III. Buch, Drittes Kapitel

Endlich kam die Zeit herbei, dass man sich zur ueberfahrt schicken, die Kutschen und Wagen erwarten sollte, die unsere Truppe nach dem Schlosse des Grafen hinueberzufuehren bestellt waren. Schon zum voraus fielen grosse Streitigkeiten vor, wer mit dem andern fahren, wie man sitzen sollte. Die Ordnung und Einteilung ward endlich nur mit Muehe ausgemacht und festgesetzt, doch leider ohne Wirkung. Zur bestimmten Stunde kamen weniger Wagen, als man erwartet hatte, und man musste sich einrichten. Der Baron, der zu Pferde nicht lange hintendrein folgte, gab zur Ursache an, dass im Schlosse alles in grosser Bewegung sei, weil nicht allein der Fuerst einige Tage frueher eintreffen werde, als man geglaubt, sondern weil auch unerwarteter Besuch schon gegenwaertig angelangt sei; der Platz gehe sehr zusammen, sie wuerden auch deswegen nicht so gut logieren, als man es ihnen vorher bestimmt habe, welches ihm ausserordentlich leid tue.

Man teilte sich in die Wagen, so gut es gehen wollte, und da leidlich Wetter und das Schloss nur einige Stunden entfernt war, machten sich die Lustigsten lieber zu Fusse auf den Weg, als dass sie die Rueckkehr der Kutschen haetten abwarten sollen. Die Karawane zog mit Freudengeschrei aus, zum erstenmal ohne Sorgen, wie der Wirt zu bezahlen sei. Das Schloss des Grafen stand ihnen wie ein Feengebaeude vor der Seele, sie waren die gluecklichsten und froehlichsten Menschen von der Welt, und jeder knuepfte unterwegs an diesen Tag, nach seiner Art zu denken, eine Reihe von Glueck, Ehre und Wohlstand.

Ein starker Regen, der unerwartet einfiel, konnte sie nicht aus diesen angenehmen Empfindungen reissen; da er aber immer anhaltender und staerker wurde, spuerten viele von ihnen eine ziemliche Unbequemlichkeit. Die Nacht kam herbei, und erwuenschter konnte ihnen nichts erscheinen als der durch alle Stockwerke erleuchtete Palast des Grafen, der ihnen von einem Huegel entgegenglaenzte, so dass sie die Fenster zaehlen konnten.

Als sie naeher kamen, fanden sie auch alle Fenster der Seitengebaeude erhellet. Ein jeder dachte bei sich, welches wohl sein Zimmer werden moechte, und die meisten begnuegten sich bescheiden mit einer Stube in der Mansarde oder den Fluegeln.

Nun fuhren sie durch das Dorf und am Wirtshause vorbei. Wilhelm liess halten, um dort abzusteigen; allein der Wirt versicherte, dass er ihm nicht den geringsten Raum anweisen koenne. Der Herr Graf habe, weil unvermutete Gaeste angekommen, sogleich das ganze Wirtshaus besprochen, an allen Zimmern stehe schon seit gestern mit Kreide deutlich angeschrieben, wer darin wohnen solle. Wider seinen Willen musste also unser Freund mit der uebrigen Gesellschaft zum Schlosshofe hineinfahren.

Um die Kuechenfeuer in einem Seitengebaeude sahen sie geschaeftige Koeche sich hin und her bewegen und waren durch diesen Anblick schon erquickt; eilig kamen Bediente mit Lichtern auf die Treppe des Hauptgebaeudes gesprungen, und das Herz der guten Wanderer quoll ueber diesen Aussichten auf. Wie sehr verwunderten sie sich dagegen, als sich dieser Empfang in ein entsetzliches Fluchen aufloeste. Die Bedienten schimpften auf die Fuhrleute, dass sie hier hereingefahren seien; sie sollten umwenden, rief man, und wieder hinaus nach dem alten Schlosse zu, hier sei kein Raum fuer diese Gaeste! Einem so unfreundlichen und unerwarteten Bescheide fuegten sie noch allerlei Spoettereien hinzu und lachten sich untereinander aus, dass sie durch diesen Irrtum in den Regen gesprengt worden. Es goss noch immer, keine Sterne standen am Himmel, und nun wurde die Gesellschaft durch einen holperichten Weg zwischen zwei Mauern in das alte, hintere Schloss gezogen, welches unbewohnt dastand, seit der Vater des Grafen das vordere gebaut hatte. Teils im Hofe, teils unter einem langen, gewoelbten Torwege hielten die Wagen still, und die Fuhrleute, Anspanner aus dem Dorfe, spannten aus und ritten ihrer Wege.

Da niemand zum Empfange der Gesellschaft sich zeigte, stiegen sie aus, riefen, suchten, vergebens! Alles blieb finster und stille. Der Wind blies durch das hohe Tor, und grauerlich waren die alten Tuerme und Hoefe, wovon sie kaum die Gestalten in der Finsternis unterschieden. Sie froren und schauerten, die Frauen fuerchteten sich, die Kinder fingen an zu weinen, ihre Ungeduld vermehrte sich mit jedem Augenblicke, und ein so schneller Glueckswechsel, auf den niemand vorbereitet war, brachte sie alle ganz und gar aus der Fassung.

Da sie jeden Augenblick erwarteten, dass jemand kommen und ihnen aufschliessen werde, da bald Regen, bald Sturm sie taeuschte und sie mehr als einmal den Tritt des erwuenschten Schlossvogts zu hoeren glaubten, blieben sie eine lange Zeit unmutig und untaetig, es fiel keinem ein, in das neue Schloss zu gehen und dort mitleidige Seelen um Huelfe anzurufen. Sie konnten nicht begreifen, wo ihr Freund, der Baron, geblieben sei, und waren in einer hoechst beschwerlichen Lage.

Endlich kamen wirklich Menschen an, und man erkannte an ihren Stimmen jene Fussgaenger, die auf dem Wege hinter den Fahrenden zurueckgeblieben waren. Sie erzaehlten, dass der Baron mit dem Pferde gestuerzt sei, sich am Fusse stark beschaedigt habe und dass man auch sie, da sie im Schlosse nachgefragt, mit Ungestuem hieher gewiesen habe.

Die ganze Gesellschaft war in der groessten Verlegenheit; man ratschlagte, was man tun sollte, und konnte keinen Entschluss fassen. Endlich sah man von weitem eine Laterne kommen und holte frischen Atem; allein die Hoffnung einer baldigen Erloesung verschwand auch wieder, indem die Erscheinung naeher kam und deutlich ward. Ein Reitknecht leuchtete dem bekannten Stallmeister des Grafen vor, und dieser erkundigte sich, als er naeher kam, sehr eifrig nach Mademoiselle Philinen. Sie war kaum aus dem uebrigen Haufen hervorgetreten, als er ihr sehr dringend anbot, sie in das neue Schloss zu fuehren, wo ein Plaetzchen fuer sie bei den Kammerjungfern der Graefin bereitet sei. Sie besann sich nicht lange, das Anerbieten dankbar zu ergreifen, fasste ihn bei dem Arme und wollte, da sie den andern ihren Koffer empfohlen, mit ihm forteilen; allein man trat ihnen in den Weg, fragte, bat, beschwor den Stallmeister, dass er endlich, um nur mit seiner Schoenen loszukommen, alles versprach und versicherte, in kurzem solle das Schloss eroeffnet und sie auf das beste einquartiert werden. Bald darauf sahen sie den Schein seiner Laterne verschwinden und hofften lange vergebens auf das neue Licht, das ihnen endlich nach vielem Warten, Schelten und Schmaehen erschien und sie mit einigem Troste und Hoffnung belebte.

Ein alter Hausknecht eroeffnete die Tuere des alten Gebaeudes, in das sie mit Gewalt eindrangen. Ein jeder sorgte nun fuer seine Sachen, sie abzupacken, sie hereinzuschaffen. Das meiste war, wie die Personen selbst, tuechtig durchweicht. Bei dem einen Lichte ging alles sehr langsam. Im Gebaeude stiess man sich, stolperte, fiel. Man bat um mehr Lichter, man bat um Feuerung. Der einsilbige Hausknecht liess mit genauer Not seine Laterne da, ging und kam nicht wieder.

Nun fing man an, das Haus zu durchsuchen; die Tueren aller Zimmer waren offen, grosse oefen, gewirkte Tapeten, eingelegte Fussboeden waren von seiner vorigen Pracht noch uebrig, von anderm Hausgeraete aber nichts zu finden, kein Tisch, kein Stuhl, kein Spiegel, kaum einige ungeheuere leere Bettstellen, alles Schmuckes und alles Notwendigen beraubt. Die nassen Koffer und Mantelsaecke wurden zu Sitzen gewaehlt, ein Teil der mueden Wandrer bequemte sich auf dem Fussboden, Wilhelm hatte sich auf einige Stufen gesetzt, Mignon lag auf seinen Knien; das Kind war unruhig, und auf seine Frage, was ihm fehlte, antwortete es: "Mich hungert!" Er fand nichts bei sich, um das Verlangen des Kindes zu stillen, die uebrige Gesellschaft hatte jeden Vorrat auch aufgezehrt, und er musste die arme Kreatur ohne Erquickung lassen. Er blieb bei dem ganzen Vorfalle untaetig, still in sich gekehrt: denn er war sehr verdriesslich und grimmig, dass er nicht auf seinem Sinne bestanden und bei dem Wirtshause abgestiegen sei, wenn er auch auf dem obersten Boden haette sein Lager nehmen sollen.

Die uebrigen gebaerdeten sich jeder nach seiner Art. Einige hatten einen Haufen altes Gehoelz in einen ungeheuren Kamin des Saals geschafft und zuendeten mit grossem Jauchzen den Scheiterhaufen an. Ungluecklicherweise ward auch diese Hoffnung, sich zu trocknen und zu waermen, auf das schrecklichste getaeuscht, denn dieser Kamin stand nur zur Zierde da und war von oben herein vermauert; der Dampf trat schnell zurueck und erfuellte auf einmal die Zimmer; das duerre Holz schlug prasselnd in Flammen auf, und auch die Flamme ward herausgetrieben; der Zug, der durch die zerbrochenen Fensterscheiben drang, gab ihr eine unstete Richtung, man fuerchtete das Schloss anzuzuenden, musste das Feuer auseinanderziehen, austreten, daempfen, der Rauch vermehrte sich, der Zustand wurde unertraeglicher, man kam der Verzweiflung nahe.

Wilhelm war vor dem Rauch in ein entferntes Zimmer gewichen, wohin ihm bald Mignon folgte und einen wohlgekleideten Bedienten, der eine hohe, hellbrennende, doppelt erleuchtete Laterne trug, hereinfuehrte; dieser wendete sich an Wilhelmen, und indem er ihm auf einem schoenen porzellanenen Teller Konfekt und Fruechte ueberreichte, sagte er: "Dies schickt Ihnen das junge Frauenzimmer von drueben mit der Bitte, zur Gesellschaft zu kommen; sie laesst sagen", setzte der Bediente mit einer leichtfertigen Miene hinzu, "es geht ihr sehr wohl, und sie wuensche ihre Zufriedenheit mit ihren Freunden zu teilen."

Wilhelm erwartete nichts weniger als diesen Antrag, denn er hatte Philinen seit dem Abenteuer der steinernen Bank mit entschiedener Verachtung begegnet und war so fest entschlossen, keine Gemeinschaft mehr mit ihr zu machen, dass er im Begriff stand, die suesse Gabe wieder zurueckzuschicken, als ein bittender Blick Mignons ihn vermochte, sie anzunehmen und im Namen des Kindes dafuer zu danken; die Einladung schlug er ganz aus. Er bat den Bedienten, einige Sorge fuer die angekommene Gesellschaft zu haben, und erkundigte sich nach dem Baron. Dieser lag zu Bette, hatte aber schon, soviel der Bediente zu sagen wusste, einem andern Auftrag gegeben, fuer die elend Beherbergten zu sorgen.

Der Bediente ging und hinterliess Wilhelmen eins von seinen Lichtern, das dieser in Ermanglung eines Leuchters auf das Fenstergesims kleben musste und nun wenigstens bei seinen Betrachtungen die vier Waende des Zimmers erhellt sah. Denn es waehrte noch lange, ehe die Anstalten rege wurden, die unsere Gaeste zur Ruhe bringen sollten. Nach und nach kamen Lichter, jedoch ohne Lichtputzen, dann einige Stuehle, eine Stunde darauf Deckbetten, dann Kissen, alles wohl durchnetzt, und es war schon weit ueber Mitternacht, als endlich Strohsaecke und Matratzen herbeigeschafft wurden, die, wenn man sie zuerst gehabt haette, hoechst willkommen gewesen waeren.

In der Zwischenzeit war auch etwas von Essen und Trinken angelangt, das ohne viele Kritik genossen wurde, ob es gleich einem sehr unordentlichen Abhub aehnlich sah und von der Achtung, die man fuer die Gaeste hatte, kein sonderliches Zeugnis ablegte.