Neapel
An Herder
Neapel, den 17. Mai 1787.
Hier bin ich wieder, meine Lieben, frisch und gesund. Ich habe die Reise durch Sizilien leicht und schnell getrieben, wenn ich wiederkomme, sollt Ihr beurteilen, wie ich gesehen habe. Dass ich sonst so an den Gegenstaenden klebte und haftete, hat mir nun eine unglaubliche Fertigkeit verschafft, alles gleichsam vom Blatt wegzuspielen, und ich finde mich recht gluecklich, den grossen, schoenen, unvergleichbaren Gedanken von Sizilien so klar, ganz und lauter in der Seele zu haben. Nun bleibt meiner Sehnsucht kein Gegenstand mehr im Mittag, da ich auch gestern von Paestum zurueckgekommen bin. Das Meer und die Inseln haben mir Genuss und Leiden gegeben, und ich kehre befriedigt zurueck. Lasst mich jedes Detail bis zu meiner Wiederkehr aufsparen. Auch ist hier in Neapel kein Besinnens; diesen Ort werde ich Euch nun besser schildern, als es meine ersten Briefe taten. Den ersten Juni reise ich nach Rom, wenn mich nicht eine hoehere Macht hindert, und Anfangs Juli denke ich von dort wieder abzugehen. Ich muss Euch so bald als moeglich wiedersehen, es sollen gute Tage werden. Ich habe unsaeglich aufgeladen und brauche Ruhe, es wieder zu verarbeiten.
Fuer alles, was Du Liebes und Gutes an meinen Schriften tust, danke ich Dir tausendmal, ich wuenschte immer, etwas Besseres auch Dir zur Freude zu machen. Was mir auch von Dir begegnen wird und wo, soll mir willkommen sein, wir sind so nah in unsern Vorstellungsarten, als es moeglich ist, ohne eins zu sein, und in den Hauptpunkten am naechsten. Wenn Du diese Zeit her viel aus Dir selbst geschoepft hast, so hab’ ich viel erworben, und ich kann einen guten Tausch hoffen.
Ich bin freilich, wie Du sagst, mit meiner Vorstellung sehr ans Gegenwaertige geheftet, und je mehr ich die Welt sehe, desto weniger kann ich hoffen, dass die Menschheit je eine weise, kluge, glueckliche Masse werden koenne. Vielleicht ist unter den Millionen Welten eine, die sich dieses Vorzugs ruehmen kann; bei der Konstitution der unsrigen bleibt mit so wenig fuer sie, als fuer Sizilien bei der seinigen zu hoffen.
In einem beiliegenden Blatte sag’ ich etwas ueber den Weg nach Salerno und ueber Paestum selbst; es ist die letzte und, fast moecht’ ich sagen, herrlichste Idee, die ich nun nordwaerts vollstaendig mitnehme. Auch ist der mittlere Tempel nach meiner Meinung allem vorzuziehen, was man noch in Sizilien sieht.
Was den Homer betrifft, ist mir wie eine Decke von den Augen gefallen. Die Beschreibungen, die Gleichnisse etc. kommen uns poetisch vor und sind doch unsaeglich natuerlich, aber freilich mit einer Reinheit und Innigkeit gezeichnet, vor der man erschrickt. Selbst die sonderbarsten erlogenen Begebenheiten haben eine Natuerlichkeit, die ich nie so gefuehlt habe als in der Naehe der beschriebenen Gegenstaende. Lass mich meinen Gedanken kurz so ausdruecken: sie stellten die Existenz dar, wir gewoehnlich den Effekt; sie schilderten das Fuerchterliche, wir schildern fuerchterlich; sie das Angenehme, wir angenehm u.s.w. Daher kommt alles uebertriebene, alles Manierierte, alle falsche Grazie, aller Schwulst. Denn wenn man den Effekt und auf den Effekt arbeitet, so glaubt man ihn nicht fuehlbar genug machen zu koennen. Wenn, was ich sage, nicht neu ist, so hab’ ich es doch bei neuem Anlass recht lebhaft gefuehlt. Nun ich alle diese Kuesten und Vorgebirge, Golfe und Buchten, Inseln und Erdzungen, Felsen und Sandstreifen, buschige Huegel, sanfte Weiden, fruchtbare Felder, geschmueckte Gaerten, gepflegte Baeume, haengende Reben, Wolkenberge und immer heitere Ebnen, Klippen und Baenke und das alles umgebende Meer mit so vielen Abwechselungen und Mannigfaltigkeiten im Geiste gegenwaertig habe, nun ist mir erst die Odyssee ein lebendiges Wort.
Ferner muss ich Dir vertrauen, dass ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und -organisation ganz nahe bin und dass es das einfachste ist, was nur gedacht werden kann. Unter diesem Himmel kann man die schoensten Beobachtungen machen. Den Hauptpunkt, wo der Keim steckt, habe ich ganz klar und zweifellos gefunden; alles uebrige seh’ ich auch schon im ganzen, und nur noch einige Punkte muessen bestimmter werden. Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschoepf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schluessel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein muessen, das heisst, die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren koennten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles uebrige Lebendige anwenden lassen.
Neapel, den 18. Mai 1787.
Tischbein, der nach Rom wieder zurueckgekehrt ist, hat, wie wir merken, hier in der Zwischenzeit so fuer uns gearbeitet, dass wir seine Abwesenheit nicht empfinden sollen. Er scheint seinen saemtlichen hiesigen Freunden so viel Zutrauen zu uns eingefloesst zu haben, dass sie sich alle offen, freundlich und taetig gegen uns erweisen, welches ich besonders in meiner gegenwaertigen Lage sehr bedarf, weil kein Tag vergeht, wo ich nicht jemand um irgendeine Gefaelligkeit und Beistand anzurufen haette. Soeben bin ich im Begriff, ein summarisches Verzeichnis aufzusetzen von dem, was ich noch zu sehen wuenschte; da denn die Kuerze der Zeit Meisterin bleiben und andeuten wird, was denn auch wirklich nachgeholt werden koenne.
Neapel, den 22. Mai 1787.
Heute begegnete mir ein angenehmes Abenteuer, welches mich wohl zu einigem Nachdenken bewegen konnte und des Erzaehlens wert ist.
Eine Dame, die mich schon bei meinem ersten Aufenthalt vielfach beguenstigt, ersuchte mich, abends Punkt fuenf Uhr bei ihr einzutreffen: es wolle mich ein Englaender sprechen, der mir ueber meinen "Werther" etwas zu sagen habe.
Vor einem halben Jahre wuerde hierauf, und waere sie mir doppelt wert gewesen, gewiss eine abschlaegige Antwort erfolgt sein; aber daran, dass ich zusagte, konnte ich wohl merken, meine sizilianische Reise habe gluecklich auf mich gewirkt, und ich versprach zu kommen.
Leider aber ist die Stadt zu gross und der Gegenstaende so viel, dass ich eine Viertelstunde zu spaet die Treppe hinaufstieg und eben an der verschlossenen Tuere auf der Schilfmatte stand, um zu klingeln, als die Tuere schon aufging und ein schoener Mann in mittlern Jahren heraustrat, den ich sogleich fuer den Englaender erkannte. Er hatte mich kaum angesehen, als er sagte: "Sie sind der Verfasser des "Werther"!" Ich bekannte mich dazu und entschuldigte mich, nicht frueher gekommen zu sein.
"Ich konnte nicht einen Augenblick laenger warten", versetzte derselbe, "was ich Ihnen zu sagen habe, ist ganz kurz und kann ebensogut hier auf der Schilfmatte geschehen. Ich will nicht wiederholen, was Sie von Tausenden gehoert, auch hat das Werk nicht so heftig auf mich gewirkt als auf andere; sooft ich aber daran denke, was dazu gehoerte, um es zu schreiben, so muss ich mich immer aufs neue verwundern."
Ich wollte irgend etwas dankbar dagegen erwidern, als er mir ins Wort fiel und ausrief: "Ich darf keinen Augenblick laenger saeumen, mein Verlangen ist erfuellt, Ihnen dies selbst gesagt zu haben, leben Sie recht wohl und gluecklich!" Und so fuhr er die Treppe hinunter. Ich stand einige Zeit ueber diesen ehrenvollen Text nachdenkend und klingelte endlich. Die Dame vernahm mit Vergnuegen unser Zusammentreffen und erzaehlte manches Vorteilhafte von diesem seltenen und seltsamen Manne.
Neapel, Freitag, den 25. Mai 1787
Mein lockeres Prinzesschen werde ich wohl nicht wiedersehen; sie ist wirklich nach Sorrent und hat mir die Ehre angetan, vor ihrer Abreise auf mich zu schelten, dass ich das steinichte und wueste Sizilien ihr habe vorziehen koennen. Einige Freunde gaben mir Auskunft ueber diese sonderbare Erscheinung. Aus einem guten, doch unvermoegenden Hause geboren, im Kloster erzogen, entschloss sie sich, einen alten und reichen Fuersten zu heiraten, und man konnte sie um so eher dazu ueberreden, als die Natur sie zu einem zwar guten, aber zur Liebe voellig unfaehigen Wesen gebildet hatte. In dieser reichen, aber durch Familienverhaeltnisse hoechst beschraenkten Lage suchte sie sich durch ihren Geist zu helfen und, da sie in Tun und Lassen gehindert war, wenigstens ihrem Mundwerk freies Spiel zu geben. Man versicherte mir, dass ihr eigentlichster Wandel ganz untadelig sei, dass sie sich aber fest vorgesetzt zu haben scheine, durch ein unbaendiges Reden allen Verhaeltnissen ins Angesicht zu schlagen. Man bemerkte scherzend, dass keine Zensur ihre Diskurse, waeren sie schriftlich verfasst, koenne durchgehen lassen, weil sie durchaus nichts vorbringe, als was Religion, Staat oder Sitten verletze.
Man erzaehlte die wunderlichsten und artigsten Geschichten von ihr, wovon eine hier stehen mag, ob sie gleich nicht die anstaendigste ist.
Kurz vor dem Erdbeben, das Kalabrien betraf, war sie auf die dortigen Gueter ihres Gemahls gezogen. Auch in der Naehe ihres Schlosses war eine Baracke gebaut, das heisst ein hoelzernes einstoeckiges Haus, unmittelbar auf den Boden aufgesetzt; uebrigens tapeziert, moebliert und schicklich eingerichtet. Bei den ersten Anzeigen des Erdbebens fluechtete sie dahin. Sie sass auf dem Sofa, Knoetchen knuepfend, vor sich ein Naehtischchen, gegen ihr ueber ein Abbe, ein alter Hausgeistlicher. Auf einmal wogte der Boden, das Gebaeude sank an ihrer Seite nieder, indem die entgegengesetzte sich emporhob, der Abbe und das Tischchen wurde also auch in die Hoehe gehoben. "Pfui!" rief sie, an der sinkenden Wand mit dem Kopfe gelehnt, "schickt sich das fuer einen so ehrwuerdigen Mann? Ihr gebaerdet Euch ja, als wenn Ihr auf mich fallen wolltet. Das ist ganz gegen alle Sitte und Wohlstand."
Indessen hatte das Haus sich wieder niedergesetzt, und sie wusste sich vor Lachen nicht zu lassen ueber die naerrische, luesterne Figur, die der gute Alte sollte gespielt haben, und sie schien ueber diesen Scherz von allen Kalamitaeten, ja dem grossen Verlust, der ihre Familie und so viel tausend Menschen betraf, nicht das mindeste zu empfinden. Ein wundersam gluecklicher Charakter, dem noch eine Posse gelingt, indem ihn die Erde verschlingen will.
Neapel, Sonnabend, den 26. Mai 1787
Genau betrachtet, moechte man doch wohl gutheissen, dass es so viele Heilige gibt; nun kann jeder Glaeubige den seinigen auslesen und mit vollem Vertrauen sich gerade an den wenden, der ihm eigentlich zusagt. Heute war der Tag des meinigen, den ich denn ihm zu Ehren nach seiner Weise und Lehre andaechtig-munter beging.
Philippus Neri steht in hohem Ansehn und zugleich heiterm Andenken; man wird erbaut und erfreut, wenn man von ihm und von seiner hohen Gottesfurcht vernimmt, zugleich aber hoert man auch von seiner guten Laune sehr viel erzaehlen. Seit seinen ersten Jugendjahren fuehlte er die bruenstigsten Religionstriebe, und im Laufe seines Lebens entwickelten sich in ihm die hoechsten Gaben des religioesen Enthusiasmus: die Gabe des unwillkuerlichen Gebets, der tiefen, wortlosen Anbetung, die Gabe der Traenen, der Ekstase und zuletzt sogar des Aufsteigens vom Boden und Schwebens ueber demselben, welches vor allen fuer das Hoechste gehalten wird.
Zu so vielen geheimnisvollen, seltsamen Innerlichkeiten gesellte er den klarsten Menschenverstand, die reinste Wuerdigung oder vielmehr Abwuerdigung der irdischen Dinge, den taetigsten Beistand, in leiblicher und geistlicher Not seinem Nebenmenschen gewidmet. Streng beobachtete er alle Obliegenheiten, wie sie auch an Festen, Kirchenbesuchen, Beten, Fasten und sonst von dem glaeubigen, kirchlichen Manne gefordert werden. Ebenso beschaeftigte er sich mit Bildung der Jugend, mit musikalischer und rednerischer uebung derselben, indem er nicht allein geistliche, sondern auch geistreiche Themata vorlegte und sonst aufregende Gespraeche und Disputationen veranlasste. Hiebei moechte denn wohl das Sonderbarste scheinen, dass er das alles aus eignem Trieb und Befugnis tat und leistete, seinen Weg viele Jahre stetig verfolgte, ohne zu irgendeinem Orden oder Kongregation zu gehoeren, ja ohne die geistliche Weihe zu haben.
Doch bedeutender muss es auffallen, dass gerade dies zu Luthers Zeit geschah, und dass mitten in Rom ein tuechtiger, gottesfuerchtiger, energischer, taetiger Mann gleichfalls den Gedanken hatte, das Geistliche, ja das Heilige mit dem Weltlichen zu verbinden, das Himmlische in das Saekulum einzufuehren und dadurch ebenfalls eine Reformation vorzubereiten. Denn hier liegt doch ganz allein der Schluessel, der die Gefaengnisse des Papsttums oeffnen und der freien Welt ihren Gott wiedergeben soll.
Der paepstliche Hof jedoch, der einen so bedeutenden Mann in der Naehe, im Bezirk von Rom, unter seinem Gewahrsam hatte, liess nicht nach, bis dieser, der ohnehin ein geistliches Leben fuehrte, schon seine Wohnung in Kloestern nahm, daselbst lehrte, ermunterte, ja sogar, wo nicht einen Orden, doch eine freie Versammlung zu stiften im Begriff war, endlich beredet ward, die Weihe zu nehmen und alle die Vorteile damit zu empfangen, die ihm denn doch bisher auf seinem Lebenswege ermangelt hatten.
Will man auch seine koerperliche wunderbare Erhebung ueber den Boden, wie billig, in Zweifel ziehen, so war er doch dem Geiste nach hoch ueber dieser Welt erhoben und deswegen ihm nichts so sehr zuwider als Eitelkeit, Schein, Anmassung, gegen die er auch immer, als gegen die groessten Hindernisse eines wahren gottseligen Lebens, kraeftig wirkte, und zwar, wie uns manche Geschichte ueberliefert, immer mit gutem Humor.
Er befindet sich z. B. eben in der Naehe des Papstes, als diesem berichtet wird, dass in der Naehe von Rom eine Klosterfrau mit allerlei wunderlichen geistlichen Gaben sich hervortue. Die Wahrhaftigkeit dieser Erzaehlungen zu untersuchen, erhaelt Neri den Auftrag. Er setzt sich sogleich zu Maultier und ist bei sehr boesem Wetter und Weg bald im Kloster. Eingefuehrt, unterhaelt er sich mit der aebtissin, die ihm von allen diesen Gnadenzeichen mit vollkommener Beistimmung genaueste Kenntnis gibt. Die geforderte Nonne tritt ein, und er, ohne sie weiter zu begruessen, reicht ihr den kotigen Stiefel hin, mit dem Ansinnen, dass sie ihn ausziehen solle. Die heilige, reinliche Jungfrau tritt erschrocken zurueck und gibt ihre Entruestung ueber dieses Zumuten mit heftigen Worten zu erkennen. Neri erhebt sich ganz gelassen, besteigt sein Maultier und findet sich wieder vor dem Papst, ehe dieser es nur vermuten konnte; denn wegen Pruefung solcher Geistesgaben sind katholischen Beichtvaetern bedeutende Vorsichtsmassregeln aufs genaueste vorgeschrieben, weil die Kirche zwar die Moeglichkeit solcher himmlischen Beguenstigungen zugibt, aber die Wirklichkeit derselben nicht ohne die genaueste Pruefung zugesteht. Dem verwunderten Papste eroeffnete Neri kuerzlich das Resultat: "Sie ist keine Heilige", ruft er aus, "sie tut keine Wunder! Denn die Haupteigenschaft fehlt ihr, die Demut."
Diese Maxime kann man als leitendes Prinzip seines ganzen Lebens ansehen; denn, um nur noch eins zu erzaehlen: als er die Kongregation der Padri dell’ Oratorio gestiftet hatte, die sich bald ein grosses Ansehn erwarb und gar vielen den Wunsch einfloesste, Mitglied derselben zu werden, kam ein junger roemischer Prinz, um Aufnahme bittend, welchem denn auch das Noviziat und die demselben angewiesene Kleidung zugestanden wurde. Da aber selbiger nach einiger Zeit um wirklichen Eintritt nachsuchte, hiess es, dass vorher noch einige Pruefungen zu bestehen seien; wozu er sich denn auch bereit erklaerte. Da brachte Neri einen langen Fuchsschwanz hervor und forderte, der Prinz solle diesen sich hinten an das lange Roeckchen anheften lassen und ganz ernsthaft durch alle Strassen von Rom gehen. Der junge Mann entsetzte sich, wie oben die Nonne, und aeusserte, er habe sich gemeldet, nicht um Schande, sondern um Ehre zu erlangen. Da meinte denn Vater Neri, dies sei von ihrem Kreise nicht zu erwarten, wo die hoechste Entsagung das erste Gesetz bleibe. Worauf denn der Juengling seinen Abschied nahm.
In einem kurzen Wahlspruch hatte Neri seine Hauptlehre verfasst: "Spernere mundum, spernere te ipsum, spernere te sperni." Und damit war freilich alles gesagt. Die beiden ersten Punkte bildet sich ein Hypochondrist wohl manchmal ein erfuellen zu koennen, um aber sich zum dritten zu bequemen, muesste man auf dem Wege sein, ein Heiliger zu werden.
Neapel, den 27. Mai 1787.
Die saemtlichen lieben Briefe vom Ende des vorigen Monats habe ich gestern alle auf einmal von Rom her durch Graf Fries erhalten und mir mit Lesen und Wiederlesen etwas Rechts zugute getan. Das sehnlich erwartete Schaechtelchen war auch dabei, und ich danke tausendmal fuer alles.
Nun wird es aber bald Zeit, dass ich von hier fluechte; denn indem ich mir Neapel und seine Umgebungen noch recht zu guter Letzt vergegenwaertigen, den Eindruck erneuern und ueber manches abschliessen moechte, so reisst der Strom des Tages mich fort, und nun schliessen auch vorzuegliche Menschen sich an, die ich als alte und neue Bekannte unmoeglich so geradezu abweisen kann. Ich fand eine liebenswuerdige Dame, mit der ich vorigen Sommer in Karlsbad die angenehmsten Tage verlebt hatte. Um wie manche Stunde betrogen wir die Gegenwart in heiterster Erinnerung. Alle die Lieben und Werten kamen wieder an die Reihe, vor allem der heitere Humor unseres teuren Fuersten. Sie besass das Gedicht noch, womit ihn bei seinem Wegritt die Maedchen von Engelhaus ueberraschten. Es rief die lustigen Szenen alle zurueck, die witzigen Neckereien und Mystifikationen, die geistreichen Versuche, das Vergeltungsrecht aneinander auszuueben. Schnell fuehlten wir uns auf deutschem Boden in der besten deutschen Gesellschaft, eingeschraenkt von Felswaenden, durch ein seltsames Lokal zusammengehalten, mehr noch durch Hochachtung, Freundschaft und Neigung vereinigt. Sobald wir jedoch ans Fenster traten, rauschte der neapolitanische Strom wieder so gewaltsam an uns vorbei, dass jene friedlichen Erinnerungen nicht festzuhalten waren.
Der Bekanntschaft des Herzogs und der Herzogin von Ursel konnt’ ich ebensowenig ausweichen. Treffliche Personen von hohen Sitten, reinem Natur—und Menschensinn, entschiedener Kunstliebe, Wohlwollen fuer Begegnende. Eine fortgesetzte und wiederholte Unterhaltung war hoechst anziehend.
Hamilton und seine Schoene setzten gegen mich ihre Freundlichkeit fort. Ich speiste bei ihnen, und gegen Abend produzierte Miss Harte auch ihre musikalischen und melischen Talente.
Auf Antrieb Freund Hackerts, der sein Wohlwollen gegen mich steigert und mir alles Merkwuerdige zur Kenntnis bringen moechte, fuehrte uns Hamilton in sein geheimes Kunstund Geruempelgewoelbe. Da sieht es denn ganz verwirrt aus; die Produkte aller Epochen zufaellig durcheinander gestellt: Buesten, Torse, Vasen, Bronze, von sizilianischen Achaten allerlei Hauszierat, sogar ein Kapellchen, Geschnitztes, Gemaltes und was er nur zufaellig zusammenkaufte. In einem langen Kasten an der Erde, dessen aufgebrochenen Deckel ich neugierig beiseiteschob, lagen zwei ganz herrliche Kandelaber von Bronze. Mit einem Wink machte ich Hackerten aufmerksam und lispelte ihm die Frage zu, ob diese nicht ganz denen in Portici aehnlich seien. Er winkte mir dagegen Stillschweigen; sie mochten sich freilich aus den pompejischen Grueften seitwaerts hieher verloren haben. Wegen solcher und aehnlicher gluecklicher Erwerbnisse mag der Ritter diese verborgenen Schaetze nur wohl seinen vertrautesten Freunden sehen lassen.
Auffallend war mir ein aufrechtstehender, an der Vorderseite offener, inwendig schwarz angestrichener Kasten, von dem praechtigsten goldenen Rahmen eingefasst. Der Raum gross genug, um eine stehende menschliche Figur aufzunehmen, und demgemaess erfuhren wir auch die Absicht. Der Kunst—und Maedchenfreund, nicht zufrieden, das schoene Gebild als bewegliche Statue zu sehen, wollte sich auch an ihr als an einem bunten, unnachahmbaren Gemaelde ergoetzen, und so hatte sie manchmal innerhalb dieses goldenen Rahmens, auf schwarzem Grund vielfarbig gekleidet, die antiken Gemaelde von Pompeji und selbst neuere Meisterwerke nachgeahmt. Diese Epoche schien vorueber zu sein, auch war der Apparat schwer zu transportieren und ins rechte Licht zu setzen; uns konnte also ein solches Schauspiel nicht zuteil werden.
Hier ist der Ort, noch einer andern entschiedenen Liebhaberei der Neapolitaner ueberhaupt zu gedenken. Es sind die Krippchen (presepe), die man zu Weihnachten in allen Kirchen sieht, eigentlich die Anbetung der Hirten, Engel und Koenige vorstellend, mehr oder weniger vollstaendig, reich und kostbar zusammen gruppiert. Diese Darstellung ist in dem heitern Neapel bis auf die flachen Hausdaecher gestiegen; dort wird ein leichtes huettenartiges Gerueste erbaut, mit immergruenen Baeumen und Straeuchen aufgeschmueckt. Die Mutter Gottes, das Kind und die saemtlichen Umstehenden und Umschwebenden, kostbar ausgeputzt, auf welche Garderobe das Haus grosse Summen verwendet. Was aber das Ganze unnachahmlich verherrlicht, ist der Hintergrund, welcher den Vesuv mit seinen Umgebungen einfasst.
Da mag man nun manchmal auch lebendige Figuren zwischen die Puppen mit eingemischt haben, und nach und nach ist eine der bedeutendsten Unterhaltungen hoher und reicher Familien geworden, zu ihrer Abendergoetzung auch weltliche Bilder, sie moegen nun der Geschichte oder der Dichtkunst angehoeren, in ihren Palaesten aufzufuehren.
Darf ich mir eine Bemerkung erlauben, die freilich ein wohlbehandelter Gast nicht wagen sollte, so muss ich gestehen, dass mir unsere schoene Unterhaltende doch eigentlich als ein geistloses Wesen vorkommt, die wohl mit ihrer Gestalt bezahlen, aber durch keinen seelenvollen Ausdruck der Stimme, der Sprache sich geltend machen kann. Schon ihr Gesang ist nicht von zusagender Fuelle.
Und so mag es sich auch am Ende mit jenen starren Bildern verhalten. Schoene Personen gibt’s ueberall, tiefempfindende, zugleich mit guenstigen Sprachorganen versehene viel seltener, am allerseltensten solche, wo zu allem diesen noch eine einnehmende Gestalt hinzutritt.
Auf Herders dritten Teil freu’ ich mich seht. Hebet mir ihn auf, bis ich sagen kann, wo er mir begegnen soll. Er wird gewiss den schoenen Traumwunsch der Menschheit, dass es dereinst besser mit ihr werden solle, trefflich ausgefuehrt haben. Auch, muss ich selbst sagen, halt’ ich es fuer wahr, dass die Humanitaet endlich siegen wird, nur fuercht’ ich, dass zu gleicher Zeit die Welt ein grosses Hospital und einer des andern humaner Krankenwaerter sein werde.
Neapel, den 28. Mai 1787
Der gute und so brauchbare Volkmann noetigt mich, von Zeit zu Zeit von seiner Meinung abzugehen. Er spricht z. B., dass dreissig—bis vierzigtausend Muessiggaenger in Neapel zu finden waeren, und wer spricht’s ihm nicht nach! Ich vermutete zwar sehr bald nach einiger erlangter Kenntnis des suedlichen Zustandes, dass dies wohl eine nordische Ansicht sein moechte, wo man jeden fuer einen Muessiggaenger haelt, der sich nicht den ganzen Tag aengstlich abmueht. Ich wendete deshalb vorzuegliche Aufmerksamkeit auf das Volk, es mochte sich bewegen oder in Ruhe verharren, und konnte zwar sehr viel uebelgekleidete Menschen bemerken, aber keine unbeschaeftigten.
Ich fragte deswegen einige Freunde nach den unzaehligen Muessiggaengern, welche ich doch auch wollte kennen lernen; sie konnten mir aber solche ebensowenig zeigen, und so ging ich, weil die Untersuchung mit Betrachtung der Stadt genau zusammenhing, selbst auf die Jagd aus.
Ich fing an, mich in dem ungeheuren Gewirre mit den verschiedenen Figuren bekannt zu machen, sie nach ihrer Gestalt, Kleidung, Betragen, Beschaeftigung zu beurteilen und zu klassifizieren. Ich fand diese Operation hier leichter als irgendwo, weil der Mensch sich hier mehr selbst gelassen ist und sich seinem Stande auch aeusserlich gemaess bezeigt.
Ich fing meine Beobachtung bei frueher Tageszeit an, und alle die Menschen, die ich hie und da stillstehen oder ruhen fand, waren Leute, deren Beruf es in dem Augenblick mit sich brachte.
Die Lasttraeger, die an verschiedenen Plaetzen ihre privilegierten Staende haben und nur erwarten, bis sich jemand ihrer bedienen will; die Kalessaren, ihre Knechte und Jungen, die bei den einspaennigen Kaleschen auf den grossen Plaetzen stehen, ihre Pferde besorgen und einem jeden, der sie verlangt, zu Diensten sind; Schiffer, die auf dem Molo ihre Pfeife rauchen; Fischer, die an der Sonne liegen, weil vielleicht ein unguenstiger Wind weht, der ihnen auf das Meer auszufahren verbietet. Ich sah auch wohl noch manche hin und wider gehen, doch trug meist ein jeder ein Zeichen seiner Taetigkeit mit sich. Von Bettlern war keiner zu bemerken als ganz alte, voellig unfaehige und krueppelhafte Menschen. Je mehr ich mich umsah, je genauer ich beobachtete, desto weniger konnt’ ich, weder von der geringen noch von der mittlern Klasse, weder am Morgen noch den groessten Teil des Tages, ja, von keinem Alter und Geschlecht, eigentliche Muessiggaenger finden.
Ich gehe in ein naeheres Detail, um das, was ich behaupte, glaubwuerdiger und anschaulicher zu machen. Die kleinsten Kinder sind auf mancherlei Weise beschaeftigt. Ein grosser Teil derselben traegt Fische zum Verkauf von Santa Lucia in die Stadt; andere sieht man sehr oft in der Gegend des Arsenals, oder wo sonst etwas gezimmert wird, wobei es Spaene gibt, auch am Meere, welches Reiser und kleines Holz auswirft, beschaeftigt, sogar die kleinsten Stueckchen in Koerbchen aufzulesen. Kinder von einigen Jahren, die nur auf der Erde so hinkriechen in Gesellschaft aelterer Knaben von fuenf bis sechs Jahren, befassen sich mit diesem kleinen Gewerbe. Sie gehen nachher mit den Koerbchen tiefer in die Stadt und setzen sich mit ihren kleinen Holzportionen gleichsam zu Markte. Der Handwerker, der kleine Buerger kauft es ihnen ab, brennt es auf seinem Dreifuss zu Kohlen, um sich daran zu erwaermen, oder verbraucht es in seiner sparsamen Kueche.
Andere Kinder tragen das Wasser der Schwefelquellen, welches besonders im Fruehjahr sehr stark getrunken wird, zum Verkauf herum. Andere suchen einen kleinen Gewinn, indem sie Obst, gesponnenen Honig, Kuchen und Zuckerware einkaufen und wieder als kindische Handelsleute den uebrigen Kindern anbieten und verkaufen; allenfalls, nur um ihren Teil daran umsonst zu haben. Es ist wirklich artig anzusehen, wie ein solcher Junge, dessen ganzer Kram und Geraetschaft in einem Brett und Messer besteht, eine Wassermelone oder einen halben gebratenen Kuerbis herumtraegt, wie sich um ihn eine Schar Kinder versammelt, wie er sein Brett niedersetzt und die Frucht in kleine Stuecke zu zerteilen anfaengt. Die Kaeufer spannen sehr ernsthaft, ob sie auch fuer ihr klein Stueckchen Kupfergeld genug erhalten sollen, und der kleine Handelsmann traktiert gegen die Begierigen die Sache ebenso bedaechtig, damit er ja nicht um ein Stueckchen betrogen werde. Ich bin ueberzeugt, dass man bei laengerem Aufenthalt noch manche Beispiele solches kindischen Erwerbes sammeln koennte.
Eine sehr grosse Anzahl von Menschen, teils mittlern Alters, teils Knaben, welche meistenteils sehr schlecht gekleidet sind, beschaeftigen sich, das Kehricht auf Eseln aus der Stadt zu bringen. Das naechste Feld um Neapel ist nur ein Kuechengarten, und es ist eine Freude, zu sehen, welche unsaegliche Menge von Kuechengewaechsen alle Markttage hereingeschafft wird und wie die Industrie der Menschen sogleich die ueberfluessigen, von den Koechen verworfenen Teile wieder in die Felder bringt, um den Zirkel der Vegetation zu beschleunigen. Bei der unglaublichen Konsumtion von Gemuese machen wirklich die Struenke und Blaetter von Blumenkohl, Broccoli, Artischocken, Kohl, Salat, Knoblauch einen grossen Teil des neapolitanischen Kehrichts aus; diesen wird denn auch besonders nachgestrebt. Zwei grosse biegsame Koerbe haengen auf dem Ruecken eines Esels und werden nicht allein ganz voll gefuellt, sondern noch auf jeden mit besonderer Kunst ein Haufen aufgetuermt. Kein Garten kann ohne einen solchen Esel bestehen. Ein Knecht, ein Knabe, manchmal der Patron selbst eilen des Tags so oft als moeglich nach der Stadt, die ihnen zu allen Stunden eine reiche Schatzgrube ist. Wie aufmerksam diese Sammler auf den Mist der Pferde und Maultiere sind, laesst sich denken. Ungern verlassen sie die Strasse, wenn es Nacht wird, und die Reichen, die nach Mitternacht aus der Oper fahren, denken wohl nicht, dass schon vor Anbruch des Tages ein emsiger Mensch sorgfaeltig die Spuren ihrer Pferde aufsuchen wird. Man hat mir versichert, dass ein paar solche Leute, die sich zusammentun, sich einen Esel kaufen und einem groessern Besitzer ein Stueckchen Krautland abpachten, durch anhaltenden Fleiss in dem gluecklichen Klima, in welchem die Vegetation niemals unterbrochen wird, es bald so weit bringen, dass sie ihr Gewerbe ansehnlich erweitern.
Ich wuerde zu weit aus meinem Wege gehen, wenn ich hier von der mannigfaltigen Kraemerei sprechen wollte, welche man mit Vergnuegen in Neapel wie in jedem andern grossen Orte bemerkt; allein ich muss doch hier von den Herumtraegern sprechen, weil sie der letztern Klasse des Volks besonders angehoeren. Einige gehen herum mit Faesschen Eiswasser, Glaesern und Zitronen, um ueberall gleich Limonade machen zu koennen, einen Trank, den auch der Geringste nicht zu entbehren vermag; andere mit Kredenztellern, auf welchen Flaschen mit verschiedenen Likoeren und Spitzglaesern in hoelzernen Ringen vor dem Fallen gesichert stehen; andere tragen Koerbe allerlei Backwerks, Naescherei, Zitronen und anderes Obst umher, und es scheint, als wolle jeder das grosse Fest des Genusses, das in Neapel alle Tage gefeiert wird, mitgeniessen und vermehren.
Wie diese Art Herumtraeger geschaeftig sind, so gibt es noch eine Menge kleine Kraemer, welche gleichfalls herumgehen und ohne viele Umstaende auf einem Brett, in einem Schachteldeckel ihre Kleinigkeiten, oder auf Plaetzen geradezu auf flacher Erde ihren Kram ausbieten. Da ist nicht von einzelnen Waren die Rede, die man auch in groessern Laeden faende, es ist der eigentliche Troedelkram. Kein Stueckchen Eisen, Leder, Tuch, Leinewand, Filz u. s. w., das nicht wieder als Troedelware zu Markte kaeme und das nicht wieder von einem oder dem andern gekauft wuerde. Noch sind viele Menschen der niedern Klasse bei Handelsleuten und Handwerkern als Beilaeufer und Handlanger beschaeftigt.
Es ist wahr, man tut nur wenig Schritte, ohne einem sehr uebelgekleideten, ja sogar einem zerlumpten Menschen zu begegnen, aber dies ist deswegen noch kein Faulenzer, kein Tagedieb! Ja, ich moechte fast das Paradoxon aufstellen, dass zu Neapel verhaeltnismaessig vielleicht noch die meiste Industrie in der ganz niedern Klasse zu finden sei. Freilich duerfen wir sie nicht mit einer nordischen Industrie vergleichen, die nicht allein fuer Tag und Stunde, sondern am guten und heitern Tage fuer den boesen und trueben, im Sommer fuer den Winter zu sorgen hat. Dadurch, dass der Nordlaender zur Vorsorge, zur Einrichtung von der Natur gezwungen wird, dass die Hausfrau einsalzen und raeuchern muss, um die Kueche das ganze Jahr zu versorgen, dass der Mann den Holz—und Fruchtvorrat, das Futter fuer das Vieh nicht aus der Acht lassen darf u. s. w., dadurch werden die schoensten Tage und Stunden dem Genuss entzogen und der Arbeit gewidmet. Mehrere Monate lang entfernt man sich gern aus der freien Luft und verwahrt sich in Haeusern vor Sturm, Regen, Schnee und Kaelte; unaufhaltsam folgen die Jahreszeiten aufeinander, und jeder, der nicht zugrunde gehen will, muss ein Haushaelter werden. Denn es ist hier gar nicht die Frage, ob er entbehren wolle; er darf nicht entbehren wollen, er kann nicht entbehren wollen, denn er kann nicht entbehren; die Natur zwingt ihn, zu schaffen, vorzuarbeiten. Gewiss haben diese Naturwirkungen, welche sich Jahrtausende gleich bleiben, den Charakter der in so manchem Betracht ehrwuerdigen nordischen Nationen bestimmt. Dagegen beurteilen wir die suedlichen Voelker, mit welchen der Himmel so gelinde umgegangen ist, aus unserm Gesichtspunkte zu streng. Was Herr von Pauw in seinen "Recherches sur les Grecs" bei Gelegenheit, da er von den zynischen Philosophen spricht, zu aeussern wagt, passt voellig hierher. Man mache sich, glaubt er, von dem elenden Zustande solcher Menschen nicht den richtigsten Begriff; ihr Grundsatz, alles zu entbehren, sei durch ein Klima sehr beguenstigt, das alles gewaehrt. Ein armer, uns elend scheinender Mensch koenne in den dortigen Gegenden die noetigsten und naechsten Beduerfnisse nicht allein befriedigen, sondern die Welt aufs schoenste geniessen; und ebenso moechte ein sogenannter neapolitanischer Bettler die Stelle eines Vizekoenigs in Norwegen leicht verschmaehen und die Ehre ausschlagen, wenn ihm die Kaiserin von Russland das Gouvernement von Sibirien uebertragen wollte.
Gewiss wuerde in unsern Gegenden ein zynischer Philosoph schlecht ausdauern, dahingegen in suedlichen Laendern die Natur gleichsam dazu einladet. Der zerlumpte Mensch ist dort noch nicht nackt; derjenige, der weder ein eigenes Haus hat, noch zur Miete wohnt, sondern im Sommer unter den ueberdaechern, auf den Schwellen der Palaeste und Kirchen, in oeffentlichen Hallen die Nacht zubringt und sich bei schlechtem Wetter irgendwo gegen ein geringes Schlafgeld untersteckt, ist deswegen noch nicht verstossen und elend; ein Mensch noch nicht arm, weil er nicht fuer den andern Tag gesorgt hat. Wenn man nur bedenkt, was das fischreiche Meer, von dessen Produkten sich jene Menschen gesetzmaessig einige Tage der Woche naehren muessen, fuer eine Masse von Nahrungsmitteln anbietet; wie allerlei Obst und Gartenfruechte zu jeder Jahreszeit in ueberfluss zu haben sind; wie die Gegend, worin Neapel liegt, den Namen Terra di Lavoro (nicht das Land der Arbeit, sondern das Land des Ackerbaues) sich verdienet hat und die ganze Provinz den Ehrentitel der gluecklichen Gegend (Campagna felice) schon Jahrhunderte traegt, so laesst sich wohl begreifen, wie leicht dort zu leben sein moege.
ueberhaupt wuerde jenes Paradoxon, welches ich oben gewagt habe, zu manchen Betrachtungen Anlass geben, wenn jemand ein ausfuehrliches Gemaelde von Neapel zu schreiben unternehmen sollte; wozu denn freilich kein geringes Talent und manches Jahr Beobachtung erforderlich sein moechte. Man wuerde alsdann im ganzen vielleicht bemerken, dass der sogenannte Lazarone nicht um ein Haar untaetiger ist als alle uebrigen Klassen, zugleich aber auch wahrnehmen, dass alle in ihrer Art nicht arbeiten, um bloss zu leben, sondern um zu geniessen, und dass sie sogar bei der Arbeit des Lebens froh werden wollen. Es erklaert sich hiedurch gar manches: dass die Handwerker beinahe durchaus gegen die nordischen Laender sehr zurueck sind; dass Fabriken nicht zustande kommen; dass ausser Sachwaltern und aerzten in Verhaeltnis zu der grossen Masse von Menschen wenig Gelehrsamkeit angetroffen wird, so verdiente Maenner sich auch im einzelnen bemuehen moegen; dass kein Maler der neapolitanischen Schule jemals gruendlich gewesen und gross geworden ist; dass sich die Geistlichen im Muessiggange am wohlsten sein lassen und auch die Grossen ihre Gueter meist nur in sinnlichen Freuden, Pracht und Zerstreuung geniessen moegen.
Ich weiss wohl, dass dies viel zu allgemein gesagt ist und dass die Charakterzuege jeder Klasse nur erst nach einer genauern Bekanntschaft und Beobachtung rein gezogen werden koennen, allein im ganzen wuerde man doch, glaube ich, auf diese Resultate treffen.
Ich kehre wieder zu dem geringen Volke in Neapel zurueck. Man bemerkt bei ihnen, wie bei frohen Kindern, denen man etwas auftraegt, dass sie zwar ihr Geschaeft verrichten, aber auch zugleich einen Scherz aus dem Geschaeft machen. Durchgaengig ist diese Klasse von Menschen eines sehr lebhaften Geistes und zeigt einen freien, richtigen Blick. Ihre Sprache soll figuerlich, ihr Witz sehr lebhaft und beissend sein. Das alte Atella lag in der Gegend von Neapel, und wie ihr geliebter Pulcinell noch jene Spiele fortsetzt, so nimmt die ganz gemeine Klasse von Menschen noch jetzt Anteil an dieser Laune.
Plinius im fuenften Kapitel des dritten Buchs seiner "Naturgeschichte" haelt Kampanien allein einer weitlaeufigen Beschreibung wert. "So gluecklich, anmutig, selig sind jene Gegenden", sagt er, "dass man erkennt, an diesem Ort habe die Natur sich ihres Werks erfreut. Denn diese Lebensluft, diese immer heilsame Milde des Himmels, so fruchtbare Felder, so sonnige Huegel, so unschaedliche Waldungen, so schattige Haine, so nutzbare Waelder, so luftige Berge, so ausgebreitete Saaten, solch eine Fuelle von Reben und oelbaeumen, so edle Wolle der Schafe, so fette Nacken der Stiere, so viel Seen, so ein Reichtum von durchwaessernden Fluessen und Quellen, so viele Meere, so viele Hafen! Die Erde selbst, die ihren Schoss ueberall dem Handel eroeffnet und, gleichsam dem Menschen nachzuhelfen begierig, ihre Arme in das Meer hinausstreckt.
Ich erwaehne nicht die Faehigkeiten der Menschen, ihre Gebraeuche, ihre Kraefte und wie viele Voelker sie durch Sprache und Hand ueberwunden haben.
Von diesem Lande faellten die Griechen, ein Volk, das sich selbst unmaessig zu ruehmen pflegte, das ehrenvollste Urteil, indem sie einen Teil davon Grossgriechenland nannten."
Neapel, den 29. Mai 1787
Eine ausgezeichnete Froehlichkeit erblickt man ueberall mit dem groessten teilnehmenden Vergnuegen. Die vielfarbigen bunten Blumen und Fruechte, mit welchen die Natur sich ziert, scheinen den Menschen einzuladen, sich und alle seine Geraetschaften mit so hohen Farben als moeglich auszuputzen. Seidene Tuecher und Binden, Blumen auf den Hueten schmuecken einen jeden, der es einigermassen vermag. Stuehle und Kommoden in den geringsten Haeusern sind auf vergoldetem Grund mit bunten Blumen geziert; sogar die einspaennigen Kaleschen hochrot angestrichen, das Schnitzwerk vergoldet, die Pferde davor mit gemachten Blumen, hochroten Quasten und Rauschgold ausgeputzt. Manche haben Federbuesche, andere sogar kleine Faehnchen auf den Koepfen, die sich im Laufe nach jeder Bewegung drehen. Wir pflegen gewoehnlich die Liebhaberei zu bunten Farben barbarisch und geschmacklos zu nennen, sie kann es auch auf gewisse Weise sein und werden, allein unter einem recht heitern und blauen Himmel ist eigentlich nichts bunt, denn nichts vermag den Glanz der Sonne und ihren Widerschein im Meer zu ueberstrahlen. Die lebhafteste Farbe wird durch das gewaltige Licht gedaempft, und weil alle Farben, jedes Gruen der Baeume und Pflanzen, das gelbe, braune, rote Erdreich in voelliger Kraft auf das Auge wirken, so treten dadurch selbst die farbigen Blumen und Kleider in die allgemeine Harmonie. Die scharlachnen Westen und Roecke der Weiber von Nettuno, mit breitem Gold und Silber besetzt, die andern farbigen Nationaltrachten, die gemalten Schiffe, alles scheint sich zu beeifern, unter dem Glanze des Himmels und des Meeres einigermassen sichtbar zu werden.
Und wie sie leben, so begraben sie auch ihre Toten; da stoert kein schwarzer, langsamer Zug die Harmonie der lustigen Welt.
Ich sah ein Kind zu Grabe tragen. Ein rotsammetner, grosser, mit Gold breit gestickter Teppich ueberdeckte eine breite Bahre, darauf stand ein geschnitztes, stark vergoldetes und versilbertes Kaestchen, worin das weissgekleidete Tote mit rosenfarbnen Baendern ganz ueberdeckt lag. Auf den vier Ecken des Kaestchens waren vier Engel, ungefaehr jeder zwei Fuss hoch, angebracht, welche grosse Blumenbueschel ueber das ruhende Kind hielten, und, weil sie unten nur an Draehten befestigt waren, sowie die Bahre sich bewegte, wackelten und mild belebende Blumengerueche auszustreuen schienen. Die Engel schwankten um desto heftiger, als der Zug sehr ueber die Strassen wegeilte und die vorangehenden Priester und die Kerzentraeger mehr liefen als gingen.
Es ist keine Jahreszeit, wo man sich nicht ueberall von Esswaren umgeben saehe, und der Neapolitaner freut sich nicht allein des Essens, sondern er will auch, dass die Ware zum Verkauf schoen aufgeputzt sei.
Bei Santa Lucia sind die Fische nach ihren Gattungen meist in reinlichen und artigen Koerben, Krebse, Austern, Scheiden, kleine Muscheln, jedes besonders aufgetischt und mit gruenen Blaettern unterlegt. Die Laeden von getrocknetem Obst und Huelsenfruechten sind auf das mannigfaltigste herausgeputzt. Die ausgebreiteten Pomeranzen und Zitronen von allen Sorten, mit dazwischen hervorstechendem gruenem Laub, dem Auge sehr erfreulich. Aber nirgends putzen sie mehr als bei den Fleischwaren, nach welchen das Auge des Volks besonders luestern gerichtet ist, weil der Appetit durch periodisches Entbehren nur mehr gereizt wird.
In den Fleischbaenken haengen die Teile der Ochsen, Kaelber, Schoepse niemals aus, ohne dass neben dem Fett zugleich die Seite oder die Keule stark vergoldet sei. Es sind verschiedne Tage im Jahr, besonders die Weihnachtsfeiertage, als Schmausfeste beruehmt; alsdann feiert man eine allgemeine Cocagna, wozu sich fuenfhunderttausend Menschen das Wort gegeben haben. Dann ist aber auch die Strasse Toledo und neben ihr mehrere Strassen und Plaetze auf das appetitlichste verziert. Die Butiken, wo gruene Sachen verkauft werden, wo Rosinen, Melonen und Feigen aufgesetzt sind, erfreuen das Auge auf das allerangenehmste. Die Esswaren haengen in Girlanden ueber die Strassen hinueber; grosse Paternoster von vergoldeten, mit roten Baendern geschnuerten Wuersten; welsche Haehne, welche alle eine rote Fahne unter dem Buerzel stecken haben. Man versicherte, dass deren dreissigtausend verkauft worden, ohne die zu rechnen, welche die Leute im Hause gemaestet hatten. Ausser diesem werden noch eine Menge Esel, mit gruener Ware, Kapaunen und jungen Laemmern beladen, durch die Stadt und ueber den Markt getrieben, und die Haufen Eier, welche man hier und da sieht, sind so gross, dass man sich ihrer niemals so viel beisammen gedacht hat. Und nicht genug, dass alles dieses verzehret wird: alle Jahre reitet ein Polizeidiener mit einem Trompeter durch die Stadt und verkuendet auf allen Plaetzen und Kreuzwegen, wieviel tausend Ochsen, Kaelber, Laemmer, Schweine u. s. w. der Neapolitaner verzehrt habe. Das Volk hoeret aufmerksam zu, freut sich unmaessig ueber die grossen Zahlen, und jeder erinnert sich des Anteils an diesem Genusse mit Vergnuegen.
Was die Mehl—und Milchspeisen betrifft, welche unsere Koechinnen so mannigfaltig zu bereiten wissen, ist fuer jenes Volk, das sich in dergleichen Dingen gerne kurz fasst und keine wohleingerichtete Kueche hat, doppelt gesorgt. Die Makkaroni, ein zarter, stark durchgearbeiteter, gekochter, in gewisse Gestalten gepresster Teig von feinem Mehle, sind von allen Sorten ueberall um ein geringes zu haben. Sie werden meistens nur in Wasser abgekocht, und der geriebene Kaese schmaelzt und wuerzt zugleich die Schuessel. Fast an der Ecke jeder grossen Strasse sind die Backwerkverfertiger mit ihren Pfannen voll siedenden oels, besonders an Fasttagen, beschaeftigt, Fische und Backwerk einem jeden nach seinem Verlangen sogleich zu bereiten. Diese Leute haben einen unglaublichen Abgang, und viele tausend Menschen tragen ihr Mittag—und Abendessen von da auf einem Stueckchen Papier davon.
Neapel, den 30. Mai 1787.
Nachts durch die Stadt spazierend, gelangt’ ich zum Molo. Dort sah ich mit einem Blick den Mond, den Schein desselben auf den Wolkensaeumen, den sanft bewegten Abglanz im Meere, heller und lebhafter auf dem Saum der naechsten Welle. Und nun die Sterne des Himmels, die Lampen des Leuchtturms, das Feuer des Vesuvs, den Widerschein davon im Wasser und viele einzelne Lichter ausgesaet ueber die Schiffe. Eine so mannigfaltige Aufgabe haett’ ich wohl von Van der Neer geloest sehen moegen.
Neapel, Donnerstag, den 31. Mai 1787.
Ich hatte das roemische Fronleichnamfest und dabei besonders die nach Raffael gewirkten Teppiche so fest in den Sinn gefasst, dass ich mich alle diese herrlichen Naturerscheinungen, ob sie schon in der Welt ihresgleichen nicht haben koennen, keineswegs irren liess, sondern die Anstalten zur Reise hartnaeckig fortsetzte. Ein Pass war bestellt, ein Vetturin hatte mir den Mietpfennig gegeben; denn es geschieht dort zur Sicherheit der Reisenden umgekehrt als bei, uns. Kniep war beschaeftigt, sein neues Quartier zu beziehen, an Raum und Lage viel besser als das vorige.
Schon frueher, als diese Veraenderung im Werke war, hatte mir der Freund einigemal zu bedenken gegeben, es sei doch unangenehm und gewissermassen unanstaendig, wenn man in ein Haus ziehe und gar nichts mitbringe; selbst ein Bettgestell floesse den Wirtsleuten schon einigen Respekt ein. Als wir nun heute durch den unendlichen Troedel der Kastellweitung hindurchgingen, sah ich so ein paar eiserne Gestelle, bronzeartig angestrichen, welche ich sogleich feilschte und meinem Freund als kuenftigen Grund zu einer ruhigen und soliden Schlafstaette verehrte. Einer der allezeit fertigen Traeger brachte sie nebst den erforderlichen Brettern in das neue Quartier, welche Anstalt Kniepen so sehr freute, dass er sogleich von mir weg und hier einzuziehen gedachte, grosse Reissbretter, Papier und alles Noetige schnell anzuschaffen besorgt war. Einen Teil der Konturen, in beiden Sizilien gezogen, uebergab ich ihm nach unserer Verabredung.
Neapel, den 1. Juni 1787.
Die Ankunft des Marquis Lucchesini hat meine Abreise auf einige Tage weiter geschoben; ich habe viel Freude gehabt, ihn kennen zu lernen. Er scheint mir einer von denen Menschen zu sein, die einen guten moralischen Magen haben, um an dem grossen Welttische immer mitgeniessen zu koennen; anstatt dass unsereiner wie ein wiederkaeuendes Tier sich zuzeiten ueberfuellt und dann nichts weiter zu sich nehmen kann, bis er eine wiederholte Kauung und Verdauung geendigt hat. Sie gefaellt mir auch recht wohl, sie ist ein wackres deutsches Wesen.
Ich gehe nun gern aus Neapel, ja, ich muss fort. Diese letzten Tage ueberliess ich mich der Gefaelligkeit, Menschen zu sehen; ich habe meist interessante Personen kennen lernen und bin mit den Stunden, die ich ihnen gewidmet, sehr zufrieden, aber noch vierzehn Tage, so haette es mich weiter und weiter und abwaerts von meinem Zwecke gefuehrt. Und dann wird man hier immer untaetiger. Seit meiner Rueckkunft von Paestum habe ich ausser den Schaetzen von Portici wenig gesehen, und es bleibt mir manches zurueck, um dessentwillen ich nicht den Fuss aufheben mag. Aber jenes Museum ist auch das A und W aller Antiquitaetensammlungen; da sieht man recht, was die alte Welt an freudigem Kunstsinn voraus war, wenn sie gleich in strenger Handwerksfertigkeit weit hinter uns zurueckblieb.
Zum 1. Juni 1787.
Der Lohnbediente, welcher mir den ausgefertigten Pass zustellte, erzaehlte zugleich, meine Abreise bedauernd, dass eine starke Lava, aus dem Vesuv hervorgebrochen, ihren Weg nach dem Meere zu nehme; an steileren Abhaengen des Berges sei sie beinahe schon herab und koenne wohl in einigen Tagen das Ufer erreichen. Nun befand ich mich in der groessten Klemme. Der heutige Tag ging auf Abschiedsbesuche hin, die ich so vielen wohlwollenden und befoerdernden Personen schuldig war; wie es mir morgen ergehen wird, sehe ich schon. Einmal kann man sich auf seinem Wege den Menschen doch nicht voellig entziehen, was sie uns aber auch nutzen und zu geniessen geben, sie reissen uns doch zuletzt von unsern ernstlichen Zwecken zur Seite hin, ohne dass wir die ihrigen foerdern. Ich bin aeusserst verdriesslich.
Abends.
Auch meine Dankbesuche waren nicht ohne Freude und Belehrung, man zeigte mir noch manches freundlich vor, was man bisher verschoben oder versaeumt. Cavaliere Venuti liess mich sogar noch verborgene Schaetze sehen. Ich betrachtete abermals mit grosser Verehrung seinen, obgleich verstuemmelten, doch unschaetzbaren Ulysses. Er fuehrte mich zum Abschied in die Porzellanfabrik, wo ich mir den Herkules moeglichst einpraegte und mir an den kampanischen Gefaessen die Augen noch einmal recht voll sah.
Wahrhaft geruehrt und freundschaftlich Abschied nehmend, vertraute er mir dann noch zuletzt, wo ihn eigentlich der Schuh druecke, und wuenschte nichts mehr, als dass ich noch eine Zeitlang mit ihm verweilen koennte. Mein Bankier, bei dem ich gegen Tischzeit eintraf, liess mich nicht los; das waere nun alles schoen und gut gewesen, haette nicht die Lava meine Einbildungskraft an sich gezogen. Unter mancherlei Beschaeftigungen, Zahlungen und Einpacken kam die Nacht heran, ich aber eilte schnell nach dem Molo.
Hier sah ich nun alle die Feuer und Lichter und ihre Widerscheine, nur bei bewegtem Meer noch schwankender; den Vollmond in seiner ganzen Herrlichkeit neben dem Spruehfeuer des Vulkans, und nun die Lava, die neulich fehlte, auf ihrem gluehenden ernsten Wege. Ich haette noch hinausfahren sollen, aber die Anstalten waren zu weitschichtig, ich waere erst am Morgen dort angekommen. Den Anblick, wie ich ihn genoss, wollte ich mir durch Ungeduld nicht verderben, ich blieb auf dem Molo sitzen, bis mir ungeachtet des Zu—und Abstroemens der Menge, ihres Deutens, Erzaehlens, Vergleichens, Streitens, wohin die Lava stroemen werde, und was dergleichen Unfug noch mehr sein mochte, die Augen zufallen wollten.
Neapel, Sonnabend, den 2. Juni 1787.
Und so haette ich auch diesen schoenen Tag zwar mit vorzueglichen Personen vergnueglich und nuetzlich, aber doch ganz gegen meine Absichten und mit schwerem Herzen zugebracht. Sehnsuchtsvoll blickte ich nach dem Dampfe, der, den Berg herab langsam nach dem Meer ziehend, den Weg bezeichnete, welchen die Lava stuendlich nahm. Auch der Abend sollte nicht frei sein. Ich hatte versprochen, die Herzogin von Giovane zu besuchen, die auf dem Schlosse wohnte, wo man mich denn viele Stufen hinauf durch manche Gaenge wandern liess, deren oberste verengt waren durch Kisten, Schraenke und alles Missfaellige eines Hofgarderobewesens. Ich fand in einem grossen und hohen Zimmer, das keine sonderliche Aussicht hatte, eine wohlgestaltete junge Dame von sehr zarter und sittlicher Unterhaltung. Als einer gebornen Deutschen war ihr nicht unbekannt, wie sich unsere Literatur zu einer freieren, weit umherblickenden Humanitaet gebildet; Herders Bemuehungen und was ihnen aehnelte, schaetzte sie vorzueglich, auch Garvens reiner Verstand hatte ihr aufs innigste zugesagt. Mit den deutschen Schriftstellerinnen suchte sie gleichen Schritt zu halten, und es liess sich wohl bemerken, dass es ihr Wunsch sei, eine geuebte und belobte Feder zu fuehren. Dahin bezogen sich ihre Gespraeche und verrieten zugleich die Absicht, auf die Toechter des hoechsten Standes zu wirken; ein solches Gespraech kennt keine Grenzen. Die Daemmerung war schon eingebrochen, und man hatte noch keine Kerzen gebracht. Wir gingen im Zimmer auf und ab, und sie, einer durch Laeden verschlossenen Fensterseite sich naehernd, stiess einen Laden auf, und ich erblickte, was man in seinem Leben nur einmal sieht. Tat sie es absichtlich, mich zu ueberraschen, so erreichte sie ihren Zweck vollkommen. Wir standen an einem Fenster des oberen Geschosses, der Vesuv gerade vor uns; die herabfliessende Lava, deren Flamme bei laengst niedergegangener Sonne schon deutlich gluehte und ihren begleitenden Rauch schon zu vergolden anfing; der Berg gewaltsam tobend, ueber ihm eine ungeheure feststehende Dampfwolke, ihre verschiedenen Massen bei jedem Auswurf blitzartig gesondert und koerperhaft erleuchtet. Von da herab bis gegen das Meer ein Streif von Gluten und gluehenden Duensten; uebrigens Meer und Erde, Fels und Wachstum deutlich in der Abenddaemmerung, klar, friedlich, in einer zauberhaften Ruhe. Dies alles mit einem Blick zu uebersehen und den hinter dem Bergruecken hervortretenden Vollmond als die Erfuellung des wunderbarsten Bildes zu schauen, musste wohl Erstaunen erregen.
Dies alles konnte von diesem Standpunkt das Auge mit einmal fassen, und wenn es auch die einzelnen Gegenstaende zu mustern nicht imstande war, so verlor es doch niemals den Eindruck des grossen Ganzen. War unser Gespraech durch dieses Schauspiel unterbrochen, so nahm es eine desto gemuetlichere Wendung. Wir hatten nun einen Text vor uns, welchen Jahrtausende zu kommentieren nicht hinreichen. Je mehr die Nacht wuchs, desto mehr schien die Gegend an Klarheit zu gewinnen; der Mond leuchtete wie eine zweite Sonne; die Saeulen des Rauchs, dessen Streifen und Massen durchleuchtet bis ins einzelne deutlich, ja, man glaubte mit halbweg bewaffnetem Auge die gluehend ausgeworfenen Felsklumpen auf der Nacht des Kegelberges zu unterscheiden. Meine Wirtin, so will ich sie nennen, weil mir nicht leicht ein koestlichers Abendmahl zubereitet war, liess die Kerzen an die Gegenseite des Zimmers stellen, und die schoene Frau, vom Monde beleuchtet, als Vordergrund dieses unglaublichen Bildes, schien mir immer schoener zu werden, ja ihre Lieblichkeit vermehrte sich besonders dadurch, dass ich in diesem suedlichen Paradiese eine sehr angenehme deutsche Mundart vernahm. Ich vergass, wie spaet es war, so dass sie mich zuletzt aufmerksam machte, sie muesse mich, wiewohl ungerne, entlassen, die Stunde nahe schon, wo ihre Galerien klostermaessig verschlossen wuerden. Und so schied ich zaudernd von der Ferne und von der Naehe, mein Geschick segnend, das mich fuer die widerwillige Artigkeit des Tages noch schoen am Abend belohnt hatte. Unter den freien Himmel gelangt, sagte ich mir vor, dass ich in der Naehe dieser groessern Lava doch nur die Wiederholung jener kleinern wuerde gesehen haben, und dass mir ein solcher ueberblick, ein solcher Abschied aus Neapel nicht anders als auf diese Weise haette werden koennen. Anstatt nach Hause zu gehen, richtete ich meine Schritte nach dem Molo, um das grosse Schauspiel mit einem andern Vordergrund zu sehen; aber ich weiss nicht, ob die Ermuedung nach einem so reichen Tage oder ein Gefuehl, dass man das letzte, schoene Bild nicht verwischen muesse, mich wieder nach Moriconi zurueckzog, wo ich denn auch Kniepen fand, der aus seinem neu bezognen Quartier mir einen Abendbesuch abstattete. Bei einer Flasche Wein besprachen wir unsere kuenftigen Verhaeltnisse; ich konnte ihm zusagen, dass er, sobald ich etwas von seinen Arbeiten in Deutschland vorzeigen koenne, gewiss dem trefflichen Herzog Ernst von Gotha empfohlen sein und von dort Bestellungen erhalten wuerde. Und so schieden wir mit herzlicher Freude, mit sicherer Aussicht kuenftiger wechselseitig wirkender Taetigkeit.
Neapel, Sonntag, den 3. Juni 1787. Dreieinigkeitsfest.
Und so fuhr ich denn durch das unendliche Leben dieser unvergleichlichen Stadt, die ich wahrscheinlich nicht wiedersehen sollte, halb betaeubt hinaus; vergnuegt jedoch, dass weder Reue noch Schmerz hinter mir blieb. Ich dachte an den guten Kniep und gelobte ihm auch in der Ferne meine beste Vorsorge.
An den aeussersten Polizeischranken der Vorstadt stoerte mich einen Augenblick ein Marqueur, der mir freundlich ins Gesicht sah, aber schnell wieder hinwegsprang. Die Zollmaenner waren noch nicht mit dem Vetturin fertig geworden, als aus der Kaffeebudentuere, die groesste chinesische Tasse voll schwarzen Kaffee auf einem Praesentierteller tragend, Kniep heraustrat. Er nahte sich dem Wagenschlag langsam mit einem Ernst, der, von Herzen gehend, ihn sehr gut kleidete. Ich war erstaunt und geruehrt, eine solche erkenntliche Aufmerksamkeit hat nicht ihresgleichen. "Sie haben", sagte er, "mir so viel Liebes und Gutes, auf mein ganzes Leben Wirksames erzeigt, dass ich Ihnen hier ein Gleichnis anbieten moechte, was ich Ihnen verdanke."
Da ich in solchen Gelegenheiten ohnehin keine Sprache habe, so brachte ich nur sehr lakonisch vor, dass er durch seine Taetigkeit mich schon zum Schuldner gemacht und durch Benutzung und Bearbeitung unserer gemeinsamen Schaetze mich noch immer mehr verbinden werde.
Wir schieden, wie Personen selten voneinander scheiden, die sich zufaellig auf kurze Zeit verbunden. Vielleicht haette man viel mehr Dank und Vorteil vom Leben, wenn man sich wechselsweise gerade heraus spraeche, was man voneinander erwartet. Ist das geleistet, so sind beide Teile zufrieden, und das Gemuetliche, was das Erste und Letzte von allem ist, erscheint als reine Zugabe.
Unterwegs, am 4., 5. und 6. Juni.
Da ich diesmal allein reise, habe ich Zeit genug, die Eindruecke der vergangenen Monate wieder hervorzurufen; es geschieht mit vielem Behagen. Und doch tritt gar oft das Lueckenhafte der Bemerkungen hervor, und wenn die Reise dem, der sie vollbracht hat, in einem Flusse vorueberzuziehen scheint und in der Einbildungskraft als eine stetige Folge hervortritt, so fuehlt man doch, dass eine eigentliche Mitteilung unmoeglich sei. Der Erzaehlende muss alles einzeln hinstellen: wie soll daraus in der Seele des Dritten ein Ganzes gebildet werden?
Deshalb konnte mir nichts Troestlicheres und Erfreulicheres begegnen als die Versicherungen eurer letzten Briefe, dass ihr euch fleissig mit Italien und Sizilien beschaeftigt, Reisebeschreibungen leset und Kupferwerke betrachtet; das Zeugnis, dass dadurch meine Briefe gewinnen, ist mein hoechster Trost. Haettet ihr es frueher getan oder ausgesprochen, ich waere noch eifriger gewesen, als ich war. Dass treffliche Maenner wie Bartels, Muenter, Architekten verschiedener Nationen vor mir hergingen, die gewiss aeussere Zwecke sorgfaeltiger verfolgten als ich, der ich nur die innerlichsten im Auge hatte, hat mich oft beruhigt, wenn ich alle meine Bemuehungen fuer unzulaenglich halten musste.
Ueberhaupt, wenn jeder Mensch nur als ein Supplement aller uebrigen zu betrachten ist und am nuetzlichsten und liebenswuerdigsten erscheint, wenn er sich als einen solchen gibt, so muss dieses vorzueglich von Reiseberichten und Reisenden gueltig sein. Persoenlichkeit, Zwecke, Zeitverhaeltnisse, Gunst und Ungunst der Zufaelligkeiten, alles zeigt sich bei einem jeden anders. Kenn’ ich seine Vorgaenger, so werd’ ich auch an ihm mich freuen, mich mit ihm behelfen, seinen Nachfolger erwarten und diesem, waere mir sogar inzwischen das Glueck geworden, die Gegend selbst zu besuchen, gleichfalls freundlich begegnen.