Die Leiden Des Jungen Werther— Volume 2

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Author: Johann Wolfgang von Goethe

Am 20. Oktober 1771

Gestern sind wir hier angelangt. Der Gesandte ist unpass und wird sich also einige Tage einhalten. Wenn er nur nicht so unhold waere, waer’ alles gut. Ich merke, ich merke, das Schicksal hat mir harte Pruefungen zugedacht. Doch gutes Muts! Ein leichter Sinn traegt alles! Ein leichter Sinn? Das macht mich zu lachen, wie das Wort in meine Feder kommt. O ein bisschen leichteres Blut wuerde mich zum Gluecklichsten unter der Sonne machen. Was! Da, wo andere mit ihrem bisschen Kraft und Talent vor mir in behaglicher Selbstgefaelligkeit herumschwadronieren, verzweifle ich an meiner Kraft, an meinen Gaben? Guter Gott, der du mir das alles schenktest, warum hieltest du nicht die Haelfte zurueck und gabst mir Selbstvertrauen und Genuegsamkeit?

Geduld! Geduld! Es wird besser werden. Denn ich sage dir, Lieber, du hast recht. Seit ich unter dem Volke alle Tage herumgetrieben werde und sehe, was sie tun und wie sie’s treiben, stehe ich viel besser mit mir selbst. Gewiss, weil wir doch einmal so gemacht sind, dass wir alles mit uns und uns mit allem vergleichen, so liegt Glueck oder Elend in den Gegenstaenden, womit wir uns zusammenhalten, und da ist nichts gefaehrlicher als die Einsamkeit. Unsere Einbildungskraft, durch ihre Natur gedrungen sich zu erheben, durch die phantastischen Bilder der Dichtkunst genaehrt, bildet sich eine Reihe Wesen hinauf, wo wir das unterste sind und alles ausser uns herrlicher erscheint, jeder andere vollkommner ist. Und das geht ganz natuerlich zu. Wir fuehlen so oft, dass uns manches mangelt, und eben was uns fehlt, scheint uns oft ein anderer zu besitzen, dem wir denn auch alles dazu geben, was wir haben, und noch eine gewisse idealische Behaglichkeit dazu. Und so ist der Glueckliche vollkommen fertig, das Geschoepf unserer selbst.

Dagegen, wenn wir mit all unserer Schwachheit und Muehseligkeit nur gerade fortarbeiten, so finden wir gar oft, dass wir mit unserem Schlendern und Lavieren es weiter bringen als andere mit ihrem Segeln und Rudern—und—das ist doch ein wahres Gefuehl seiner selbst, wenn man andern gleich oder gar vorlaeuft.

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Chicago: Johann Wolfgang von Goethe, "Am 20. Oktober 1771," Die Leiden Des Jungen Werther— Volume 2 in Die Leiden Des Jungen Werther—Volume 2 Original Sources, accessed April 26, 2024, http://www.originalsources.com/Document.aspx?DocID=INYURVLH1SK76TI.

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Harvard: Goethe, JW, 'Am 20. Oktober 1771' in Die Leiden Des Jungen Werther— Volume 2. cited in , Die Leiden Des Jungen Werther—Volume 2. Original Sources, retrieved 26 April 2024, from http://www.originalsources.com/Document.aspx?DocID=INYURVLH1SK76TI.