Wilhelm Meisters Lehrjahre, Buch 3

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Author: Johann Wolfgang von Goethe

III. Buch, Erstes Kapitel

Kennst du das Land, wo die Zitronen bluehn, Im dunkeln Laub die Goldorangen gluehn, Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht, Kennst du es wohl?

Dahin! Dahin Moecht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!

Kennst du das Haus, auf Saeulen ruht sein Dach, Es glaenzt der Saal, es schimmert das Gemach, Und Marmorbilder stehn und sehn mich an: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Kennst du es wohl?

Dahin! Dahin Moecht ich mit dir, o mein Beschuetzer, ziehn!

Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg? Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg, In Hoehlen wohnt der Drachen alte Brut, Es stuerzt der Fels und ueber ihn die Flut: Kennst du ihn wohl?

Dahin! Dahin Geht unser Weg; o Vater, lass uns ziehn!

Als Wilhelm des Morgens sich nach Mignon im Hause umsah, fand er sie nicht, hoerte aber, dass sie frueh mit Melina ausgegangen sei, welcher sich, um die Garderobe und die uebrigen Theatergeraetschaften zu uebernehmen, beizeiten aufgemacht hatte.

Nach Verlauf einiger Stunden hoerte Wilhelm Musik vor seiner Tuere. Er glaubte anfaenglich, der Harfenspieler sei schon wieder zugegen; allein er unterschied bald die Toene einer Zither, und die Stimme, welche zu singen anfing, war Mignons Stimme. Wilhelm oeffnete die Tuere, das Kind trat herein und sang das Lied, das wir soeben aufgezeichnet haben.

Melodie und Ausdruck gefielen unserm Freunde besonders, ob er gleich die Worte nicht alle verstehen konnte. Er liess sich die Strophen wiederholen und erklaeren, schrieb sie auf und uebersetzte sie ins Deutsche. Aber die Originalitaet der Wendungen konnte er nur von ferne nachahmen. Die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand, indem die gebrochene Sprache uebereinstimmend und das Unzusammenhaengende verbunden ward. Auch konnte der Reiz der Melodie mit nichts verglichen werden.

Sie fing jeden Vers feierlich und praechtig an, als ob sie auf etwas Sonderbares aufmerksam machen, als ob sie etwas Wichtiges vortragen wollte. Bei der dritten Zeile ward der Gesang dumpfer und duesterer; das "Kennst du es wohl?" drueckte sie geheimnisvoll und bedaechtig aus; in dem "Dahin! Dahin!" lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und ihr "Lass uns ziehn!" wusste sie bei jeder Wiederholung dergestalt zu modifizieren, dass es bald bittend und dringend, bald treibend und vielversprechend war.

Nachdem sie das Lied zum zweitenmal geendigt hatte, hielt sie einen Augenblick inne, sah Wilhelmen scharf an und fragte: "Kennst du das Land?"—"Es muss wohl Italien gemeint sein", versetzte Wilhelm; "woher hast du das Liedchen?"—"Italien!" sagte Mignon bedeutend, "gehst du nach Italien, so nimm mich mit, es friert mich hier."—"Bist du schon dort gewesen, liebe Kleine?" fragte Wilhelm.—Das Kind war still und nichts weiter aus ihm zu bringen.

Melina, der hereinkam, besah die Zither und freute sich, dass sie schon so huebsch zurechtgemacht sei. Das Instrument war ein Inventarienstueck der alten Garderobe. Mignon hatte sich’s diesen Morgen ausgebeten, der Harfenspieler bezog es sogleich, und das Kind entwickelte bei dieser Gelegenheit ein Talent, das man an ihm bisher noch nicht kannte.

Melina hatte schon die Garderobe mit allem Zugehoer uebernommen; einige Glieder des Stadtrats versprachen ihm gleich die Erlaubnis, einige Zeit im Orte zu spielen. Mit frohem Herzen und erheitertem Gesicht kam er nunmehr wieder zurueck. Er schien ein ganz anderer Mensch zu sein: denn er war sanft, hoeflich gegen jedermann, ja zuvorkommend und einnehmend. Er wuenschte sich Glueck, dass er nunmehr seine Freunde, die bisher verlegen und muessig gewesen, werde beschaeftigen und auf eine Zeitlang engagieren koennen, wobei er zugleich bedauerte, dass er freilich zum Anfange nicht imstande sei, die vortrefflichen Subjekte, die das Glueck ihm zugefuehrt, nach ihren Faehigkeiten und Talenten zu belohnen, da er seine Schuld einem so grossmuetigen Freunde, als Wilhelm sich gezeigt habe, vor allen Dingen abtragen muesse.

"Ich kann Ihnen nicht ausdruecken", sagte Melina zu ihm, "welche Freundschaft Sie mir erzeigen, indem Sie mir zur Direktion eines Theaters verhelfen. Denn als ich Sie antraf, befand ich mich in einer sehr wunderlichen Lage. Sie erinnern sich, wie lebhaft ich Ihnen bei unsrer ersten Bekanntschaft meine Abneigung gegen das Theater sehen liess, und doch musste ich mich, sobald ich verheiratet war, aus Liebe zu meiner Frau, welche sich viel Freude und Beifall versprach, nach einem Engagement umsehen. Ich fand keins, wenigstens kein bestaendiges, dagegen aber gluecklicherweise einige Geschaeftsmaenner, die eben in ausserordentlichen Faellen jemanden brauchen konnten, der mit der Feder umzugehen wusste, Franzoesisch verstand und im Rechnen nicht ganz unerfahren war. So ging es mir eine Zeitlang recht gut, ich ward leidlich bezahlt, schaffte mir manches an, und meine Verhaeltnisse machten mir keine Schande. Allein die ausserordentlichen Auftraege meiner Goenner gingen zu Ende, an eine dauerhafte Versorgung war nicht zu denken, und meine Frau verlangte nur desto eifriger nach dem Theater, leider zu einer Zeit, wo ihre Umstaende nicht die vorteilhaftesten sind, um sich dem Publikum mit Ehren darzustellen. Nun, hoffe ich, soll die Anstalt, die ich durch Ihre Huelfe einrichten werde, fuer mich und die Meinigen ein guter Anfang sein, und ich verdanke Ihnen mein kuenftiges Glueck, es werde auch, wie es wolle."

Wilhelm hoerte diese aeusserungen mit Zufriedenheit an, und die saemtlichen Schauspieler waren gleichfalls mit den Erklaerungen des neuen Direktors so ziemlich zufrieden, freuten sich heimlich, dass sich so schnell ein Engagement zeige, und waren geneigt, fuer den Anfang mit einer geringen Gage vorliebzunehmen, weil die meisten dasjenige, was ihnen so unvermutet angeboten wurde, als einen Zuschuss ansahen, auf den sie vor kurzem noch nicht Rechnung machen konnten. Melina war im Begriff, diese Disposition zu benutzen, suchte auf eine geschickte Weise jeden besonders zu sprechen und hatte bald den einen auf diese, den andern auf eine andere Weise zu bereden gewusst, dass sie die Kontrakte geschwind abzuschliessen geneigt waren, ueber das neue Verhaeltnis kaum nachdachten und sich schon gesichert glaubten, mit sechswoechentlicher Aufkuendigung wieder loskommen zu koennen.

Nun sollten die Bedingungen in gehoerige Form gebracht werden, und Melina dachte schon an die Stuecke, mit denen er zuerst das Publikum anlocken wollte, als ein Kurier dem Stallmeister die Ankunft der Herrschaft verkuendigte und dieser die untergelegten Pferde vorzufuehren befahl.

Bald darauf fuhr der hochbepackte Wagen, von dessen Bocke zwei Bedienten heruntersprangen, vor dem Gasthause vor, und Philine war nach ihrer Art am ersten bei der Hand und stellte sich unter die Tuere.

"Wer ist Sie?" fragte die Graefin im Hereintreten.

"Eine Schauspielerin, Ihro Exzellenz zu dienen", war die Antwort, indem der Schalk mit einem gar frommen Gesichte und demuetigen Gebaerden sich neigte und der Dame den Rock kuesste.

Der Graf, der noch einige Personen umherstehen sah, die sich gleichfalls fuer Schauspieler ausgaben, erkundigte sich nach der Staerke der Gesellschaft, nach dem letzten Orte ihres Aufenthalts und ihrem Direktor. "Wenn es Franzosen waeren", sagte er zu seiner Gemahlin, "koennten wir dem Prinzen eine unerwartete Freude machen und ihm bei uns seine Lieblingsunterhaltung verschaffen."

"Es kaeme darauf an", versetzte die Graefin, "ob wir nicht diese Leute, wenn sie schon ungluecklicherweise nur Deutsche sind, auf dem Schloss, solange der Fuerst bei uns bleibt, spielen liessen. Sie haben doch wohl einige Geschicklichkeit. Eine grosse Sozietaet laesst sich am besten durch ein Theater unterhalten, und der Baron wuerde sie schon zustutzen."

Unter diesen Worten gingen sie die Treppe hinauf, und Melina praesentierte sich oben als Direktor. "Ruf Er seine Leute zusammen", sagte der Graf, "und stell Er sie mir vor, damit ich sehe, was an ihnen ist. Ich will auch zugleich die Liste von den Stuecken sehen, die sie allenfalls auffuehren koennten."

Melina eilte mit einem tiefen Buecklinge aus dem Zimmer und kam bald mit den Schauspielern zurueck. Sie drueckten sich vorund hintereinander, die einen praesentierten sich schlecht, aus grosser Begierde zu gefallen, und die andern nicht besser, weil sie sich leichtsinnig darstellten. Philine bezeigte der Graefin, die ausserordentlich gnaedig und freundlich war, alle Ehrfurcht; der Graf musterte indes die uebrigen. Er fragte einen jeden nach seinem Fache und aeusserte gegen Melina, dass man streng auf Faecher halten muesse, welchen Ausspruch dieser in der groessten Devotion aufnahm.

Der Graf bemerkte sodann einem jeden, worauf er besonders zu studieren, was er an seiner Figur und Stellung zu bessern habe, zeigte ihnen einleuchtend, woran es den Deutschen immer fehle, und liess so ausserordentliche Kenntnisse sehen, dass alle in der groessten Demut vor so einem erleuchteten Kenner und erlauchten Beschuetzer standen und kaum Atem zu holen sich getrauten.

"Wer ist der Mensch dort in der Ecke?" fragte der Graf, indem er nach einem Subjekte sah, das ihm noch nicht vorgestellt worden war, und eine hagre Figur nahte sich in einem abgetragenen, auf dem Ellbogen mit Fleckchen besetzten Rocke; eine kuemmerliche Peruecke bedeckte das Haupt des demuetigen Klienten.

Dieser Mensch, den wir schon aus dem vorigen Buche als Philinens Liebling kennen, pflegte gewoehnlich Pedanten, Magister und Poeten zu spielen und meistens die Rolle zu uebernehmen, wenn jemand Schlaege kriegen oder begossen werden sollte. Er hatte sich gewisse kriechende, laecherliche, furchtsame Buecklinge angewoehnt, und seine stockende Sprache, die zu seinen Rollen passte, machte die Zuschauer lachen, so dass er immer noch als ein brauchbares Glied der Gesellschaft angesehen wurde, besonders da er uebrigens sehr dienstfertig und gefaellig war. Er nahte sich auf seine Weise dem Grafen, neigte sich vor demselben und beantwortete jede Frage auf die Art, wie er sich in seinen Rollen auf dem Theater zu gebaerden pflegte. Der Graf sah ihn mit gefaelliger Aufmerksamkeit und mit ueberlegung eine Zeitlang an, alsdann rief er, indem er sich zu der Graefin wendete: "Mein Kind, betrachte mit diesen Mann genau; ich hafte dafuer, das ist ein grosser Schauspieler oder kann es werden." Der Mensch machte von ganzem Herzen einen albernen Bueckling, so dass der Graf laut ueber ihn lachen musste und ausrief: "Er macht seine Sachen exzellent! Ich wette, dieser Mensch kann spielen, was er will, und es ist schade, dass man ihn bisher zu nichts Besserm gebraucht hat."

Ein so ausserordentlicher Vorzug war fuer die uebrigen sehr kraenkend, nur Melina empfand nichts davon, er gab vielmehr dem Grafen vollkommen recht und versetzte mit ehrfurchtsvoller Miene: "Ach ja, es hat wohl ihm und mehreren von uns nur ein solcher Kenner und eine solche Aufmunterung gefehlt, wie wir sie gegenwaertig an Eurer Exzellenz gefunden haben."

"Ist das die saemtliche Gesellschaft?" sagte der Graf.

"Es sind einige Glieder abwesend", versetzte der kluge Melina, "und ueberhaupt koennten wir, wenn wir nur Unterstuetzung faenden, sehr bald aus der Nachbarschaft vollzaehlig sein."

Indessen sagte Philine zur Graefin: "Es ist noch ein recht huebscher junger Mann oben, der sich gewiss bald zum ersten Liebhaber qualifizieren wuerde."

"Warum laesst er sich nicht sehen?" versetzte die Graefin.

"Ich will ihn holen", rief Philine und eilte zur Tuere hinaus.

Sie fand Wilhelmen noch mit Mignon beschaeftigt und beredete ihn, mit herunterzugehen. Er folgte ihr mit einigem Unwillen, doch trieb ihn die Neugier: denn da er von vornehmen Personen hoerte, war er voll Verlangen, sie naeher kennenzulernen. Er trat ins Zimmer, und seine Augen begegneten sogleich den Augen der Graefin, die auf ihn gerichtet waren. Philine zog ihn zu der Dame, indes der Graf sich mit den uebrigen beschaeftigte. Wilhelm neigte sich und gab auf verschiedene Fragen, welche die reizende Dame an ihn tat, nicht ohne Verwirrung Antwort. Ihre Schoenheit, Jugend, Anmut, Zierlichkeit und feines Betragen machten den angenehmsten Eindruck auf ihn, um so mehr, da ihre Reden und Gebaerden mit einer gewissen Schamhaftigkeit, ja man duerfte sagen Verlegenheit begleitet waren. Auch dem Grafen ward er vorgestellt, der aber wenig acht auf ihn hatte, sondern zu seiner Gemahlin ans Fenster trat und sie um etwas zu fragen schien. Man konnte bemerken, dass ihre Meinung auf das lebhafteste mit der seinigen uebereinstimmte, ja dass sie ihn eifrig zu bitten und ihn in seiner Gesinnung zu bestaerken schien.

Er kehrte sich darauf bald zu der Gesellschaft und sagte: "Ich kann mich gegenwaertig nicht aufhalten, aber ich will einen Freund zu euch schicken, und wenn ihr billige Bedingungen macht und euch recht viel Muehe geben wollt, so bin ich nicht abgeneigt, euch auf dem Schlosse spielen zu lassen."

Alle bezeugten ihre grosse Freude darueber, und besonders kuesste Philine mit der groessten Lebhaftigkeit der Graefin die Haende.

"Sieht Sie, Kleine", sagte die Dame, indem sie dem leichtfertigen Maedchen die Backen klopfte, "sieht Sie, mein Kind, da kommt Sie wieder zu mir, ich will schon mein Versprechen halten, Sie muss sich nur besser anziehen." Philine entschuldigte sich, dass sie wenig auf ihre Garderobe zu verwenden habe, und sogleich befahl die Graefin ihren Kammerfrauen, einen englischen Hut und ein seidnes Halstuch, die leicht auszupacken waren, heraufzugeben. Nun putzte die Graefin selbst Philinen an, die fortfuhr, sich mit einer scheinheiligen, unschuldigen Miene gar artig zu gebaerden und zu betragen.

Der Graf bot seiner Gemahlin die Hand und fuehrte sie hinunter. Sie gruesste die ganze Gesellschaft im Vorbeigehen freundlich und kehrte sich nochmals gegen Wilhelmen um, indem sie mit der huldreichsten Miene zu ihm sagte: "Wir sehen uns bald wieder."

So glueckliche Aussichten belebten die ganze Gesellschaft; jeder liess nunmehr seinen Hoffnungen, Wuenschen und Einbildungen freien Lauf, sprach von den Rollen, die er spielen, von dem Beifall, den er erhalten wollte. Melina ueberlegte, wie er noch geschwind durch einige Vorstellungen den Einwohnern des Staedtchens etwas Geld abnehmen und zugleich die Gesellschaft in Atem setzen koenne, indes andere in die Kueche gingen, um ein besseres Mittagsessen zu bestellen, als man sonst einzunehmen gewohnt war.

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Harvard: Goethe, JW, 'III. Buch, Erstes Kapitel' in Wilhelm Meisters Lehrjahre, Buch 3. cited in 1909, Wilhelm Meisters Lehrjahre, Buch 3, Tempel Verlag, Berlin. Original Sources, retrieved 20 April 2024, from http://www.originalsources.com/Document.aspx?DocID=PNWV6JXHYXU9BAC.