IV. Buch, Funfzehntes Kapitel
Den naechsten Morgen gedachte Wilhelm Madame Melina zu besuchen; er fand sie nicht zu Hause, fragte nach den uebrigen Gliedern der wandernden Gesellschaft und erfuhr, Philine habe sie zum Fruehstueck eingeladen. Aus Neugier eilte er hin und traf sie alle sehr aufgeraeumt und getroestet. Das kluge Geschoepf hatte sie versammelt, sie mit Schokolade bewirtet und ihnen zu verstehen gegeben, noch sei nicht alle Aussicht versperrt; sie hoffe durch ihren Einfluss den Direktor zu ueberzeugen, wie vorteilhaft es ihm sei, so geschickte Leute in seine Gesellschaft aufzunehmen. Sie hoerten ihr aufmerksam zu, schluerften eine Tasse nach der andern hinunter, fanden das Maedchen gar nicht uebel und nahmen sich vor, das Beste von ihr zu reden.
"Glauben Sie denn", sagte Wilhelm, der mit Philinen allein geblieben war, "dass Serlo sich noch entschliessen werde, unsre Gefaehrten zu behalten?"—"Mitnichten", versetzte Philine, "es ist mir auch gar nichts daran gelegen; ich wollte, sie waeren je eher je lieber fort! Den einzigen Laertes wuenscht ich zu behalten; die uebrigen wollen wir schon nach und nach beiseite bringen."
Hierauf gab sie ihrem Freunde zu verstehen, dass sie gewiss ueberzeugt sei, er werde nunmehr sein Talent nicht laenger vergraben, sondern unter Direktion eines Serlo aufs Theater gehen. Sie konnte die Ordnung, den Geschmack, den Geist, der hier herrsche, nicht genug ruehmen; sie sprach so schmeichelnd zu unserm Freunde, so schmeichelhaft von seinen Talenten, dass sein Herz und seine Einbildungskraft sich ebensosehr diesem Vorschlage naeherten, als sein Verstand und seine Vernunft sich davon entfernten. Er verbarg seine Neigung vor sich selbst und vor Philinen und brachte einen unruhigen Tag zu, an dem er sich nicht entschliessen konnte, zu seinen Handelskorrespondenten zu gehen und die Briefe, die dort fuer ihn liegen moechten, abzuholen. Denn ob er sich gleich die Unruhe der Seinigen diese Zeit ueber vorstellen konnte, so scheute er sich doch, ihre Sorgen und Vorwuerfe umstaendlich zu erfahren, um so mehr, da er sich einen grossen und reinen Genuss diesen Abend von der Auffuehrung eines neuen Stuecks versprach.
Serlo hatte sich geweigert, ihn bei der Probe zuzulassen. "Sie muessen uns", sagte er, "erst von der besten Seite kennenlernen, eh wir zugeben, dass Sie uns in die Karte sehen."
Mit der groessten Zufriedenheit wohnte aber auch unser Freund den Abend darauf der Vorstellung bei. Es war das erste Mal, dass er ein Theater in solcher Vollkommenheit sah. Man traute saemtlichen Schauspielern fuertreffliche Gaben, glueckliche Anlagen und einen hohen und klaren Begriff von ihrer Kunst zu, und doch waren sie einander nicht gleich; aber sie hielten und trugen sich wechselsweise, feuerten einander an und waren in ihrem ganzen Spiele sehr bestimmt und genau. Man fuehlte bald, dass Serlo die Seele des Ganzen war, und er zeichnete sich sehr zu seinem Vorteil aus. Eine heitere Laune, eine gemaessigte Lebhaftigkeit, ein bestimmtes Gefuehl des Schicklichen bei einer grossen Gabe der Nachahmung musste man an ihm, wie er aufs Theater trat, wie er den Mund oeffnete, bewundern. Die innere Behaglichkeit seines Daseins schien sich ueber alle Zuhoerer auszubreiten, und die geistreiche Art, mit der er die feinsten Schattierungen der Rollen leicht und gefaellig ausdrueckte, erweckte um soviel mehr Freude, als er die Kunst zu verbergen wusste, die er sich durch eine anhaltende uebung eigen gemacht hatte.
Seine Schwester Aurelie blieb nicht hinter ihm und erhielt noch groesseren Beifall, indem sie die Gemueter der Menschen ruehrte, die er zu erheitern und zu erfreuen so sehr imstande war.
Nach einigen Tagen, die auf eine angenehme Weise zugebracht wurden, verlangte Aurelie nach unserm Freund. Er eilte zu ihr und fand sie auf dem Kanapee liegen; sie schien an Kopfweh zu leiden, und ihr ganzes Wesen konnte eine fieberhafte Bewegung nicht verbergen. Ihr Auge erheiterte sich, als sie den Hereintretenden ansah. "Vergeben Sie!" rief sie ihm entgegen; "das Zutrauen, das Sie mir einfloessten, hat mich schwach gemacht. Bisher konnt ich mich mit meinen Schmerzen im stillen unterhalten, ja sie gaben mir Staerke und Trost; nun haben Sie, ich weiss nicht, wie es zugegangen ist, die Bande der Verschwiegenheit geloest, und Sie werden nun selbst wider Willen teil an dem Kampfe nehmen, den ich gegen mich selbst streite."
Wilhelm antwortete ihr freundlich und verbindlich. Er versicherte, dass ihr Bild und ihre Schmerzen ihm bestaendig vor der Seele geschwebt, dass er sie um ihr Vertrauen bitte, dass er sich ihr zum Freund widme.
Indem er so sprach, wurden seine Augen von dem Knaben angezogen, der vor ihr auf der Erde sass und allerlei Spielwerk durcheinanderwarf. Er mochte, wie Philine schon angegeben, ungefaehr drei Jahre alt sein, und Wilhelm verstand nun erst, warum das leichtfertige, in ihren Ausdruecken selten erhabene Maedchen den Knaben der Sonne verglichen. Denn um die offnen Augen und das volle Gesicht kraeuselten sich die schoensten goldnen Locken, an einer blendendweissen Stirne zeigten sich zarte, dunkle, sanftgebogene Augenbrauen, und die lebhafte Farbe der Gesundheit glaenzte auf seinen Wangen. "Setzen Sie sich zu mir", sagte Aurelie; "Sie sehen das glueckliche Kind mit Verwunderung an; gewiss, ich habe es mit Freuden auf meine Arme genommen, ich bewahre es mit Sorgfalt; nur kann ich auch recht an ihm den Grad meiner Schmerzen erkennen, denn sie lassen mich den Wert einer solchen Gabe nur selten empfinden.
Erlauben Sie mir", fuhr sie fort, "dass ich nun auch von mir und meinem Schicksale rede; denn es ist mir sehr daran gelegen, dass Sie mich nicht verkennen. Ich glaubte einige gelassene Augenblicke zu haben, darum liess ich Sie rufen; Sie sind nun da, und ich habe meinen Faden verloren.
"Ein verlassnes Geschoepf mehr in der Welt!" werden Sie sagen. Sie sind ein Mann und denken: "Wie gebaerdet sie sich bei einem notwendigen uebel, das gewisser als der Tod ueber einem Weibe schwebt, bei der Untreue eines Mannes, die Toerin!"—O mein Freund, waere mein Schicksal gemein, ich wollte gern gemeines uebel ertragen; aber es ist so ausserordentlich; warum kann ich’s Ihnen nicht im Spiegel zeigen, warum nicht jemand auftragen, es Ihnen zu erzaehlen! O waere, waere ich verfuehrt, ueberrascht und dann verlassen, dann wuerde in der Verzweiflung noch Trost sein; aber ich bin weit schlimmer daran, ich habe mich selbst hintergangen, mich selbst wider Wissen betrogen, das ist’s, was ich mir niemals verzeihen kann."
"Bei edlen Gesinnungen, wie die Ihrigen sind", versetzte der Freund, "koennen Sie nicht ganz ungluecklich sein."
"Und wissen Sie, wem ich meine Gesinnung schuldig bin?" fragte Aurelie, "der allerschlechtesten Erziehung, durch die jemals ein Maedchen haette verderbt werden sollen, dem schlimmsten Beispiele, um Sinne und Neigung zu verfuehren.
Nach dem fruehzeitigen Tode meiner Mutter bracht ich die schoensten Jahre der Entwicklung bei einer Tante zu, die sich zum Gesetz machte, die Gesetze der Ehrbarkeit zu verachten. Blindlings ueberliess sie sich einer jeden Neigung, sie mochte ueber den Gegenstand gebieten oder sein Sklav’ sein, wenn sie nur im wilden Genuss ihrer selbst vergessen konnte.
Was mussten wir Kinder mit dem reinen und deutlichen Blick der Unschuld uns fuer Begriffe von dem maennlichen Geschlechte machen? Wie dumpf, dringend, dreist, ungeschickt war jeder, den sie herbeireizte; wie satt, uebermuetig, leer und abgeschmackt dagegen, sobald er seiner Wuensche Befriedigung gefunden hatte. So hab ich diese Frau jahrelang unter dem Gebote der schlechtesten Menschen erniedrigt gesehen; was fuer Begegnungen musste sie erdulden, und mit welcher Stirne wusste sie sich in ihr Schicksal zu finden, ja mit welcher Art diese schaendlichen Fesseln zu tragen!
So lernte ich Ihr Geschlecht kennen, mein Freund, und wie rein hasste ich’s, da ich zu bemerken schien, dass selbst leidliche Maenner im Verhaeltnis gegen das unsrige jedem guten Gefuehl zu entsagen schienen, zu dem sie die Natur sonst noch mochte faehig gemacht haben.
Leider musst ich auch bei solchen Gelegenheiten viel traurige Erfahrungen ueber mein eigen Geschlecht machen, und wahrhaftig, als Maedchen von sechzehn Jahren war ich klueger, als ich jetzt bin, jetzt, da ich mich selbst kaum verstehe. Warum sind wir so klug, wenn wir jung sind, so klug, um immer toerichter zu werden!"
Der Knabe machte Laerm, Aurelie ward ungeduldig und klingelte. Ein altes Weib kam herein, ihn wegzuholen. "Hast du noch immer Zahnweh?" sagte Aurelie zu der Alten, die das Gesicht verbunden hatte. "Fast unleidliches", versetzte diese mit dumpfer Stimme, hob den Knaben auf, der gerne mitzugehen schien, und brachte ihn weg.
Kaum war das Kind beiseite, als Aurelie bitterlich zu weinen anfing. "Ich kann nichts als jammern und klagen", rief sie aus, "und ich schaeme mich, wie ein armer Wurm vor Ihnen zu liegen. Meine Besonnenheit ist schon weg, und ich kann nicht mehr erzaehlen." Sie stockte und schwieg. Ihr Freund, der nichts Allgemeines sagen wollte und nichts Besonderes zu sagen wusste, drueckte ihre Hand und sah sie eine Zeitlang an. Endlich nahm er in der Verlegenheit ein Buch auf, das er vor sich auf dem Tischchen liegen fand; es waren Shakespeares Werke und "Hamlet" aufgeschlagen.
Serlo, der eben zur Tuer hereinkam, nach dem Befinden seiner Schwester fragte, schaute in das Buch, das unser Freund in der Hand hielt, und rief aus: "Find ich Sie wieder ueber Ihrem "Hamlet"? Eben recht! Es sind mir gar manche Zweifel aufgestossen, die das kanonische Ansehn, das Sie dem Stuecke so gerne geben moechten, sehr zu vermindern scheinen. Haben doch die Englaender selbst bekannt, dass das Hauptinteresse sich mit dem dritten Akt schloesse, dass die zwei letzten Akte nur kuemmerlich das Ganze zusammenhielten; und es ist doch wahr, das Stueck will gegen das Ende weder gehen noch ruecken."
"Es ist sehr moeglich", sagte Wilhelm, "dass einige Glieder einer Nation, die so viel Meisterstuecke aufzuweisen hat, durch Vorurteile und Beschraenktheit auf falsche Urteile geleitet werden; aber das kann uns nicht hindern, mit eignen Augen zu sehen und gerecht zu sein. Ich bin weit entfernt, den Plan dieses Stuecks zu tadeln, ich glaube vielmehr, dass kein groesserer ersonnen worden sei; ja, er ist nicht ersonnen, es ist so."
"Wie wollen Sie das auslegen?" fragte Serlo.
"Ich will nichts auslegen", versetzte Wilhelm, "ich will Ihnen nur vorstellen, was ich mir denke."
Aurelie hob sich von ihrem Kissen auf, stuetzte sich auf ihre Hand und sah unsern Freund an, der mit der groessten Versicherung, dass er recht habe, also zu reden fortfuhr: "Es gefaellt uns so wohl, es schmeichelt so sehr, wenn wir einen Helden sehen, der durch sich selbst handelt, der liebt und hasst, wenn es ihm sein Herz gebietet, der unternimmt und ausfuehrt, alle Hindernisse abwendet und zu einem grossen Zwecke gelangt. Geschichtschreiber und Dichter moechten uns gerne ueberreden, dass ein so stolzes Los dem Menschen fallen koenne. Hier werden wir anders belehrt; der Held hat keinen Plan, aber das Stueck ist planvoll. Hier wird nicht etwa nach einer starr und eigensinnig durchgefuehrten Idee von Rache ein Boesewicht bestraft, nein, es geschieht eine ungeheure Tat, sie waelzt sich in ihren Folgen fort, reisst Unschuldige mit; der Verbrecher scheint dem Abgrunde, der ihm bestimmt ist, ausweichen zu wollen und stuerzt hinein, eben da, wo er seinen Weg gluecklich auszulaufen gedenkt. Denn das ist die Eigenschaft der Greueltat, dass sie auch Boeses ueber den Unschuldigen, wie der guten Handlung, dass sie viele Vorteile auch ueber den Unverdienten ausbreitet, ohne dass der Urheber von beiden oft weder bestraft noch belohnt wird. Hier in unserm Stuecke wie wunderbar! Das Fegefeuer sendet seinen Geist und fordert Rache, aber vergebens. Alle Umstaende kommen zusammen und treiben die Rache, vergebens! Weder Irdischen noch Unterirdischen kann gelingen, was dem Schicksal allein vorbehalten ist. Die Gerichtsstunde kommt. Der Boese faellt mit dem Guten. Ein Geschlecht wird weggemaeht, und das andere sprosst auf."
Nach einer Pause, in der sie einander ansahen, nahm Serlo das Wort: "Sie machen der Vorsehung kein sonderlich Kompliment, indem Sie den Dichter erheben, und dann scheinen Sie mir wieder zu Ehren Ihres Dichters, wie andere zu Ehren der Vorsehung, ihm Endzweck und Plane unterzuschieben, an die er nicht gedacht hat."