaust, von Regenstrichen gepeitscht, mit Schnee bedeckt, so schreiben wir das alles der Atmosphaere zu, da wir mit Augen ihre Bewegungen und Veraenderungen gar wohl sehen und fassen. Die Gebirge hingegen liegen vor unserm aeusseren Sinn in ihrer herkoemmlichen Gestalt unbeweglich da. Wir halten sie fuer tot, weil sie erstarrt sind, wir glauben sie untaetig, weil sie ruhen. Ich aber kann mich schon seit laengerer Zeit nicht entbrechen, einer innern, stillen, geheimen Wirkung derselben die Veraenderungen, die sich in der Atmosphaere zeigen, zum grossen Teile zuzuschreiben. Ich glaube naemlich, dass die Masse der Erde ueberhaupt, und folglich auch besonders ihre hervorragenden Grundfesten, nicht eine bestaendige, immer gleiche Anziehungskraft ausueben, sondern dass diese Anziehungskraft sich in einem gewissen Pulsieren aeussert, so dass sie sich durch innere notwendige, vielleicht auch aeussere zufaellige Ursachen bald vermehrt, bald vermindert. Moegen alle anderen Versuche, diese Oszillation darzustellen, zu beschraenkt und roh sein, die Atmosphaere ist zart und weit genug, um uns von jenen stillen Wirkungen zu unterrichten. Vermindert sich jene Anziehungskraft im geringsten, alsobald deutet uns die verringerte Schwere, die verminderte Elastizitaet der Luft diese Wirkung an. Die Atmosphaere kann die Feuchtigkeit, die in ihr chemisch und mechanisch verteilt war, nicht mehr tragen, Wolken senken sich, Regen stuerzen nieder, und Regenstroeme ziehen nach dem Lande zu. Vermehrt aber das Gebirg seine Schwerkraft, so wird alsobald die Elastizitaet der Luft wiederhergestellt, und es entspringen zwei wichtige Phaenomene. Einmal versammeln die Berge ungeheure Wolkenmassen um sich her, halten sie fest und starr wie zweite Gipfel ueber sich, bis sie, durch innern Kampf elektrischer Kraefte bestimmt, als Gewitter, Nebel und Regen niedergehen, sodann wirkt auf den ueberrest die elastische Luft, welche nun wieder mehr Wasser zu fassen, aufzuloesen und zu verarbeiten faehig ist. Ich sah das Aufzehren einer solchen Wolke ganz deutlich: sie hing um den steilsten Gipfel, das Abendrot beschien sie. Langsam, langsam sonderten ihre Enden sich ab, einige Flocken wurden weggezogen und in die Hoehe gehoben; diese verschwanden, und so verschwand die ganze Masse nach und nach und ward vor meinen Augen wie ein Rocken von einer unsichtbaren Hand ganz eigentlich abgesponnen.

Wenn die Freunde ueber den ambulanten Wetterbeobachter und dessen seltsame Theorien gelaechelt haben, so gebe ich ihnen vielleicht durch einige andere Betrachtungen Gelegenheit zum Lachen, denn ich muss gestehen, da meine Reise eigentlich eine Flucht war vor allen den Unbilden, die ich unter dem einundfunfzigsten Grade erlitten, dass ich Hoffnung hatte, unter dem achtundvierzigsten ein wahres Gosen zu betreten. Allein ich fand mich getaeuscht, wie ich frueher haette wissen sollen; denn nicht die Polhoehe allein macht Klima und Witterung, sondern die Bergreihen, besonders jene, die von Morgen nach Abend die Laender durchschneiden. In diesen ereignen sich immer grosse Veraenderungen, und nordwaerts liegende Laender haben am meisten darunter zu leiden. So scheint auch die Witterung fuer den ganzen Norden diesen Sommer ueber durch die grosse Alpenkette, auf der ich dieses schreibe, bestimmt worden zu sein. Hier hat es die letzten Monate her immer geregnet, und Suedwest und Suedost haben den Regen durchaus nordwaerts gefuehrt. In Italien sollen sie schoen Wetter, ja zu trocken gehabt haben.

Nun von dem abhaengigen, durch Klima, Berghoehe, Feuchtigkeit auf das mannigfaltigste bedingten Pflanzenreich einige Worte. Auch hierin habe ich keine sonderliche Veraenderung, doch Gewinn gefunden. AEpfel und Birnen haengen schon haeufig vor Innsbruck in dem Tale, Pfirschen und Trauben hingegen bringen sie aus Welschland oder vielmehr aus dem mittaegigen Tirol. Um Innsbruck bauen sie viel Tuerkisch—und Heidekorn, das sie Blende nennen. Den Brenner herauf sah ich die ersten Laerchenbaeume, bei Schoenberg den ersten Zirbel. Ob wohl das Harfnermaedchen hier auch nachgefragt haette?

Die Pflanzen betreffend, fuehl’ ich noch sehr meine Schuelerschaft. Bis Muenchen glaubt’ ich wirklich nur die gewoehnlichen zu sehen. Freilich war meine eilige Tag—und Nachtfahrt solchen feinern Beobachtungen nicht guenstig. Nun habe ich zwar meinen Linne bei mir und seine Terminologie wohl eingepraegt, wo soll aber Zeit und Ruhe zum Analysieren herkommen, das ohnehin, wenn ich mich recht kenne, meine Staerke niemals werden kann? Daher schaerf’ ich mein Auge aufs Allgemeine, und als ich am Walchensee die erste Gentiana sah, fiel mir auf, dass ich auch bisher zuerst am Wasser die neuen Pflanzen fand.

Was mich noch aufmerksamer machte, war der Einfluss, den die Gebirgshoehe auf die Pflanzen zu haben schien. Nicht nur neue Pflanzen fand ich da, sondern Wachstum der alten veraendert; wenn in der tiefern Gegend Zweige und Stengel staerker und mastiger waren, die Augen naeher aneinander standen und die Blaetter breit waren, so wurden hoeher ins Gebirg hinauf Zweige und Stengel zarter, die Augen rueckten auseinander, so dass von Knoten zu Knoten ein groesserer Zwischenraum stattfand und die Blaetter sich lanzenfoermiger bildeten. Ich bemerkte dies bei einer Weide und einer Gentiana und ueberzeugte mich, dass es nicht etwa verschiedene Arten waeren. Auch am Walchensee bemerkte ich laengere und schlankere Binsen als im Unterlande.

Die Kalkalpen, welche ich bisher durchschnitten, haben eine graue Farbe und schoene, sonderbare, unregelmaessige Formen, ob sich gleich der Fels in Lager und Baenke teilt. Aber weil auch geschwungene Lager vorkommen und der Fels ueberhaupt ungleich verwittert, so sehen die Waende und Gipfel seltsam aus. Diese Gebirgsart steigt den Brenner weit herauf. In der Gegend des oberen Sees fand ich eine Veraenderung desselben. An dunkelgruenen und dunkelgrauen Glimmerschiefer, stark mit Quarz durchzogen, lehnte sich ein weisser, dichter Kalkstein, der an der Abloesung glimmerig war und in grossen, obgleich unendlich zerkluefteten Massen anstand. UEber demselben fand ich wieder Glimmerschiefer, der mir aber zaerter als der vorige zu sein schien. Weiter hinauf zeigt sich eine besondere Art Gneis oder vielmehr eine Granitart, die sich dem Gneis zubildet, wie in der Gegend von Elbogen. Hier oben, gegen dem Hause ueber, ist der Fels Glimmerschiefer. Die Wasser, die aus dem Berge kommen, bringen nur diesen Stein und grauen Kalk mit.

Nicht fern muss der Granitstock sein, an den sich alles anlehnt. Die Karte zeigt, dass man sich an der Seite des eigentlichen grossen Brenners befindet, von dem aus die Wasser sich ringsum ergiessen.

Vom aeussern des Menschengeschlechts habe ich so viel aufgefasst. Die Nation ist wacker und gerade vor sich hin. Die Gestalten bleiben sich ziemlich gleich, braune, wohlgeoeffnete Augen und sehr gut gezeichnete schwarze Augenbraunen bei den Weibern; dagegen blonde und breite Augenbraunen bei den Maennern. Diesen geben die gruenen Huete zwischen den grauen Felsen ein froehliches Ansehn. Sie tragen sie geziert mit Baendern oder breiten Schaerpen von Taft mit Franzen, die mit Nadeln gar zierlich aufgeheftet werden. Auch hat jeder eine Blume oder eine Feder auf dem Hut. Dagegen verbilden sich die Weiber durch weisse, baumwollene, zottige, sehr weite Muetzen, als waeren es unfoermliche Mannesnachtmuetzen. Das gibt ihnen ein ganz fremdes Ansehn, da sie im Auslande die gruenen Mannshuete tragen, die sehr schoen kleiden.

Ich habe Gelegenheit gehabt zu sehen, welchen Wert die gemeinen Leute auf Pfauenfedern legen, und wie ueberhaupt jede bunte Feder geehrt wird. Wer diese Gebirge bereisen wollte, muesste dergleichen mit sich fuehren. Eine solche am rechten Orte angebrachte Feder wuerde statt des willkommensten Trinkgeldes dienen.

Indem ich nun diese Blaetter sondere, sammele, hefte und dergestalt einrichte, dass sie meinen Freunden bald einen leichten ueberblick meiner bisherigen Schicksale gewaehren koennen, und dass ich mir zugleich, was ich bisher erfahren und gedacht, von der Seele waelze, betrachte ich dagegen mit einem Schauer manche Pakete, von denen ich ein kurz und gutes Bekenntnis ablegen muss: sind es doch meine Begleiter, werden sie nicht viel Einfluss auf meine naechsten Tage haben!

Ich hatte nach Karlsbad meine saemtlichen Schriften mitgenommen, um die von Goeschen zu besorgende Ausgabe schliesslich zusammenzustellen. Die ungedruckten besass ich schon laengst in schoenen Abschriften von der geschickten Hand des Sekretaer Vogel. Dieser wackere Mann begleitete mich auch diesmal, um mir durch seine Fertigkeit beizustehen. Dadurch ward ich in den Stand gesetzt, die vier ersten Baende unter der treusten Mitwirkung Herders an den Verleger abzusenden, und war im Begriff, mit den vier letzten das gleiche zu tun. Diese bestanden teils aus nur entworfenen Arbeiten, ja aus Fragmenten, wie denn meine Unart, vieles anzufangen und bei vermindertem Interesse liegen zu lassen, mit den Jahren, Beschaeftigungen und Zerstreuungen allgemach zugenommen hatte.

Da ich nun diese Dinge saemtlich mit mir fuehrte, so gehorchte ich gern den Anforderungen der Karlsbader geistreichen Gesellschaft und las ihr alles vor, was bisher unbekannt geblieben, da man sich denn jedesmal ueber das Nichtvollbringen derjenigen Dinge, an denen man sich gern laenger unterhalten haette, bitterlich beschwerte.

Die Feier meines Geburtstages bestand hauptsaechlich darin, dass ich mehrere Gedichte erhielt im Namen meiner unternommenen, aber vernachlaessigten Arbeiten, worin sich jedes nach seiner Art ueber mein Verfahren beklagte. Darunter zeichnete sich ein Gedicht im Namen der Voegel aus, wo eine an Treufreund gesendete Deputation dieser muntern Geschoepfe instaendig bat, er moechte doch das ihnen zugesagte Reich nunmehr auch gruenden und einrichten. Nicht weniger einsichtig und anmutig waren die aeusserungen ueber meine andern Stueckwerke, so dass sie mir auf einmal wieder lebendig wurden und ich den Freunden meine gehabten Vorsaetze und vollstaendigen Plane mit Vergnuegen erzaehlte. Dies veranlasste dringende Forderungen und Wuensche und gab Herdern gewonnen Spiel, als er mich zu ueberreden suchte, ich moechte diese Papiere nochmals mit mir nehmen, vor allem aber Iphigenien noch einige Aufmerksamkeit schenken, welche sie wohl verdiene. Das Stueck, wie es gegenwaertig liegt, ist mehr Entwurf als Ausfuehrung, es ist in poetischer Prosa geschrieben, die sich manchmal in einen jambischen Rhythmus verliert, auch wohl andern Silbenmassen aehnelt. Dieses tut freilich der Wirkung grossen Eintrag, wenn man es nicht sehr gut liest und durch gewisse Kunstgriffe die Maengel zu verbergen weiss. Er legte mir dieses so dringend ans Herz, und da ich meinen groesseren Reiseplan ihm wie allen verborgen hatte, so glaubte er, es sei nur wieder von einer Bergwanderung die Rede, und weil er sich gegen Mineralogie und Geologie immer spoettisch erwies, meinte er, ich sollte, anstatt taubes Gestein zu klopfen, meine Werkzeuge an diese Arbeit wenden. Ich gehorchte so vielen wohl gemeinten Andraengen: bis hierher aber war es nicht moeglich, meine Aufmerksamkeit dahin zu lenken. Jetzt sondere ich "Iphigenien" aus dem Paket und nehme sie mit in das schoene, warme Land als Begleiterin. Der Tag ist so lang, das Nachdenken ungestoert, und die herrlichen Bilder der Umwelt verdraengen keineswegs den poetischen Sinn, sie rufen ihn vielmehr, von Bewegung und freier Luft begleitet, nur desto schneller hervor.

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