Geschichte Des Agathon Teil 1

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Author: Christoph Martin Wieland

Erstes Kapitel

Geheimer Anschlag, den Hippias gegen die Tugend unsers Helden macht

Wir vermuten, dass es einigen Lesern scheinen werde, Hippias habe in seinem Diskurs bei Agathon einen groessern Mangel von Erfahrung und Kenntnis der Welt vorausgesetzt, als er, nach allem, was bereits mit ihm vorgegangen war, haben konnte. Wir muessen also zur Entschuldigung dieses Weisen sagen, dass Agathon, aus Ursachen, die uns unbekannt geblieben, fuer gut befunden habe, von dem glaenzenden Teil seiner Begebenheiten, und sogar von seinem Namen ein Geheimnis zu machen. Denn sein Name war durch die Rolle, die er zu Athen gespielt hatte, in den griechischen Staedten allzubekannt worden, als dass er es nicht auch dem Hippias haette sein sollen; ob dieser gleich, seit dem er in Smyrna wohnte, sich wenig um die Staatsangelegenheiten der Griechen bekuemmerte, die er in den Haenden seiner Freunde und Schueler ganz wohl versorgt hielte. Da nun Agathon so sorgfaeltig gewesen war, ihm alles zu verbergen, was einigen Verdacht haette erwecken koennen, dass er jemals etwas mehr als ein Aufwaerter in dem Tempel zu Delphi gewesen; so konnte Hippias mit desto besserm Grunde voraussetzen, dass er noch ein vollkommner Neuling in der Welt sei, als weder die Denkungsart noch das Betragen dieses jungen Menschen so beschaffen war, dass ein Kenner auf guenstigere Gedanken haette gebracht werden sollen. Leute von seiner Art koennen, in der Tat zehen Jahre hinter einander in der grossen Welt gelebt haben, ohne dass sie dieses fremde und entlehnte Ansehen verlieren, welches beim ersten Blick verkuendiget, dass sie hier nicht einheimisch sind; geschweige, dass sie faehig waeren, sich jemals zu dieser edeln Freiheit von den Fesseln der gesunden Vernunft, zu dieser weisen Gleichgueltigkeit gegen alles was die schwaermerischen Seelen Empfindung nennen, und zu dieser verzaertelten Feinheit des Geschmacks zu erheben, wodurch die Weltleute sich auf eine so vorteilhafte Art unterscheiden. Solche Leute koennen wohl Beobachtungen machen; allein da ihnen dieser Instinkt, dieses sympathetische Gefuehl mangelt, mittelst dessen jene einander so schnell und zuverlaessig ausfindig machen; oder deutlicher zu reden, da sie von allem auf eine andre Art geruehrt werden, als jene; und sich, so sehr sie sich auch anstrengten, niemals an ihre Stelle setzen koennen: so bleiben sie doch immer in einem unbekannten Lande, wo ihre Erkenntnis nur bei Mutmassungen stehen bleibt, und ihre Erwartung alle Augenblicke durch unbegreifliche Zufaelle und unverhoffte Veraenderungen betrogen wird. Mit allen seinen Vorzuegen war Agathon doch in eben dieser Klasse, und es ist also kein Wunder, dass er, ungeachtet der tiefen Betrachtungen die er ueber seine Unterredung mit dem Hippias bei sich selbst anstellte, sehr weit entfernt war, die Gedanken zu erraten, womit dieser Sophist itzt umging, dessen Eitelkeit durch den schlechten Fortgang seines Vorhabens, und den Eigensinn dieses seltsamen Juenglings weit mehr beleidiget war, als er sich hatte anmerken lassen. Agathon, wenn er das wuerklich waere, was er zu sein schien, waere (dachte der weise Mann nicht ohne Grund) eine lebendige Widerlegung seines Systems. "Wie?" sagte er zu sich selbst, (ein Umstand, der ihm selten begegnete) "ich habe mehr als vierzig Jahre in der Welt gelebt, und unter einer unendlichen Menge von Menschen von allen Staenden und Klassen, nicht einen einzigen angetroffen, der meine Begriffe von der menschlichen Natur nicht bestaetiget haette, und dieser junge Mensch sollte mich noch an die Tugend glauben lehren? Es kann nicht sein; er ist ein Phantast oder ein Heuchler. Was er auch sein mag, ich will es ausfuendig machen.—Gut! Das ist ein vortrefflicher Einfall! Ich will ihn auf eine Probe stellen, wo er unterliegen muss, wenn er ein Schwaermer, und wo er die Maske ablegen wird, wenn er ein Komoediant ist. Er hat gegen Cyane ausgehalten, dies hat ihn stolz und sicher gemacht. Aber das beweist noch nichts. Wir wollen ihn auf eine staerkere Probe setzen; wenn er in dieser den Sieg erhaelt, so muss er—ja, so will ich meine Nymphen entlassen, mein Haus den Priestern der Cybele vermachen, und an den Ganges ziehen, und in der Hoehle eines alten Palmbaums, mit geschlossnen Augen und den Kopf zwischen den Knien, so lange in der naemlichen Positur sitzen bleiben, bis ich, allen meinen Sinnen zu trotz, mir einbilde, dass ich nicht mehr bin! "—Dies war ein hartes Geluebde; auch hielt sich Hippias sehr ueberzeugt, dass es so weit nicht kommen wuerde, und damit er keine Zeit versaeumen moechte; so machte er noch an demselbigen Tag Anstalt, seinen Anschlag auszufuehren.

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