Die Wahlverwandtschaften

Author: Johann Wolfgang von Goethe

Die Wahlverwandtschaften

Goethe, Johann Wolfgang von, 1749-1832

Die Wahlverwandtschaften Johann Wolfgang von Goethe

Die Wahlverwandtschaften Hamburger Ausgabe, Band 6

Eduard—so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter—Eduard hatte in seiner Baumschule die schoenste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Staemme zu bringen.

Sein Geschaeft war eben vollendet; er legte die Geraetschaften in das Futteral zusammen und betrachtete seine Arbeit mit Vergnuegen, als der Gaertner hinzutrat und sich an dem teilnehmenden Fleisse des Herrn ergetzte.

"Hast du meine Frau nicht gesehen?" fragte Eduard, indem er sich weiterzugehen anschickte.

"Drueben in den neuen Anlagen",versetzte der Gaertner.

"Die Mooshuette wird heute fertig, die sie an der Felswand, dem Schlosse gegenueber, gebaut hat.

Alles ist recht schoen geworden und muss Euer Gnaden gefallen.

Man hat einen vortrefflichen Anblick: unten das Dorf, ein wenig rechter Hand die Kirche, ueber deren Turmspitze man fast hinwegsieht, gegenueber das Schloss und die Gaerten".

"Ganz recht", versetzte Eduard; "einige Schritte von hier konnte ich die Leute arbeiten sehen".

"Dann", fuhr der Gaertner fort,"oeffnet sich rechts das Tal, und man sieht ueber die reichen Baumwiesen in eine heitere Ferne.

Der Stieg die Felsen hinauf ist gar huebsch angelegt.

Die gnaedige Frau versteht es; man arbeitet unter ihr mit Vergnuegen".

"Geh zu ihr", sagte Eduard, "und ersuche sie, auf mich zu warten.

Sage ihr, ich wuensche die neue Schoepfung zu sehen und mich daran zu erfreuen".

Der Gaertner entfernte sich eilig, und Eduard folgte bald.

Dieser stieg nun die Terrassen hinunter, musterte im Vorbeigehen Gewaechshaeuser und Treibebeete, bis er ans Wasser, dann ueber einen Steg an den Ort kam, wo sich der Pfad nach den neuen Anlagen in zwei Arme teilte.

Den einen, der ueber den Kirchhof ziemlich gerade nach der Felswand hinging, liess er liegen, um den andern einzuschlagen, der sich links etwas weiter durch anmutiges Gebuesch sachte hinaufwand; da, wo beide zusammentrafen, setzte er sich fuer einen Augenblick auf einer wohlangebrachten Bank nieder, betrat sodann den eigentlichen Stieg und sah sich durch allerlei Treppen und Absaetze auf dem schmalen, bald mehr bald weniger steilen Wege endlich zur Mooshuette geleitet.

An der Tuere empfing Charlotte ihren Gemahl und liess ihn dergestalt niedersitzen, dass er durch Tuer und Fenster die verschiedenen Bilder, welche die Landschaft gleichsam im Rahmen zeigten, auf einen Blick uebersehen konnte.

Er freute sich daran in Hoffnung, dass der Fruehling bald alles noch reichlicher beleben wuerde.

"Nur eines habe ich zu erinnern", setzte er hinzu, "die Huette scheint mir etwas zu eng".

"Fuer uns beide doch geraeumig genug", versetzte Charlotte.

"Nun freilich", sagte Eduard, "fuer einen Dritten ist auch wohl noch Platz".

"Warum nicht?" versetzte Charlotte, "und auch fuer ein Viertes.

Fuer groessere Gesellschaft wollen wir schon andere Stellen bereiten".

"Da wir denn ungestoert hier allein sind", sagte Eduard, "und ganz ruhigen, heiteren Sinnes, so muss ich dir gestehen, dass ich schon einige Zeit etwas auf dem Herzen habe, was ich dir vertrauen muss und moechte, und nicht dazu kommen kann".

"Ich habe dir so etwas angemerkt", versetzte Charlotte.

"Und ich will nur gestehen", fuhr Eduard fort, "wenn mich der Postbote morgen frueh nicht draengte, wenn wir uns nicht heut entschliessen muessten, ich haette vielleicht noch laenger geschwiegen".

"Was ist es denn?" fragte Charlotte freundlich entgegenkommend.

"Es betrifft unsern Freund, den Hauptmann", antwortete Eduard.

"Du kennst die traurige Lage, in die er, wie so mancher andere, ohne sein Verschulden gesetzt ist.

Wie schmerzlich muss es einem Manne von seinen Kenntnissen, seinen Talenten und Fertigkeiten sein, sich ausser Taetigkeit zu sehen und—ich will nicht lange zurueckhalten mit dem, was ich fuer ihn wuensche: ich moechte, dass wir ihn auf einige Zeit zu uns naehmen".

"Das ist wohl zu ueberlegen und von mehr als einer Seite zu betrachten", versetzte Charlotte.

"Meine Ansichten bin ich bereit dir mitzuteilen", entgegnete ihr Eduard.

"In seinem letzten Briefe herrscht ein stiller Ausdruck des tiefsten Missmutes; nicht dass es ihm an irgendeinem Beduerfnis fehle, denn er weiss sich durchaus zu beschraenken, und fuer das Notwendige habe ich gesorgt; auch drueckt es ihm nicht, etwas von mir anzunehmen, denn wir sind unsre Lebzeit ueber einander wechselseitig uns so viel schuldig geworden, dass wir nicht berechnen koennen, wie unser Kredit und Debet sich gegeneinander verhalte—dass er geschaeftlos ist, das ist eigentlich seine Qual.

Das Vielfache, was er an sich ausgebildet hat, zu andrer Nutzen taeglich und stuendlich zu gebrauchen, ist ganz allein sein Vergnuegen, ja seine Leidenschaft.

Und nun die Haende in den Schoss zu legen oder noch weiter zu studieren, sich weitere Geschicklichkeit zu verschaffen, da er das nicht brauchen kann, was er in vollem Masse besitzt—genug, liebes Kind, es ist eine peinliche Lage, deren Qual er doppelt und dreifach in seiner Einsamkeit empfindet".

"Ich dachte doch", sagte Charlotte, "ihm waeren von verschiedenen Orten Anerbietungen geschehen.

Ich hatte selbst um seinetwillen an manche taetige Freunde und Freundinnen geschrieben, und soviel ich weiss, blieb dies auch nicht ohne Wirkung".

"Ganz recht",versetzte Eduard; "aber selbst diese verschiedenen Gelegenheiten, diese Anerbietungen machen ihm neue Qual, neue Unruhe.

Keines von den Verhaeltnissen ist ihm gemaess.

Er soll nicht wirken; er soll sich aufopfern, seine Zeit seine Gesinnungen, seine Art zu sein, und das ist ihm unmoeglich.

Je mehr ich das alles betrachte, je mehr ich es fuehle, desto lebhafter wird der Wunsch, ihn bei uns zu sehen".

"Es ist recht schoen und liebenswuerdig von dir" versetzte Charlotte, "dass du des Freundes Zustand mit soviel Teilnahme bedenkst; allein erlaube mir, dich aufzufordern, auch deiner, auch unser zu gedenken".

"Das habe ich getan", entgegnete ihr Eduard.

"Wir koennen von seiner Naehe uns nur Vorteil und Annehmlichkeit versprechen.

Von dem Aufwande will ich nicht reden, der auf alle Faelle gering fuer mich wird, wenn er zu uns zieht, besonders wenn ich zugleich bedenke, dass uns seine Gegenwart nicht die mindeste Unbequemlichkeit verursacht.

Auf dem rechten Fluegel des Schlosses kann er wohnen, und alles andere findet sich.

Wieviel wird ihm dadurch geleistet, und wie manches Angenehme wird uns durch seinen Umgang, ja wie mancher Vorteil!

Ich haette laengst eine Ausmessung des Gutes und der Gegend gewuenscht; er wird sie besorgen und leiten.

Deine Absicht ist, selbst die Gueter kuenftig zu verwalten, sobald die Jahre der gegenwaertigen Paechter verflossen sind.

Wie bedenklich ist ein solches Unternehmen!

Zu wie manchen Vorkenntnissen kann er uns nicht verhelfen!

Ich fuehle nur zu sehr, dass mir ein Mann dieser Art abgeht.

Die Landleute haben die rechten Kenntnisse; ihre Mitteilungen aber sind konfus und nicht ehrlich.

Die Studierten aus der Stadt und von den Akademien sind wohl klar und ordentlich, aber es fehlt an der unmittelbaren Einsicht in die Sache.

Vom Freunde kann ich mir beides versprechen; und dann entspringen noch hundert andere Verhaeltnisse daraus, die ich mir alle gern vorstellen mag, die auch auf dich Bezug haben und wovon ich viel Gutes voraussehe.

Nun danke ich dir, dass du mich freundlich angehoert hast; jetzt sprich aber auch recht frei und umstaendlich und sage mir alles, was du zu sagen hast; ich will dich nicht unterbrechen".

"Recht gut", versetzte Charlotte; "so will ich gleich mit einer allgemeinen Bemerkung anfangen.

Die Maenner denken mehr auf das Einzelne, auf das Gegenwaertige, und das mit Recht, weil sie zu tun, zu wirken berufen sind, die Weiber hingegen mehr auf das, was im Leben zusammenhaengt, und das mit gleichem Rechte, weil ihr Schicksal, das Schicksal ihrer Familien an diesen Zusammenhang geknuepft ist und auch gerade dieses Zusammenhaengende von ihnen gefordert wird.

Lass uns deswegen einen Blick auf unser gegenwaertiges, auf unser vergangenes Leben werfen, und du wirst mir eingestehen, dass die Berufung des Hauptmannes nicht so ganz mit unsern Vorsaetzen, unsern Planen, unsern Einrichtungen zusammentrifft.

Mag ich doch so gern unserer fruehsten Verhaeltnisse gedenken! Wir liebten einander als junge Leute recht herzlich; wir wurden getrennt; du von mir, weil dein Vater, aus nie zu saettigender Begierde des Besitzes, dich mit einer ziemlich aelteren, reichen Frau verband; ich von dir, weil ich, ohne sonderliche Aussichten, einem wohlhabenden, nicht geliebten, aber geehrten Manne meine Hand reichen musste.

Wir wurden wieder frei; du frueher, indem dich dein Muetterchen im Besitz eines grossen Vermoegens liess; ich spaeter, eben zu der Zeit, da du von Reisen zurueckkamst.

So fanden wir uns wieder.

Wir freuten uns der Erinnerung, wir liebten die Erinnerung, wir konnten ungestoert zusammenleben.

Du drangst auf eine Verbindung; ich willigte nicht gleich ein, denn da wir ungefaehr von denselben Jahren sind, so bin ich als Frau wohl aelter geworden, du nicht als Mann.

Zuletzt wollte ich dir nicht versagen, was du fuer dein einziges Glueck zu halten schienst.

Du wolltest von allen Unruhen, die du bei Hof, im Militaer, auf Reisen erlebt hattest, dich an meiner Seite erholen, zur Besinnung kommen, des Lebens geniessen; aber auch nur mit mir allein.

Meine einzige Tochter tat ich in Pension, wo sie sich freilich mannigfaltiger ausbildet, als bei einem laendlichen Aufenthalte geschehen koennte; und nicht sie allein, auch Ottilien, meine liebe Nichte, tat ich dorthin, die vielleicht zur haeuslichen Gehuelfin unter meiner Anleitung am besten herangewachsen waere.

Das alles geschah mit deiner Einstimmung, bloss damit wir uns selbst leben, bloss damit wir das frueh so sehnlich gewuenschte, endlich spaet erlangte Glueck ungestoert geniessen moechten.

So haben wir unsern laendlichen Aufenthalt angetreten.

Ich uebernahm das Innere, du das aeussere und was ins Ganze geht.

Meine Einrichtung ist gemacht, dir in allem entgegenzukommen, nur fuer dich allein zu leben; lass uns wenigstens eine Zeitlang versuchen, inwiefern wir auf diese Weise miteinander ausreichen".

"Da das Zusammenhaengende, wie du sagst, eigentlich euer Element ist", versetzte Eduard, "so muss man euch freilich nicht in einer Folge reden hoeren oder sich entschliessen, euch recht zu geben; und du sollst auch recht haben bis auf den heutigen Tag.

Die Anlage, die wir bis jetzt zu unserm Dasein gemacht haben, ist von guter Art; sollen wir aber nichts weiter darauf bauen, und soll sich nichts weiter daraus entwickeln?

Was sich im Garten leiste, du im Park, soll das nur fuer Einsiedler getan sein?"

"Recht gut!" versetzte Charlotte, "recht wohl!

Nur dass wir nichts Hinderndes, Fremdes hereinbringen!

Bedenke, dass unsre Vorsaetze, auch was die Unterhaltung betrifft, sich gewissermassen nur auf unser beiderseitiges Zusammensein bezogen.

Du wolltest zuerst die Tagebuecher deiner Reise mir in ordentlicher Folge mitteilen, bei dieser Gelegenheit so manches dahin Gehoerige von Papieren in Ordnung bringen und unter meiner Teilnahme, mit meiner Beihuelfe aus diesen unschaetzbaren, aber verworrenen Heften und Blaettern ein fuer uns und andere erfreuliches Ganze zusammenstellen.

Ich versprach, dir an der Abschrift zu helfen, und wir dachten es uns so bequem, so artig, so gemuetlich und heimlich, die Welt, die wir zusammen nicht sehen sollten, in der Erinnerung zu durchreisen. Ja, der Anfang ist schon gemacht.

Dann hast du die Abende deine Floete wieder vorgenommen, begleitest mich am Klavier; und an Besuchen aus der Nachbarschaft und in die Nachbarschaft fehlt es uns nicht.

Ich wenigstens habe mir aus allem diesem den ersten wahrhaft froehlichen Sommer zusammengebaut, den ich in meinem Leben zu geniessen dachte".

"Wenn mir nur nicht", versetzte Eduard, indem er sich die Stirne rieb, "bei alle dem, was du mir so liebevoll und verstaendig wiederholst, immer der Gedanke beiginge, durch die Gegenwart des Hauptmanns wuerde nichts gestoert, ja vielmehr alles beschleunigt und neu belebt.

Auch er hat einen Teil meiner Wanderungen mitgemacht; auch er hat manches, und in verschiedenem Sinne, sich angemerkt: wir benutzten das zusammen, und alsdann wuerde es erst ein huebsches Ganze werden".

"So lass mich denn dir aufrichtig gestehen", entgegnete Charlotte mit einiger Ungeduld, "dass diesem Vorhaben mein Gefuehl widerspricht, dass eine Ahnung mir nichts Gutes weissagt".

"Auf diese Weise waeret ihr Frauen wohl unueberwindlich", versetzte Eduard, "erst verstaendig, dass man nicht widersprechen kann, liebevoll, dass man sich gern hingibt, gefuehlvoll, dass man euch nicht weh tun mag, ahnungsvoll, dass man erschrickt".

"Ich bin nicht aberglaeubisch", versetzte Charlotte, "und gebe nichts auf diese dunklen Anregungen, insofern sie nur solche waeren; aber es sind meistenteils unbewusste Erinnerungen gluecklicher und ungluecklicher Folgen, die wir an eigenen oder fremden Handlungen erlebt haben.

Nichts ist bedeutender in jedem Zustande als die Dazwischenkunft eines Dritten.

Ich habe Freunde gesehen, Geschwister, Liebende, Gatten, deren Verhaeltnis durch den zufaelligen oder gewaehlten Hinzutritt einer neuen Person ganz und gar veraendert, deren Lage voellig umgekehrt wurde".

"Das kann wohl geschehen", versetzte Eduard, "bei Menschen, die nur dunkel vor sich hinleben, nicht bei solchen, die, schon durch Erfahrung aufgeklaert, sich mehr bewusst sind".

"Das Bewusstsein, mein Liebster", entgegnete Charlotte, "ist keine hinlaengliche Waffe, ja manchmal eine gefaehrliche fuer den, der sie fuehrt; und aus diesem allen tritt wenigstens soviel hervor, dass wir uns ja nicht uebereilen sollen.

Goenne mir noch einige Tage, entscheide nicht!"

"Wie die Sache steht", erwiderte Eduard, "werden wir uns auch nach mehreren Tagen immer uebereilen.

Die Gruende fuer und dagegen haben wir wechselsweise vorgebracht; es kommt auf den Entschluss an, und da waer es wirklich das Beste, wir gaeben ihn dem Los anheim".

"Ich weiss", versetzte Charlotte, "dass du in zweifelhaften Faellen gerne wettest oder wuerfelst; bei einer so ernsthaften Sache hingegen wuerde ich dies fuer einen Frevel halten".

"Was soll ich aber dem Hauptmann schreiben?" rief Eduard aus; "denn ich muss mich gleich hinsetzen".

"Einen ruhigen, vernuenftigen, troestlichen Brief", sagte Charlotte.

"Das heisst soviel wie keinen", versetzte Eduard.

"Und doch ist es in manchen Faellen", versetzte Charlotte, "notwendig und freundlich, lieber nichts zu schreiben, als nicht zu schreiben".

Eduard fand sich allein auf seinem Zimmer, und wirklich hatte die Wiederholung seiner Lebensschicksale aus dem Munde Charlottens, die Vergegenwaertigung ihres beiderseitigen Zustandes, ihrer Vorsaetze sein lebhaftes Gemuet angenehm aufgeregt.

Er hatte sich in ihrer Naehe, in ihrer Gesellschaft so gluecklich gefuehlt, dass er sich einen freundlichen, teilnehmenden, aber ruhigen und auf nichts hindeutenden Brief an den Hauptmann ausdachte.

Als er aber zum Schreibtisch ging und den Brief des Freundes aufnahm, um ihn nochmals durchzulesen, trat ihm sogleich wieder der traurige Zustand des trefflichen Mannes entgegen; alle Empfindungen, die ihn diese Tage gepeinigt hatten, wachten wieder auf, und es schien ihm unmoeglich, seinen Freund einer so aengstlichen Lage zu ueberlassen.

Sich etwas zu versagen, war Eduard nicht gewohnt.

Von Jugend auf das einzige, verzogene Kind reicher Eltern, die ihn zu einer seltsamen, aber hoechst vorteilhaften Heirat mit einer viel aelteren Frau zu bereden wussten, von dieser auch auf alle Weise verzaertelt, indem sie sein gutes Betragen gegen sie durch die groesste Freigebigkeit zu erwidern suchte, nach ihrem baldigen Tode sein eigner Herr, auf Reisen unabhaengig, jeder Abwechslung, jeder Veraenderung maechtig, nichts uebertriebenes wollend, aber viel und vielerlei wollend, freimuetig, wohltaetig, brav, ja tapfer im Fall—was konnte in der Welt seinen Wuenschen entgegenstehen!

Bisher war alles nach seinem Sinne gegangen, auch zum Besitz Charlottens war er gelangt, den er sich durch eine hartnaeckige, ja romanenhafte Treue doch zuletzt erworben hatte; und nun fuehlte er sich zum erstenmal widersprochen, zum erstenmal gehindert, eben da er seinen Jugendfreund an sich heranziehen, da er sein ganzes Dasein gleichsam abschliessen wollte.

Er war verdriesslich, ungeduldig, nahm einigemal die Feder und legte sie nieder, weil er nicht einig mit sich werden konnte, was er schreiben sollte.

Gegen die Wuensche seiner Frau wollte er nicht, nach ihrem Verlangen konnte er nicht; unruhig wie er war, sollte er einen ruhigen Brief schreiben; es waere ihm ganz unmoeglich gewesen.

Das Natuerlichste war, dass er Aufschub suchte.

Mit wenig Worten bat er seinen Freund um Verzeihung, dass er diese Tage nicht geschrieben, dass er heut nicht umstaendlich schreibe, und versprach fuer naechstens ein bedeutenderes, ein beruhigendes Blatt.

Charlotte benutzte des andern Tags auf einem Spaziergang nach derselben Stelle die Gelegenheit, das Gespraech wieder anzuknuepfen, vielleicht in der ueberzeugung, dass man einen Vorsatz nicht sicherer abstumpfen kann, als wenn man ihn oefters durchspricht.

Eduarden war diese Wiederholung erwuenscht.

Er aeusserte sich nach seiner Weise freundlich und angenehm; denn wenn er, empfaenglich wie er war, leicht aufloderte, wenn sein lebhaftes Begehren zudringlich ward, wenn seine Hartnaeckigkeit ungeduldig machen konnte, so waren doch alle seine aeusserungen durch eine vollkommene Schonung des andern dergestalt gemildert, dass man ihn immer noch liebenswuerdig finden musste, wenn man ihn auch beschwerlich fand.

Auf eine solche Weise brachte er Charlotten diesen Morgen erst in die heiterste Laune, dann durch anmutige Gespraechswendungen ganz aus der Fassung, sodass sie zuletzt ausrief: "du willst gewiss, dass ich das, was ich dem Ehemann versagte, dem Liebhaber zugestehen soll.

Wenigstens, mein Lieber", fuhr sie fort, "sollst du gewahr werden, dass deine Wuensche, die freundliche Lebhaftigkeit, womit du sie ausdrueckst, mich nicht ungeruehrt, mich nicht unbewegt lassen.

Sie noetigen mich zu einem Gestaendnis.

Ich habe dir bisher auch etwas verborgen.

Ich befinde mich in einer aehnlichen Lage wie du und habe mir schon eben die Gewalt angetan, die ich dir nun ueber dich selbst zumute".

"Das hoer ich gern", sagte Eduard; "ich merke wohl, im Ehestand muss man sich manchmal streiten, denn dadurch erfaehrt man was voneinander".

"Nun sollst du also erfahren", sagte Charlotte, "dass es mir mit Ottilien geht, wie dir mit dem Hauptmann.

Hoechst ungern weiss ich das liebe Kind in der Pension, wo sie sich in sehr drueckenden Verhaeltnissen befindet.

Wenn Luciane, meine Tochter, die fuer die Welt geboren ist, sich dort fuer die Welt bildet, wenn sie Sprachen, Geschichtliches und was sonst von Kennntnissen ihr mitgeteilt wird, so wie ihre Noten und Variationen vom Blatte wegspielt; wenn bei einer lebhaften Natur und bei einem gluecklichen Gedaechtnis sie, man moechte wohl sagen, alles vergisst und im Augenblicke sich an alles erinnert; wenn sie durch Freiheit des Betragens, Anmut im Tanze, schickliche Bequemlichkeit des Gespraechs sich vor allen auszeichnet und durch ein angebornes herrschendes Wesen Wesen sich zur Koenigin des kleinen Kreises macht, wenn die Vorsteherin dieser Anstalt sie als kleine Gottheit ansieht, die nun erst unter ihren Haenden recht gedeiht, die ihr Ehre machen, Zutrauen erwerben und einen Zufluss von andern jungen Personen verschaffen wird, wenn die ersten Seiten ihrer Briefe und Monatsberichte immer nur Hymnen sind ueber die Vortrefflichkeit eines solchen Kindes, die ich denn recht gut in meine Prose zu uebersetzen weiss: so ist dagegen, was sie schliesslich von Ottilien erwaehnt, nur immer Entschuldigung auf Entschuldigung, dass ein uebrigens so schoen heranwachsendes Maedchen sich nicht entwickeln, keine Faehigkeiten und keine Fertigkeiten zeigen wolle.

Das wenige, was sie sonst noch hinzufuegt, ist gleichfalls fuer mich kein Raetsel, weil ich in diesem lieben Kinde den ganzen Charakter ihrer Mutter, meiner wertesten Freundin, gewahr werde, die sich neben mir entwickelt hat und deren Tochter ich gewiss, wenn ich Erzieherin oder Aufseherin sein koennte, zu einem herrlichen Geschoepf heraufbilden wollte.

Da es aber einmal nicht in unsern Plan geht und man an seinen Lebensverhaeltnissen nicht soviel zupfen und zerren, nicht immer was Neues an sie heranziehen soll, so trag ich das lieber, ja ich ueberwinde die unangenehme Empfindung, wenn meine Tochter, welche recht gut weiss, dass die arme Ottilie ganz von uns abhaengt, sich ihrer Vorteile uebermuetig gegen sie bedient und unsre Wohltat dadurch gewissermassen vernichtet.

Doch wer ist so gebildet, dass er nicht seine Vorzuege gegen andre manchmal auf eine grausame Weise geltend machte!

Wer steht so hoch, dass er unter einem solchen Druck nicht manchmal leiden muesste!

Durch diese Pruefungen waechst Ottiliens Wert; aber seitdem ich den peinlichen Zustand recht deutlich einsehe, habe ich mir Muehe gegeben, sie anderwaerts unterzubringen.

Stuendlich soll mir eine Antwort kommen, und alsdann will ich nicht zaudern.

So steht es mit mir, mein Bester.

Du siehst, wir tragen beiderseits dieselben Sorgen in einem treuen, freundschaftlichen Herzen.

Lass sie uns gemeinsam tragen, da sie sich nicht gegeneinander aufheben!" "Wir sind wunderliche Menschen", sagte Eduard laechelnd.

"Wenn wir nur etwas, das uns Sorge macht, aus unserer Gegenwart verbannen koennen, da glauben wir schon, nun sei es abgetan.

Im ganzen koennen wir vieles aufopfern, aber uns im einzelnen herzugeben, ist eine Forderung, der wir selten gewachsen sind.

So war meine Mutter.

Solange ich als Knabe oder Juengling bei ihr lebte, konnte sie der augenblicklichen Besorgnisse nicht los werden.

Verspaetete ich mich bei einem Ausritt, so musste mir ein Unglueck begegnet sein; durchnetzte mich ein Regenschauer, so war das Fieber mir gewiss.

Ich verreiste, ich entfernte mich von ihr, und nun schien ich ihr kaum anzugehoeren.

Betrachten wir es genauer", fuhr er fort, "so handeln wir beide toericht und unverantwortlich, zwei der edelsten Naturen, die unser Herz so nahe angehen, im Kummer und im Druck zu lassen, nur um uns keiner Gefahr auszusetzen.

Wenn dies nicht selbstsuechtig genannt werden soll, was will man so nennen!

Nimm Ottilien, lass mir den Hauptmann, und in Gottes Namen sei der Versuch gemacht!" "Es moechte noch zu wagen sein", sagte Charlotte bedenklich, "wenn die Gefahr fuer uns allein waere.

Glaubst du denn aber, dass es raetlich sei, den Hauptmann mit Ottilien als Hausgenossen zu sehen, einen Mann ohngefaehr in deinen Jahren, in den Jahren—dass ich dir dieses Schmeichelhafte nur gerade unter die Augen sage -, wo der Mann erst liebefaehig und erst der Liebe wert wird, und ein Maedchen von Ottiliens Vorzuegen?" "Ich weiss doch auch nicht", versetzte Eduard, "wie du Ottilien so hoch stellen kannst!

Nur dadurch erklaere ich mir’s, dass sie deine Neigung zu ihrer Mutter geerbt hat.

Huebsch ist sie, das ist wahr, und ich erinnere mich, dass der Hauptmann mich auf sie aufmerksam machte, als wir vor einem Jahre zurueckkamen und sie mit dir bei einer Tante trafen.

Huebsch ist sie, besonders hat sie schoene Augen; aber ich wuesste doch nicht, dass sie den mindesten Eindruck auf mich gemacht haette". "Das ist loeblich an dir", sagte Charlotte, "denn ich war ja gegenwaertig; und ob sie gleich viel juenger ist als ich, so hatte doch die Gegenwart der aeltern Freundin so viele Reize fuer dich, dass du ueber die aufbluehende, versprechende Schoenheit hinaussahest.

Es gehoert auch dies zu deiner Art zu sein, deshalb ich so gern das Leben mit dir teile".

Charlotte, so aufrichtig sie zu sprechen schien, verhehlte doch etwas.

Sie hatte naemlich damals dem von Reisen zurueckkehrenden Eduard Ottilien absichtlich vorgefuehrt, um dieser geliebten Pflegetochter eine so grosse Partie zuzuwenden; denn an sich selbst in bezug auf Eduard dachte sie nicht mehr.

Der Hauptmann war auch angestiftet, Eduarden aufmerksam zu machen; aber dieser, der seine fruehe Liebe zu Charlotten hartnaeckig im Sinne behielt, sah weder rechts noch links und war nur gluecklich in dem Gefuehl, dass es moeglich sei, eines so lebhaft gewuenschten und durch eine Reihe von Ereignissen scheinbar auf immer versagten Gutes endlich doch teilhaft zu werden.

Eben stand das Ehepaar im Begriff, die neuen Anlagen herunter nach dem Schlosse zu gehen, als ein Bedienter ihnen hastig entgegenstieg und mit lachendem Munde sich schon von unten herauf vernehmen liess:" kommen Euer Gnaden doch ja schnell herueber!

Herr Mittler ist in den Schlosshof gesprengt.

Er hat uns alle zusammengeschrieen, wir sollen sie aufsuchen, wir sollen Sie fragen, ob es not tue.

’Ob es not tut’, rief er uns nach, ’hoert ihr?

Aber geschwind, geschwind!’.

"Der drollige Mann!" rief Eduard aus; "kommt er nicht gerade zur rechten Zeit, Charlotte?"—"Geschwind zurueck!" befahl er dem Bedienten; "sage ihm, es tue not, sehr not!

Er soll nur absteigen.

Versorgt sein Pferd; fuehrt ihn in den Saal, setzt ihm ein Fruehstueck vor!

Wir kommen gleich".

"Lass uns den naechsten Weg nehmen!" sagte er zu seiner Frau und schlug den Pfad ueber den Kirchhof ein, den er sonst zu vermeiden pflegte.

Aber wie verwundert war er, als er fand, dass Charlotte auch hier fuer das Gefuehl gesorgt habe.

Mit moeglichster Schonung der alten Denkmaeler hatte sie alles so zu vergleichen und zu ordnen gewusst, dass es ein angenehmer Raum erschien, auf dem das Auge und die Einbildungskraft gerne verweilten.

Auch dem aeltesten Stein hatte sie seine Ehre gegoennt.

Den Jahren nach waren sie an der Mauer aufgerichtet, eingefuegt oder sonst angebracht; der hohe Sockel der Kirche selbst war damit vermannigfaltigt und geziert.

Eduard fuehlte sich sonderbar ueberrascht, wie er durch die kleine Pforte hereintrat: er drueckte Charlotten die Hand, und im Auge stand ihm eine Traene.

Aber der naerrische Gast verscheuchte sie gleich.

Denn dieser hatte keine Ruh im Schloss gehabt, war spornstreichs durchs Dorf bis an das Kirchhoftor geritten, wo er still hielt und seinen Freunden entgegenrief: "Ihr habt mich doch nicht zum besten?

Tuts wirklich not, so bleibe ich zu Mittage hier.

Haltet mich nicht auf!

Ich habe heute noch viel zu tun".

"Da Ihr Euch so weit bemueht habt", rief ihm Eduard entgegen, "so reitet noch vollends herein; wir kommen an einem ernsthaften Orte zusammen; und seht, wie schoen Charlotte diese Trauer ausgeschmueckt hat!" "Hier herein", rief der Reiter, "komm ich weder zu Pferde, noch zu Wagen, noch zu Fusse.

Diese da ruhen in Frieden, mit ihnen habe ich nichts zu schaffen.

Gefallen muss ich mirs lassen, wenn man mich einmal, die Fuesse voran, hereinschleppt.

Also ists Ernst?" "Ja", rief Charlotte, "recht Ernst! Es ist das erstemal, dass wir neuen Gatten in Not und Verwirrung sind, woraus wir uns nicht zu helfen wissen".

"Ihr seht nicht darnach aus", versetzte er, "doch will ichs glauben.

Fuehrt ihr mich an, so lass ich euch kuenftig stecken.

Folgt geschwinde nach!

Meinem Pferde mag die Erholung zugut kommen".

Bald fanden sich die dreie im Saale zusammen; das Essen ward aufgetragen, und Mittler erzaehlte von seinen heutigen Taten und Vorhaben. Dieser seltsame Mann war frueherhin Geistlicher gewesen und hatte sich bei einer rastlosen Taetigkeit in seinem Amte dadurch ausgezeichnet, dass er alle Streitigkeiten, sowohl die haeuslichen als die nachbarlichen, erst der einzelnen Bewohner, sodann ganzer Gemeinden und mehrerer Gutsbesitzer zu stillen und zu schlichten wusste.

Solange er im Dienste war, hatte sich kein Ehepaar scheiden lassen, und die Landeskollegien wurden mit keinen Haendeln und Prozessen von dorther behelliget.

Wie noetig ihm die Rechtskunde sei, ward er zeitig gewahr.

Er warf sein ganzes Studium darauf und fuehlte sich bald den geschicktesten Advokaten gewachsen.

Sein Wirkungskreis dehnte sich wunderbar aus; und man war im Begriff, ihn nach der Residenz zu ziehen, um das von oben herein zu vollenden, was er von unten herauf begonnen hatte, als er einen ansehnlichen Lotteriegewinst tat, sich ein maessiges Gut kaufte, es verpachtete und zum Mittelpunkt seiner Wirksamkeit machte, mit dem festen Vorsatz oder vielmehr nach alter Gewohnheit und Neigung, in keinem Hause zu verweilen, wo nichts zu schlichten und nichts zu helfen waere.

Diejenigen, die auf die Namensbedeutungen aberglaeubisch sind, behaupten, der Name Mittler habe ihn genoetigt, diese seltsamste aller Bestimmungen zu ergreifen.

Der Nachtisch war aufgetragen, als der Gast seine Wirte ernstlich vermahnte, nicht weiter mit ihren Entdeckungen zurueckzuhalten, weil er gleich nach dem Kaffee fort muesse.

Die beiden Eheleute machten umstaendlich ihre Bekenntnisse; aber kaum hatte er den Sinn der Sache vernommen, als er verdriesslich vom Tische auffuhr, ans Fenster sprang und sein Pferd zu satteln befahl.

"Entweder ihr kennt mich nicht", rief er aus, "ihr steht mich nicht, oder ihr seid sehr boshaft.

Ist denn hier ein Streit?

Ist denn hier eine Huelfe noetig?

Glaubt ihr, dass ich in der Welt bin, um Rat zu geben?

Das ist das duemmste Handwerk, das einer treiben kann.

Rate sich jeder selbst und tue, was er nicht lassen kann.

Geraet es gut, so freue er sich seiner Weisheit und seines Gluecks; laeufts uebel ab, dann bin ich bei der Hand.

Wer ein uebel los sein will, der weiss immer, was er will; wer was Bessers will, als er hat, der ist ganz starblind—ja ja!

Lacht nur—er spielt Blindekuh, er ertappts vielleicht; aber was?

Tut, was ihr wollt: es ist ganz einerlei!

Nehmt die Freunde zu euch, lasst sie weg: alles einerlei!

Das Vernuenftigste habe ich misslingen sehen, das Abgeschmackteste gelingen.

Zerbrecht euch die Koepfe nicht, und wenns auf eine oder die andre Weise uebel ablaeuft, zerbrecht sie euch auch nicht!

Schickt nur nach mir, und euch soll geholfen werden.

Bis dahin euer Diener!" und so schwang er sich aufs Pferd, ohne den Kaffee abzuwarten.

"Hier siehst du", sagte Charlotte, "wie wenig eigentlich ein Dritter fruchtet, wenn es zwischen zwei nah verbundenen Personen nicht ganz im Gleichgewicht steht.

Gegenwaertig sind wir doch wohl noch verworrner und ungewisser, wenns moeglich ist, als vorher".

Beide Gatten wuerden auch wohl noch eine Zeitlang geschwankt haben, waere nicht ein Brief des Hauptmanns im Wechsel gegen Eduards letzten angekommen.

Er hatte sich entschlossen, eine der ihm angebotenen Stellen anzunehmen, ob sie ihm gleich keineswegs gemaess war.

Er sollte mit vornehmen und reichen Leuten die Langeweile teilen, indem man auf ihn das Zutrauen setzte, dass er sie vertreiben wuerde.

Eduard uebersah das ganze Verhaeltnis recht deutlich und malte es noch recht scharf aus".

"Wollen wir unsern Freund in einem solchen Zustande wissen?" rief er.

"Du kannst nicht so grausam sein, Charlotte!" "der wunderliche Mann, unser Mittler", versetzte Charlotte, "hat am Ende doch recht.

Alle solche Unternehmungen sind Wagestuecke.

Was daraus werden kann, sieht kein Mensch voraus.

Solche neue Verhaeltnisse koennen fruchtbar sein an Glueck und an Unglueck, ohne dass wir uns dabei Verdienst oder Schuld sonderlich zurechnen duerfen.

Ich fuehle mich nicht stark genug, dir laenger zu widerstehen. Lass uns den Versuch machen!

Das einzige, was ich dich bitte: es sei nur auf kurze Zeit angesehen.

Erlaube mir, dass ich mich taetiger als bisher fuer ihn verwende und meinen Einfluss, meine Verbindungen eifrig benutze und aufrege, ihm eine Stelle zu verschaffen, die ihm nach seiner Weise einige Zufriedenheit gewaehren kann".

Eduard versicherte seine Gattin auf die anmutigste Weise der lebhaftesten Dankbarkeit.

Er eilte mit freiem, frohem Gemuet, seinem Freunde Vorschlaege schriftlich zu tun.

Charlotte musste in einer Nachschrift ihren Beifall eigenhaendig hinzufuegen, ihre freundschaftlichen Bitten mit den seinen vereinigen.

Sie schrieb mit gewandter Feder gefaellig und verbindlich, aber doch mit einer Art von Hast, die ihr sonst nicht gewoehnlich war; und was ihr nicht leicht begegnete, sie verunstaltete das Papier zuletzt mit einem Tintenfleck, der sie aergerlich machte und nur groesser wurde, indem sie ihn wegwischen wollte.

Eduard scherzte darueber, und weil noch Platz war, fuegte er eine zweite Nachschrift hinzu: der Freund solle aus diesen Zeichen die Ungeduld sehen, womit er erwartet werde, und nach der Eile, womit der Brief geschrieben, die Eilfertigkeit seiner Reise einrichten.

Der Bote war fort, und Eduard glaubte seine Dankbarkeit nicht ueberzeugender ausdruecken zu koennen, als indem er aber—und abermals darauf bestand, Charlotte solle zugleich Ottilien aus der Pension holen lassen.

Sie bat um Aufschub und wusste diesen Abend bei Eduard die Lust zu einer musikalischen Unterhaltung aufzuregen.

Charlotte spielte sehr gut Klavier, Eduard nicht ebenso bequem die Floete; denn ob er sich gleich zuzeiten viel Muehe gegeben hatte, so war ihm doch nicht die Geduld, die Ausdauer verliehen, die zur Ausbildung eines solchen Talentes gehoert.

Er fuehrte deshalb seine Partie sehr ungleich aus, einige Stellen gut, nur vielleicht zu geschwind; bei andern wieder hielt er an, weil sie ihm nicht gelaeufig waren, und so waer es fuer jeden andern schwer gewesen, ein Duett mit ihm durchzubringen.

Aber Charlotte wusste sich darein zu finden; sie hielt an und liess sich wieder von ihm fortreissen und versah also die doppelte Pflicht eines guten Kapellmeisters und einer klugen Hausfrau, die im ganzen immer das Mass zu erhalten wissen, wenn auch die einzelnen Passagen nicht immer im Takt bleiben sollten.

Der Hauptmann kam.

Er hatte einen sehr verstaendigen Brief vorausgeschickt, der Charlotten voellig beruhigte.

Soviel Deutlichkeit ueber sich selbst, soviel Klarheit ueber seinen eigenen Zustand, ueber den Zustand seiner Freunde gab eine heitere und froehliche Aussicht.

Die Unterhaltungen der ersten Stunden waren, wie unter Freunden zu geschehen pflegt, die sich eine Zeitlang nicht gesehen haben, lebhaft, ja fast erschoepfend.

Gegen Abend veranlasste Charlotte einen Spaziergang auf die neuen Anlagen.

Der Hauptmann gefiel sich sehr in der Gegend und bemerkte jede Schoenheit, welche durch die neuen Wege erst sichtbar und geniessbar geworden.

Er hatte ein geuebtes Auge und dabei ein genuegsames; und ob er gleich das Wuenschenswerte sehr wohl kannte, machte er doch nicht, wie es oefters zu geschehen pflegt, Personen, die ihn in dem Ihrigen herumfuehrten, dadurch einen ueblen Humor, dass er mehr verlangte, als die Umstaende zuliessen, oder auch wohl gar an etwas Vollkommneres erinnerte, das er anderswo gesehen.

Als sie die Mooshuette erreichten, fanden sie solche auf das lustige ausgeschmueckt, zwar nur mit kuenstlichen Blumen und Wintergruen, doch darunter so schoene Bueschel natuerlichen Weizens und anderer Feld—und Baumfruechte angebracht, dass sie dem Kunstsinn der Anordnenden zur Ehre gereichten.

"Obschon mein Mann nicht liebt, dass man seinen Geburts—oder Namenstag feire, so wird er mir doch heute nicht verargen, einem dreifachen Feste diese wenigen Kraenze zu widmen".

"Ein dreifaches?" rief Eduard.

-"Ganz gewiss!" versetzte Charlotte; "unseres Freundes Ankunft behandeln wir billig als ein Fest; und dann habt ihr beide wohl nicht daran gedacht, dass heute euer Namenstag ist.

Heisst nicht einer Otto so gut als der andere?" Beide Freunde reichten sich die Haende ueber den kleinen Tisch.

"Du erinnerst mich", sagte Eduard, "an dieses jugendliche Freundschaftsstueck.—Als Kinder hiessen wir beide so; doch als wir in der Pension zusammenlebten und manche Irrung daraus entstand, so trat ich ihm freiwillig diesen huebschen, lakonischen Namen ab".

"Wobei du denn doch nicht gar zu grossmuetig warst", sagte der Hauptmann.

"Denn ich erinnere mich recht wohl, dass dir der Name Eduard besser gefiel, wie er denn auch, von angenehmen Lippen ausgesprochen, einen besonders guten Klang hat".

Nun sassen sie also zu dreien um dasselbe Tischchen, wo Charlotte so eifrig gegen die Ankunft des Gastes gesprochen hatte.

Eduard in seiner Zufriedenheit wollte die Gattin nicht an jene Stunden erinnern, doch enthielt er sich nicht zu sagen: "fuer ein Viertes waere auch noch recht gut Platz".

Waldhoerner liessen sich in diesem Augenblick vom Schloss herueber vernehmen, bejahten gleichsam und bekraeftigten die guten Gesinnungen und Wuensche der beisammen verweilenden Freunde.

Stillschweigend hoerten sie zu, indem jedes in sich selbst zurueckkehrte und sein eigenes Glueck in so schoener Verbindung doppelt empfand.

Eduard unterbrach die Pause zuerst, indem er aufstand und vor die Mooshuette hinaustrat.

"Lass uns", sagte er zu Charlotten, "den Freund gleich voellig auf die Hoehe fuehren, damit er nicht glaube, dieses beschraenkte Tal nur sei unser Erbgut und Aufenthalt; der Blick wird oben freier und die Brust erweitert sich".

"So muessen wir diesmal noch", versetzte Charlotte, "den alten, etwas beschwerlichen Fusspfad erklimmen; doch, hoffe ich, sollen meine Stufen und Steige naechstens bequemer bis ganz hinauf leiten".

Und so gelangte man denn ueber Felsen, durch Busch und Gestraeuch zur letzten Hoehe, die zwar keine Flaeche, doch fortlaufende, fruchtbare Ruecken bildete.

Dorf und Schloss hinterwaerts waren nicht mehr zu sehen.

In der Tiefe erblickte man ausgebreitete Teiche, drueben bewachsene Huegel, an denen sie sich hinzogen, endlich steile Felsen, welche senkrecht den letzten Wasserspiegel entschieden begrenzten und ihre bedeutenden Formen auf der Oberflaeche desselben abbildeten.

Dort in der Schlucht, wo ein starker Bach den Teichen zufiel, lag eine Muehle halb versteckt, die mit ihren Umgebungen als ein freundliches Ruheplaetzchen erschien.

Mannigfaltig wechselten im ganzen Halbkreise, den man uebersah, Tiefen und Hoehen, Buesche und Waelder, deren erstes Gruen fuer die Folge den fuellereichsten Anblick versprach.

Auch einzelne Baumgruppen hielten an mancher Stelle das Auge fest.

Besonders zeichnete zu den Fuessen der schauenden Freunde sich eine Masse Pappeln und Platanen zunaechst an dem Rande des mittleren Teiches vorteilhaft aus.

Sie stand in ihrem besten Wachstum, frisch, gesund, empor und in die Breite strebend.

Eduard lenkte besonders auf diese die Aufmerksamkeit seines Freundes.

"Diese habe ich", rief er aus, "in meiner Jugend selbst gepflanzt.

Es waren junge Staemmchen, die ich rettete, als mein Vater, bei der Anlage zu einem neuen Teil des grossen Schlossgartnens, sie mitten im Sommer ausroden liess.

Ohne Zweifel werden sie auch dieses Jahr sich durch neue Triebe wieder dankbar hervortun".

Man kehrte zufrieden und heiter zurueck.

Dem Gaste ward auf dem rechten Fluegel des Schlosses ein freundliches, geraeumiges Quartier angewiesen, wo er sehr bald Buecher, Papiere und Instrumente aufgestellt und geordnet hatte, um in seiner gewohnten Taetigkeit fortzufahren.

Aber Eduard liess ihm in den ersten Tagen keine Ruhe; er fuehrte ihn ueberall herum, bald zu Pferde, bald zu Fusse, und machte ihn mit der Gegend, mit dem Gute bekannt; wobei er ihm zugleich die Wuensche mitteilte, die er zu besserer Kenntnis und vorteilhafterer Benutzung desselben seit langer Zeit bei sich hegte.

"Das erste, was wir tun sollten", sagte der Hauptmann, "waere, dass ich die Gegend mit der Magnetnadel aufnaehme.

Es ist das ein leichtes, heiteres Geschaeft, und wenn es auch nicht die groesste Genauigkeit gewaehrt, so bleibt es doch immer nuetzlich und fuer den Anfang erfreulich; auch kann man es ohne grosse Beihuelfe leisten und weiss gewiss, dass man fertig wird.

Denkst du einmal an eine genauere Ausmessung, so laesst sich dazu wohl auch noch Rat finden".

Der Hauptmann war in dieser Art des Aufnehmens sehr geuebt.

Er hatte die noetige Geraetschaft mitgebracht und fing sogleich an.

Er unterrichtete Eduarden, einige Jaeger und Bauern, die ihm bei dem Geschaeft behuelflich sein sollten.

Die Tage waren guenstig; die Abende und die fruehsten Morgen brachte er mit Aufzeichnen und Schraffieren zu.

Schnell war auch alles laviert und illuminiert, und Eduard sah seine Besitzungen auf das deutlichste aus dem Papier wie eine neue Schoepfung hervorwachsen.

Er glaubte sie jetzt erst kennenzulernen, sie schienen ihm jetzt erst recht zu gehoeren.

Es gab Gelegenheit, ueber die Gegend, ueber Anlagen zu sprechen, die man nach einer solchen uebersicht viel besser zustande bringe, als wenn man nur einzeln, nach zufaelligen Eindruecken, an der Natur herumversuche.

"Das muessen wir meiner Frau deutlich machen", sagte Eduard. "Tue das nicht!" versetzte der Hauptmann, der die ueberzeugungen anderer nicht gern mit den seinigen durchkreuzte, den die Erfahrung gelehrt hatte, dass die Ansichten der Menschen viel zu mannigfaltig sind, als dass sie, selbst durch die vernuenftigsten Vorstellungen, auf Einen Punkt versammelt werden koennten.

"Tue es nicht!" rief er, "sie duerfte leicht irre werden.

Es ist ihr wie allen denen, die sich nur aus Liebhaberei mit solchen Dingen beschaeftigen, mehr daran gelegen, dass sie etwas tue, als dass etwas getan werde.

Man tastet an der Natur, man hat Vorliebe fuer dieses oder jenes Plaetzchen; man wagt nicht, dieses oder jenes Hindernis wegzuraeumen, man ist nicht kuehn genug, etwas aufzuopfern; man kann sich voraus nicht vorstellen, was entstehen soll, man probiert, es geraet, es missraet, man veraendert, veraendert vielleicht, was man lassen sollte, laesst, was man veraendern sollte, und so bleibt es zuletzt immer ein Stueckwerk, das gefaellt und anregt, aber nicht befriedigt".

"Gesteh mir aufrichtig", sagte Eduard, "du bist mit ihren Anlagen nicht zufrieden".

"Wenn die Ausfuehrung den Gedanken erschoepfte, der sehr gut ist, so waere nichts zu erinnern.

Sie hat sich muehsam durch das Gestein hinaufgequaelt und quaelt nun jeden, wenn du willst, den sie hinauffuehrt.

Weder nebeneinander noch hintereinander schreitet man mit einer gewissen Freiheit.

Der Takt des Schrittes wird jeden Augenblick unterbrochen; und was liesse sich nicht noch alles einwenden!" "Waere es denn leicht anders zu machen gewesen?" fragte Eduard.

"Gar leicht", versetzte der Hauptmann; "sie durfte nur die eine Felsenecke, die noch dazu unscheinbar ist, weil sie aus kleinen Teilen besteht, wegbrechen, so erlangte sie eine schoen geschwungene Wendung zum Aufstieg und zugleich ueberfluessige Steine, um die Stellen heraufzumauern, wo der Weg schmal und verkrueppelt geworden waere.

Doch sei dies im engsten Vertrauen unter uns gesagt; sie wird sonst irre und verdriesslich.

Auch muss man, was gemacht ist, bestehen lassen.

Will man weiter Geld und Muehe aufwenden, so waere von der Mooshuette hinaufwaerts und ueber die Anhoehe noch mancherlei zu tun und viel Angenehmes zu leisten".

Hatten auf diese Weise die beiden Freunde am Gegenwaertigen manche Beschaeftigung, so fehlte es nicht an lebhafter und vergnueglicher Erinnerung vergangener Tage, woran Charlotte wohl teilzunehmen pflegte.

Auch setzte man sich vor, wenn nur die naechsten Arbeiten erst getan waeren, an die Reisejournale zu gehen und auch auf diese Weise die Vergangenheit hervorzurufen.

uebrigens hatte Eduard mit Charlotten allein weniger Stoff zur Unterhaltung, besonders seitdem er den Tadel ihrer Parkanlagen, der ihm so gerecht schien, auf dem Herzen fuehlte.

Lange verschwieg er, was ihm der Hauptmann vertraut hatte; aber als er seine Gattin zuletzt beschaeftigt sah, von der Mooshuette hinauf zur Anhoehe wieder mit Stuefchen und Pfaedchen sich emporzuarbeiten, so hielt er nicht laenger zurueck, sondern machte sie nach einigen Umschweifen mit seinen neuen Einsichten bekannt.

Charlotte stand betroffen.

Sie war geistreich genug, um schnell einzusehen, dass jene recht hatten; aber das Getane widersprach, es war nun einmal so gemacht; sie hatte es recht, sie hatte es wuenschenswert gefunden, selbst das Getadelte war ihr in jedem einzelnen Teile lieb; sie widerstrebte der ueberzeugung, sie verteidigte ihre kleine Schoepfung, sie schalt auf die Maenner, die gleich ins Weite und Grosse gingen, aus einem Scherz, aus einer Unterhaltung gleich ein Werk machen wollten, nicht an die Kosten denken, die ein erweiterter Plan durchaus nach sich zieht.

Sie war bewegt, verletzt, verdriesslich; sie konnte das Alte nicht fahren lassen, das Neue nicht ganz abweisen; aber entschlossen wie sie war, stellte sie sogleich die Arbeit ein und nahm sich Zeit, die Sache zu bedenken und bei sich reif werden zu lassen.

Indem sie nun auch diese taetige Unterhaltung vermisste, da indes die Maenner ihr Geschaeft immer geselliger betrieben und besonders die Kunstgaerten und Glashaeuser mit Eifer besorgten, auch dazwischen die gewoehnlichen ritterlichen uebungen fortsetzten, als Jagen, Pferdekaufen, -tauschen, -bereiten und -einfahren, so fuehlte sich Charlotte taeglich einsamer.

Sie fuehrte ihren Briefwechsel auch um des Hauptmanns willen lebhafter, und doch gab es manche einsame Stunde.

Desto angenehmer und unterhaltender waren ihr die Berichte, die sie aus der Pensionsanstalt erhielt.

Einem weitlaeufigen Briefe der Vorsteherin, welcher sich wie gewoehnlich ueber der Tochter Fortschritte mit Behagen verbreitete, war eine kurze Nachschrift hinzugefuegt nebst einer Beilage von der Hand eines maennlichen Gehuelfen am Institut, die wir beide mitteilen.

"Von Ottilien, meine Gnaedige, haette ich eigentlich nur zu wiederholen, was in meinen vorigen Berichten enthalten ist.

Ich wuesste sie nicht zu schelten, und doch kann ich nicht zufrieden mit ihr sein.

Sie ist nach wie vor bescheiden und gefaellig gegen andere; aber dieses Zuruecktreten, diese Dienstbarkeit will mir nicht gefallen.

Euer Gnaden haben ihr neulich Geld und verschiedene Zeuge geschickt.

Das erste hat sie nicht angegriffen, die andern liegen auch noch da, unberuehrt.

Sie haelt freilich ihre Sachen sehr reinlich und gut und scheint nur in diesem Sinn die Kleider zu wechseln.

Auch kann ich ihre grosse Maessigkeit im Essen und Trinken nicht loben.

An unserm Tisch ist kein ueberfluss; doch sehe ich nichts lieber, als wenn die Kinder sich an schmackhaften und gesunden Speisen satt essen.

Was mit Bedacht und ueberzeugung aufgetragen und vorgelegt ist, soll auch aufgegessen werden.

Dazu kann ich Ottilien niemals bringen.

Ja, sie macht sich irgendein Geschaeft, um eine Luecke auszufuellen, wo die Dienerinnen etwas versaeumen, nur um eine Speise oder den Nachtisch zu uebergehen.

Bei diesem allen kommt jedoch in Betrachtung, dass sie manchmal, wie ich erst spaet erfahren habe, Kopfweh auf der linken Seite hat, das zwar voruebergeht, aber schmerzlich und bedeutend sein mag.

Soviel von diesem uebrigens so schoenen und lieben Kinde".

"Unsere vortreffliche Vorsteherin laesst mich gewoehnlich die Briefe lesen, in welchen sie Beobachtungen ueber ihre Zoeglinge den Eltern und Vorgesetzten mitteilt.

Diejenigen, die an Euer Gnaden gerichtet sind, lese ich immer mit doppelter Aufmerksamkeit, mit doppeltem Vergnuegen; denn indem wir Ihnen zu einer Tochter Glueck zu wuenschen haben, die alle jene glaenzenden Eigenschaften vereinigt, wodurch man in der Welt emporsteigt, so muss ich wenigstens Sie nicht minder gluecklich preisen, dass Ihnen in Ihrer Pflegetochter ein Kind beschert ist, das zum Wohl, zur Zufriedenheit anderer und gewiss auch zu seinem eigenen Glueck geboren ward. Ottilie ist fast unser einziger Zoegling, ueber den ich mit unserer so verehrten Vorsteherin nicht einig werden kann.

Ich verarge dieser taetigen Frau keinesweges, dass sie verlangt, man soll die Fruechte ihrer Sorgfalt aeusserlich und deutlich sehen; aber es gibt auch verschlossene Fruechte, die erst die rechten, kernhaften sind und die sich frueher oder spaeter zu einem schoenen Leben entwickeln.

Dergleichen ist gewiss Ihre Pflegetochter.

Solange ich sie unterrichte, sehe ich sie immer gleichen Schrittes gehen, langsam, langsam vorwaerts, nie zurueck.

Wenn es bei einem Kinde noetig ist, vom Anfange anzufangen, so ist es gewiss bei ihr.

Was nicht aus dem Vorhergehenden folgt, begreift sie nicht.

Sie steht unfaehig, ja stoeckisch vor einer leicht fasslichen Sache, die fuer sie mit nichts zusammenhaengt.

Kann man aber die Mittelglieder finden und ihr deutlich machen, so ist ihr das Schwerste begreiflich.

Bei diesem langsamen Vorschreiten bleibt sie gegen ihre Mitschuelerinnen zurueck, die mit ganz andern Faehigkeiten immer vorwaertseilen, alles, auch das Unzusammenhaengende, leicht fassen, leicht behalten und bequem wieder anwenden.

So lernt sie, so vermag sie bei einem beschleunigten Lehrvortrage gar nichts; wie es der Fall in einigen Stunden ist, welche von trefflichen, aber raschen und ungeduldigen Lehrern gegeben werden.

Man hat ueber ihre Handschrift geklagt, ueber ihre Unfaehigkeit, die Regeln der Grammatik zu fassen.

Ich habe diese Beschwerde naeher untersucht: es ist wahr, sie schreibt langsam und steif, wenn man so will, doch nicht zaghaft und ungestalt.

Was ich ihr von der franzoesischen Sprache, die zwar mein Fach nicht ist, schrittweise mitteilte, begriff sie leicht.

Freilich ist es wunderbar: sie weiss vieles und recht gut; nur wenn man sie fragt, scheint sie nichts zu wissen.

Soll ich mit einer allgemeinen Bemerkung schliessen, so moechte ich sagen: sie lernt nicht als eine, die erzogen werden soll, sondern als eine, die erziehen will; nicht als Schuelerin, sondern als kuenftige Lehrerin.

Vielleicht kommt es Euer Gnaden sonderbar vor, dass ich selbst als Erzieher und Lehrer jemanden nicht mehr zu loben glaube, als wenn ich ihn fuer meinesgleichen erklaere.

Euer Gnaden bessere Einsicht, tiefere Menschen—und Weltkenntnis wird aus meinen beschraenkten, wohlgemeinten Worten das Beste nehmen.

Sie werden sich ueberzeugen, dass auch an diesem Kinde viel Freude zu hoffen ist.

Ich empfehle mich zu Gnaden und bitte um die Erlaubnis, wieder zu schreiben, sobald ich glaube, dass mein Brief etwas Bedeutendes und Angenehmes enthalten werde".

Charlotte freute sich ueber dieses Blatt.

Sein Inhalt traf ganz nahe mit den Vorstellungen zusammen, welche sie von Ottilien hegte; dabei konnte sie sich eines Laechelns nicht enthalten, indem der Anteil des Lehrers herzlicher zu sein schien, als ihn die Einsicht in die Tugenden eines Zoeglings hervorzubringen pflegt.

Bei ihrer ruhigen, vorurteilsfreien Denkweise liess sie auch ein solches Verhaeltnis, wie so viele andre, vor sich liegen; die Teilnahme des verstaendigen Mannes an Ottilien hielt sie wert; denn sie hatte in ihrem Leben genugsam einsehen gelernt, wie hoch jede wahre Neigung zu schaetzen sei in einer Welt, wo Gleichgueltigkeit und Abneigung eigentlich recht zu Hause sind.

Die topographische Karte, auf welcher das Gut mit seinen Umgebungen nach einem ziemlich grossen Massstabe charakteristisch und fasslich durch Federstriche und Farben dargestellt war und welche der Hauptmann durch einige trigonometrische Messungen sicher zu gruenden wusste, war bald fertig; denn weniger Schlaf als dieser taetige Mann bedurfte kaum jemand, so wie sein Tag stets dem augenblicklichen Zwecke gewidmet und deswegen jederzeit am Abende etwas getan war.

"Lass uns nun", sagte er zu seinem Freunde, "an das uebrige gehen, an die Gutsbeschreibung, wozu schon genugsame Vorarbeit da sein muss, aus der sich nachher Pachtanschlaege und anderes schon entwickeln werden.

Nur Eines lass uns festsetzen und einrichten: trenne alles, was eigentlich Geschaeft ist, vom Leben!

Das Geschaeft verlangt Ernst und Strenge, das Leben Willkuer; das Geschaeft die reinste Folge, dem Leben tut eine Inkonsequenz oft not, ja sie ist liebenswuerdig und erheiternd.

Bist du bei dem einen sicher, so kannst du in dem andern desto freier sein, anstatt dass bei einer Vermischung das Sichre durch das Freie weggerissen und aufgehoben wird".

Eduard fuehlte in diesen Vorschlaegen einen leisen Vorwurf.

Zwar von Natur nicht unordentlich, konnte er doch niemals dazu kommen, seine Papiere nach Faechern abzuteilen.

Das, was er mit andern abzutun hatte, was bloss von ihm selbst abhing, es war nicht geschieden, so wie er auch Geschaefte und Beschaeftigung, Untrhaltung und Zerstreuung nicht genugsam voneinander absonderte.

Jetzt wurde es ihm leicht, da ein Freund diese Bemuehung uebernahm, ein zweites Ich die Sonderung bewirkte, in die das eine Ich nicht immer sich spalten mag.

Sie errichteten auf dem Fluegel des Hauptmanns eine Repositur fuer das Gegenwaertige, ein Archiv fuer das Vergangene, schafften alle Dokumente, Papiere, Nachrichten aus verschiedene Behaeltnissen, Kammern, Schraenken und Kisten herbei, und auf das geschwindeste war der Wust in eine erfreuliche Ordnung gebracht, lag rubriziert in bezeichneten Faechern. Was man wuenschte, ward vollstaendiger gefunden, als man gehofft hatte.

Hierbei ging ihnen ein alter Schreiber sehr an die Hand, der den Tag ueber, ja einen Teil der nicht vom Pulte kam und mit dem Eduard bisher immer unzufrieden gewesen war.

"Ich kenne ihn nicht mehr", sagte Eduard zu seinem Freund, "wie taetig und brauchbar der Mensch ist".

-"Das macht", versetzte der Hauptmann, "wir tragen ihm nichts Neues auf, als bis er das Alte nach seiner Bequemlichkeit vollendet hat; und so leistet er, wie du siehst, sehr viel; sobald man ihn stoert, vermag er gar nichts".

Brachten die Freunde auf diese Weise ihre Tage zusammen zu, so versaeumten sie abends nicht, Charlotten regelmaessig zu besuchen.

Fand sich keine Gesellschaft von benachbarten Orten und Guetern, welches oefters geschah, so war das Gespraech wie das Lesen meist solchen Gegenstaenden gewidmet, welche den Wohlstand, die Vorteile und das Behagen der buergerlichen Gesellschaft vermehren.

Charlotte, ohnehin gewohnt, die Gegenwart zu nutzen, fuehlte sich, indem sie ihren Mann zufrieden sah, auch persoenlich gefoerdert.

Verschiedene haeusliche Anstalten, die sie laengst gewuenscht, aber nicht recht einleiten koennen, wurden durch die Taetigkeit des Hauptmanns bewirkt.

Die Hausapotheke, die bisher nur aus wenigen Mitteln bestanden, ward bereichert und Charlotte so wohl durch fassliche Buecher als durch Unterredung in den Stand gesetzt, ihr taetiges und huelfreiches Wesen oefter und wirksamer als bisher in uebung zu bringen.

Da man auch die gewoehnlichen und dessen ungeachtet nur zu oft ueberraschenden Notfaelle durchdachte, so wurde alles, was zur Rettung der Ertrunkenen noetig sein moechte, um so mehr angeschafft, als bei der Naehe so mancher Teiche, Gewaesser und Wasserwerke oefters ein und der andere Unfall dieser Art vorkam.

Diese Rubrik besorgte der Hauptmann sehr ausfuehrlich, und Eduarden entschluepfte die Bemerkung, dass ein solcher Fall in dem Leben seines Freundes auf die seltsamste Weise Epoche gemacht.

Doch als dieser schwieg und einer traurigen Erinnerung auszuweichen schien, hielt Eduard gleichfalls an, so wie auch Charlotte, die nicht weniger im allgemeinen davon unterrichtet war, ueber jene aeusserungen hinausging.

"Wie wollen alle diese vorsorglichen Anstalten loben", sagte eines Abends der Hauptmann; "nun geht uns aber das Notwendigste noch ab, ein tuechtiger Mann, der das alles zu handhaben weiss.

Ich kann hiezu einen mir bekannten Feldchirurgus vorschlagen, der jetzt um leidliche Bedingung zu haben ist, ein vorzueglicher Mann in seinem Fache, und der mir auch in Behandlung heftiger innerer uebel oefters mehr Genuege getan hat als ein beruehmter Arzt; und augenblickliche Huelfe ist doch immer das, was auf dem Lande am meisten vermisst wird".

Auch dieser wurde sogleich verschrieben, und beide Gatten freuten sich, dass sie so manche Summe, die ihnen zu willkuerlichen Ausgaben uebrigblieb, auf die noetigsten zu verwenden Anlass gefunden.

So benutzte Charlotte die Kenntnisse, die Taetigkeit des Hauptmanns auch nach ihrem Sinne und fing an, mit seiner Gegenwart voellig zufrieden und ueber alle Folgen beruhigt zu werden.

Sie bereitete sich gewoehnlich vor, manches zu fragen, und da sie gern leben mochte, so suchte sie alles Schaedliche, alles Toedliche zu entfernen.

Die Bleiglasur der Toepferwaren, der Gruenspan kupferner Gefaesse hatte ihr schon manche Sorge gemacht.

Sie liess sich hierueber belehren, und natuerlicherweise musste man auf die Grundbegriffe der Physik und Chemie zurueckgehen.

Zufaelligen, aber immer willkommenen Anlass zu solchen Unterhaltungen gab Eduards Neigung, der Gesellschaft vorzulesen.

Er hatte eine sehr wohlklingende, tiefe Stimme und war frueher wegen lebhafter, gefuehlter Rezitation dichterischer und rednerischer Arbeiten angenehm und beruehmt gewesen.

Nun waren es andre Gegenstaende, die ihn beschaeftigten, andre Schriften, woraus er vorlas, und eben seit einiger Zeit vorzueglich Werke physischen, chemischen und technischen Inhalts.

Eine seiner besondern Eigenheiten, die er jedoch vielleicht mit mehrern Menschen teilt, war die, dass es ihm unertraeglich fiel, wenn jemand ihm beim Lesen in das Buch sah.

In frueherer Zeit, beim Vorlesen von Gedichten, Schauspielen, Erzaehlungen, war es die natuerliche Folge der lebhaften Absicht, die der Vorlesende so gut als der Dichter, der Schauspieler, der Erzaehlende hat, zu ueberraschen, Pausen zu machen, Erwartungen zu erregen; da es denn freilich dieser beabsichtigten Wirkung sehr zuwider ist, wenn ihm ein Dritter wissentlich mit den Augen vorspringt.

Er pflegte sich auch deswegen in solchem Falle immer so zu setzen, dass er niemand im Ruecken hatte.

Jetzt zu dreien war diese Vorsicht unnoetig; und da es diesmal nicht auf Erregung des Gefuehls, auf ueberraschung der Einbildungskraft angesehen war, so dachte er selbst nicht daran, sich sonderlich in acht zu nehmen.

Nur eines Abends fiel es ihm auf, als er sich nachlaessig gesetzt hatte, dass Charlotte ihm in das Buch sah.

Seine alte Ungeduld erwachte, und er verwies es ihr, gewissermassen unfreundlich: "wollte man sich doch solche Unarten, wie so manches andre, was der Gesellschaft laestig ist, ein fuer allemal abgewoehnen!

Wenn ich jemand vorlese, ist es denn nicht, als wenn ich ihm muendlich etwas vortruege?

Das Geschriebene, das Gedruckte tritt an die Stelle meines eigenen Sinnes, meines eigenen Herzens; und wuerde ich mich wohl zu reden bemuehen, wenn ein Fensterchen vor meiner Stirn, vor meiner Brust angebracht waere, so dass der, dem ich meine Gedanken einzeln zuzaehlen, meine Empfindungen einzeln zureichen will, immer schon lange vorher wissen koennte, wo es mit mir hinaus wollte?

Wenn mir jemand ins Buch sieht, so ist mir immer, als wenn ich in zwei Stuecke gerissen wuerde".

Charlotte, deren Gewandtheit sich in groesseren und kleineren Zirkeln besonders dadurch bewies, dass sie jede unangenehme, jede heftige, ja selbst nur lebhafte aeusserung zu beseitigen, ein sich verlaengerndes Gespraech zu unterbrechen, ein stockendes anzuregen wusste, war auch diesmal von ihrer guten Gabe nicht verlassen:" du wirst mir meinen Fehler gewiss verzeihen, wenn ich bekenne, was mir diesen Augenblick begegnet ist.

Ich hoerte von Verwandtschaften lesen, und da dacht ich eben gleich an meine Verwandten, an ein paar Vettern, die mir gerade in diesem Augenblick zu schaffen machen.

Meine Aufmerksamkeit kehrt zu deiner Vorlesung zurueck; ich hoere, dass von ganz leblosen Dingen die Rede ist, und blicke dir ins Buch, um mich wieder zurechtzufinden".

"Es ist eine Gleichnisrede, die dich verfuehrt und verwirrt hat", sagte Eduard.

"Hier wird freilich nur von Erden und Mineralien gehandelt, aber der Mensch ist ein wahrer Narziss; er bespiegelt sich ueberall gern selbst, er legt sich als Folie der ganzen Welt unter".

"Jawohl!" fuhr der Hauptmann fort; "so behandelt er alles, was er ausser sich findet; seine Weisheit wie seine Torheit, seinen Willen wie seine Willkuer leiht er den Tieren, den Pflanzen, den Elementen und den Goettern".

"Moechtet ihr mich", versetzte Charlotte, "da ich euch nicht zu weit von dem augenblicklichen Interesse wegfuehren will, nur kuerzlich belehren, wie es eigentlich hier mit den Verwandtschaften gemeint sei?" "Das will ich wohl gerne tun", erwiderte der Hauptmann, gegen den sich Charlotte gewendet hatte, "freilich nur so gut, als ich es vermag, wie ich es etwa vor zehn Jahren gelernt, wie ich es gelesen habe.

Ob man in der wissenschaftlichen Welt noch so darueber denkt, ob es zu den neuern Lehren passt, wuesste ich nicht zu sagen".

"Es ist schlimm genug", rief Eduard, "dass man jetzt nichts mehr fuer sein ganzes Leben lernen kann.

Unsre Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber muessen jetzt alle fuenf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen".

"Wir Frauen", sagte Charlotte, "nehmen es nicht so genau; und wenn ich aufrichtig sein soll, so ist es mir eigentlich nur um den Wortverstand zu tun; denn es macht in der Gesellschaft nichts laecherlicher, als wenn man ein fremdes, ein Kunstwort falsch anwendet.

Deshalb moechte ich nur wissen, in welchem Sinne dieser Ausdruck eben bei diesen Gegenstaenden gebraucht wird.

Wie es wissenschaftlich damit zusammenhaenge, wollen wir den Gelehrten ueberlassen, die uebrigens, wie ich habe bemerken koennen, sich wohl schwerlich jemals vereinigen werden".

"Wo fangen wir aber nun an, um am schnellsten in die Sache zu kommen?" fragte Eduard nach einer Pause den Hauptmann, der, sich ein wenig bedenkend, bald darauf erwiderte: "wenn es mir erlaubt ist, dem Scheine nach weit auszuholen, so sind wir bald am Platze".

"Sein Sie meiner ganzen Aufmerksamkeit versichert", sagte Charlotte, indem sie ihre Arbeit beseitelegte.

Und so begann der Hauptmann: "an allen Naturwesen, die wir gewahr werden, bemerken wir zuerst, dass sie einen Bezug auf sich selbst haben.

Es klingt freilich wunderlich, wenn man etwas ausspricht, was sich ohnehin versteht; doch nur indem man sich ueber das Bekannte voellig verstaendig hat, kann man miteinander zum Unbekannten fortschreiten ".

"Ich daechte", fiel ihm Eduard ein, "wir machten ihr und uns die Sache durch Beispiele bequem.

Stelle dir nur das Wasser, das oel, das Quicksilber vor, so wirst du eine Einigkeit, einen Zusammenhang ihrer Teile finden.

Diese Einung verlassen sie nicht, ausser durch Gewalt oder sonstige Bestimmung.

Ist diese beseitigt, so treten sie gleich wieder zusammen". "Ohne Frage", sagte Charlotte beistimmend.

"Regentropfen vereinigen sich gern zu Stroemen.

Und schon als Kinder spielen wir erstaunt mit dem Quecksilber, indem wir es in Kuegelchen trennen und es wieder zusammenlaufen lassen". "Und so darf ich wohl", fuegte der Hauptmann hinzu, "eines bedeutenden Punktes im fluechtigen Vorbeigehen erwaehnen, dass naemlich dieser voellig reine, durch Fluessigkeit moegliche Bezug sich entschieden und immer durch die Kugelgestalt auszeichnet.

Der fallende Wassertropfen ist rund; von den Quecksilberkuegelchen haben Sie selbst gesprochen; ja ein fallendes geschmolzenes Blei, wenn es Zeit hat, voellig zu erstarren, kommt unten in Gestalt einer Kugel an".

"Lassen Sie mich voreilen", sagte Charlotte, "ob ich treffe, wo Sie hinwollen.

Wie jedes gegen sich selbst einen Bezug hat, so muss es auch gegen andere ein Verhaeltnis haben".

"Und das wird nach Verschiedenheit der Wesen verschieden sein", fuhr Eduard eilig fort.

"Bald werden sie sich als Freunde und alte Bekannte begegnen, die schnell zusammentreten, sich vereinigen, ohne aneinander etwas zu veraendern, wie sich Wein mit Wasser vermischt.

Dagegen werden andre fremd nebeneinander verharren und selbst durch mechanisches Mischen und Reiben sich keinesweges verbinden; wie oel und Wasser, zusammengeruettelt, sich den Augenblick wieder auseinander sondert".

"Es fehlt nicht viel", sagte Charlotte, "so sieht man in diesen einfachen Formen die Menschen, die man gekannt hat; besonders aber erinnert man sich dabei der Sozietaeten, in denen man lebte.

Die meiste aehnlichkeit jedoch mit diesen seelenlosen Wesen haben die Massen, die in der Welt sich einander gegenueberstellen, die Staende, die Berufsbestimmungen, der Adel und der dritte Stand, der Soldat und der Zivilist".

"Und doch!" versetzte Eduard; "wie diese durch Sitten und Gesetze vereinbar sind, so gibt es auch in unserer chemischen Welt Mittelglieder, dasjenige zu verbinden, was sich einander abweist".

"So verbinden wir", fiel der Hauptmann ein, "das oel durch Laugensalz mit dem Wasser".

"Nur nicht zu geschwind mit Ihrem Vortrag!" sagte Charlotte, "damit ich zeigen kann, dass ich Schritt halte.

Sind wir nicht hier schon zu den Verwandtschaften gelangt?" "ganz richtig", erwiderte der Hauptmann; "und wir werden sie gleich in ihrer vollen Kraft und Bestimmtheit kennenlernen.

Die jenigen Naturen, die sich beim Zusammentreffen einander schnell ergreifen und wechselseitig bestimmen, nennen wir verwandt.

An den Alkalien und Saeuren, die, obgleich einander entgegengesetzt und vielleicht eben deswegen, weil sie einander entgegengesetzt sind, sich am entschiedensten suchen und fassen, sich modifizieren und zusammen einen neuen Koerper bilden, ist diese Verwandtschaft auffallend genug.

Gedenken wir nur des Kalks, der zu allen Saeuren eine grosse Neigung, eine entschiedene Vereinigungslust aeussert!

Sobald unser chemisches Kabinett ankommt, wollen wir Sie verschiedene Versuche sehen lassen, die sehr unterhaltend sind und einen bessern Begriff geben als Worte, Namen und Kunstausdruecke".

"Lassen Sie mich gestehen", sagte Charlotte, "wenn Sie diese Ihre wunderlichen Wesen verwandt nennen, so kommen sie mir nicht sowohl als Blutsverwandte, vielmehr als Geistes—und Seelenverwandte vor. Auf eben diese Weise koennen unter Menschen wahrhaft bedeutende Freundschaften entstehen; denn entgegengesetzte Eigenschaften machen eine innigere Vereinigung moeglich.

Und so will ich denn abwarten, was Sie mir von diesen geheimnisvollen Wirkungen vor die Augen bringen werden.

"Ich will dich", sagte sie, zu Eduard gewendet, "jetzt im Vorlesen nicht weiter stoeren und, um so viel besser unterrichtet, deinen Vortrag mit Aufmerksamkeit vernehmen".

"Da du uns einmal aufgerufen hast", versetzte Eduard, "so kommst du so leicht nicht los; denn eigentlich sind die verwickelten Faelle die interessantesten.

Erst bei diesen lernt man die Grade der Verwandtschaften, die naehern, staerkern, entferntern, geringern Beziehungen kennen; die Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidungen bewirken". "Kommt das traurige Wort", rief Charlotte, "das man leider in der Welt jetzt so oft hoert, auch in der Naturlehre vor?" "Allerdings!" erwiderte Eduard.

"Es war sogar ein bezeichnender Ehrentitel der Chemiker, dass man sie Scheidekuenstler nannte".

"Das tut man also nicht mehr", versetzte Charlotte, "und tut sehr wohl daran.

Das Vereinigen ist eine groessere Kunst, ein groesseres Verdienst.

Ein Einungskuenstler waere in jedem Fache der ganzen Welt willkommen.

"Nun so lasst mich denn, weil ihr doch einmal im Zug seid, ein paar solche Faelle wissen!" "So schliessen wir uns denn gleich", sagte der Hauptmann, "an dasjenige wieder an, was wir oben schon benannt und besprochen haben.

Zum Beispiel was wir Kalkstein nennen, ist eine mehr oder weniger reine Kalkerde, innig mit einer zarten Saeure verbunden, die uns in Luftform bekannt geworden ist.

Bringt man ein Stueck solchen Steines in verduennte Schwefelsaeure, so ergreift diese den Kalk und erscheint mit ihm als Gips; jene zarte, luftige Saeure hingegen entflieht.

Hier ist eine Trennung, eine neue Zusammensetzung entstanden, und man glaubt sich nunmehr berechtigt, sogar das Wort Wahlverwandtschaft anzuwenden, weil es wirklich aussieht, als wenn ein Verhaeltnis dem andern vorgezogen, eins vor dem andern erwaehlt wuerde".

"Verzeihen Sie mir", sagte Charlotte, "wie ich dem Naturforscher verzeihe; aber ich wuerde hier niemals eine Wahl, eher eine Naturnotwendigkeit erblicken, und diese kaum; denn es ist am Ende vielleicht gar nur die Sache der Gelegenheit.

Gelegenheit macht Verhaeltnisse, wie sie Diebe macht; und wenn von Ihren Naturkoerpern die Rede ist, so scheint mir die Wahl bloss in den Haenden des Chemikers zu liegen, der diese Wesen zusammenbringt.

Sind sie aber einmal beisammen, dann gnade ihnen Gott!

In dem gegenwaertigen Falle dauert mich nur die arme Luftsaeure, die sich wieder im Unendlichen herumtreiben muss".

"Es kommt nur auf sie an", versetzte der Hauptmann, "sich mit dem Wasser zu verbinden und als Mineralquelle Gesunden und Kranken zur Erquickung zu dienen".

"Der Gips hat gut reden", sagte Charlotte; "der ist nun fertig, ist ein Koerper, ist versorgt, anstatt dass jenes ausgetriebene Wesen noch manche Not haben kann, bis es wieder unterkommt".

"Ich muesste sehr irren", sagte Eduard laechelnd, "oder es steckt eine kleine Tuecke hinter deinen Reden.

Gesteh nur deine Schalkheit!

Am Ende bin ich in deinen Augen der Kalk, der vom Hauptmann, als einer Schwefelsaeure, ergriffen, deiner anmutigen Gesellschaft entzogen und in einen refraktaeren Gips verwandelt wird".

"Wenn das Gewissen", versetzte Charlotte, "dich solche Betrachtungen machen heisst, so kann ich ohne Sorge sein.

Diese Gleichnisreden sind artig und unterhaltend, und wer spielt nicht gern mit aehnlichkeiten!

Aber der Mensch ist doch um so manche Stufe ueber jene Elemente erhoeht, und wenn er hier mit den schoenen Worten Wahl und Wahlverwandtschaft etwas freigebig gewesen, so tut er wohl, wieder in sich selbst zurueckzukehren und den Wert solcher Ausdruecke bei diesem Anlass recht zu bedenken.

Mir sind leider Faelle genug bekannt, wo eine innige, unaufloeslich scheinende Verbindung zweier Wesen durch gelegentlich Zugesellung eines dritten aufgehoben und eins der erst so schoen verbundenen ins lose Weite hinausgetrieben ward".

"Da sind die Chemiker viel galanter", sagte Eduard; "sie gesellen ein viertes dazu, damit keines leer ausgehe".

"Jawohl!" versetzte der Hauptmann; "diese Faelle sind allerdings die bedeutendsten und merkwuerdigsten, wo man das Anziehen, das Verwandtsein, dieses Verlassen, dieses Vereinigen gleichsam uebers Kreuz wirklich darstellen kann, wo vier bisher je zwei zu zwei verbundene Wesen, in Beruehrung gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und sich aufs neue verbinden.

In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in diesem Fliehen und Suchen glaubt man wirklich eine hoehere Bestimmung zu sehen; man traut solchen Wesen eine Art von Wollen und Waehlen zu und haelt das Kunstwort ’Wahlverwandtschaften’ fuer vollkommen gerechtfertigt".

"Beschreiben Sie mir einen solchen Fall!" sagte Charlotte. "Man sollte dergleichen", versetzte der Hauptmann, "nicht mit Worten abtun.

Wie schon gesagt: sobald ich Ihnen die Versuche selbst zeigen kann, wird alles anschaulicher und angenehmer werden.

Jetzt muesste ich Sie mit schrecklichen Kunstworten hinhalten, die Ihnen doch keine Vorstellung gaeben.

Man muss diese tot scheinenden und doch zur Taetigkeit innerlich immer bereiten Wesen wirkend vor seinen Augen sehen, mit Teilnahme schauen, wie sie einander suchen, sich anziehen, ergreifen, zerstoeren, verschlingen, aufzehren und sodann aus der innigsten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten : dann traut man ihnen erst ein ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Verstand zu, weil wir unsere Sinne kaum genuegend fuehlen, sie recht zu beobachten, und unsre Vernunft kaum hinlaenglich, sie zu fassen".

"Ich leugne nicht", sagte Eduard, "dass die seltsamen Kunstwoerter demjenigen, der nicht durch sinnliches Anschauen, durch Begriffe mit ihnen versoehnt ist, beschwerlich, ja laecherlich werden muessen.

Doch koennten wir leicht mit Buchstaben einstweilen das Verhaeltnis ausdruecken, wovon hier die Rede war".

"Wenn Sie glauben, dass es nicht pedantisch aussieht", versetzte der Hauptmann, "so kann ich wohl in der Zeichensprache mich kuerzlich zusammenfassen.

Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken Sie sich ein C, das sich ebenso zu einem D verhaelt; bringen Sie nun die beiden Paare in Beruehrung: A wird sich zu C, C zu B werfen, ohne dass man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem andern zuerst wieder verbunden habe".

"Nun denn!" fiel Eduard ein; "bis wir alles dieses mit Augen sehen, wollen wir diese Formel als Gleichnisrede betrachten, woraus wir uns eine Lehre zum unmittelbaren Gebrauch ziehen.

Du stellst das A vor, Charlotte, und ich dein B; denn eigentlich haenge ich doch nur von dir ab und folge dir wie dem A das B.

Das C ist ganz deutlich der Kapitaen, der mich fuer diesmal dir einigermassen entzieht.

Nun ist es billig, dass, wenn du nicht ins Unbestimmte entweichen sollst, dir fuer ein D gesorgt werde, und das ist ganz ohne Frage das liebenswuerdige Daemchen Ottilie, gegen deren Annaeherung du dich nicht laenger verteidigen darfst".

"Gut!" versetzte Charlotte.

"Wenn auch das Beispiel, wie mir scheint, nicht ganz auf unsern Fall passt, so halte ich es doch fuer ein Glueck, dass wir heute einmal voellig zusammentreffen und dass diese Natur—und Wahlverwandtschaften unter uns eine vertrauliche Mitteilung beschleunigen. Ich will es also nur gestehen, dass ich seit diesem Nachmittage entschlossen bin, Ottilien zu berufen; denn meine bisherige treue Beschliesserin und Haushaelterin wird abziehen, weil sie heiratet.

Dies waere von meiner Seite und um meinetwillen; was mich um Ottiliens willen bestimmt, das wirst du uns vorlesen.

Ich will dir nicht ins Blatt sehen, aber freilich ist mir der Inhalt schon bekannt.

Doch liess nur, lies!" Mit diesen Worten zog sie einen Brief hervor und reichte ihn Eduarden.

"Euer Gnaden werden verzeihen, wenn ich mich heute ganz kurz fassen; denn ich habe nach vollendeter oeffentlicher Pruefung dessen, was wir im vergangenen Jahr an unsern Zoeglingen geleistet haben, an die saemtlichen Eltern und Vorgesetzten den Verlauf zu melden; auch darf ich wohl kurz sein, weil ich mit wenigem viel sagen kann.

Ihre Fraeulein Tochter hat sich in jedem Sinne als die Erste bewiesen.

Die beiliegenden Zeugnisse, ihr eigner Brief, der die Beschreibung der Preise enthaelt, die ihr geworden sind, und zugleich das Vergnuegen ausdrueckt, das sie ueber ein so glueckliches Gelingen empfindet, wird Ihnen zur Beruhigung, ja zur Freude gereichen.

Die meinige wird dadurch einigermassen gemindert, dass ich voraussehe, wir werden nicht lange mehr Ursache haben, ein so weit vorgeschrittenes Frauenzimmer bei uns zurueckzuhalten.

Ich empfehle mich zu Gnaden und nehme mir die Freiheit, naechstens meine Gedanken ueber das, was ich am vorteilhaftesten fuer sie halte, zu eroeffnen.

Von Ottilien schreibt mein freundlicher Gehuelfe".

"Von Ottilien laesst mich unsre ehrwuerdige Vorsteherin schreiben, teils weil es ihr, nach ihrer Art zu denken, peinlich waere, dasjenige, was zu melden ist, zu melden, teils auch, weil sie selbst einer Entschuldigung bedarf, die sie lieber mir in den Mund legen mag.

Da ich nur allzuwohl weiss, wie wenig die gute Ottilie das zu aeussern imstande ist, was in ihr liegt und was sie vermag, so war mir vor der oeffentlichen Pruefung einigermassen bange, um so mehr, als ueberhaupt dabei keine Vorbereitung moeglich ist, und auch, wenn es nach der gewoehnlichen Weise sein koennte, Ottilie auf den Schein nicht vorzubereiten waere.

Der Ausgang hat meine Sorge nur zu sehr gerechtfertigt; sie hat keinen Preis erhalten und ist auch unter denen, die kein Zeugnis empfangen haben.

Was soll ich viel sagen?

Im Schreiben hatten andere kaum so wohlgeformte Buchstaben, doch viel freiere Zuege; im Rechnen waren alle schneller, und an schwierige Aufgaben, welche sie besser loest, kam es bei der Untersuchung nicht.

Im Franzoesischen ueberparlierten und ueberexponierten sie manche; in der Geschichte waren ihr Namen und Jahrzahlen nicht gleich bei der Hand; bei der Geographie vermisste man Aufmerksamkeit auf die politische Einleitung.

Zum musikalischen Vortrag ihrer wenigen bescheidenen Melodien fand sich weder Zeit noch Ruhe.

Im Zeichnen haette sie gewiss den Preis davongetragen; ihre Umrisse waren rein und die Ausfuehrung bei vieler Sorgfalt geistreich.

Leider hatte sie etwas zu Grosses unternommen und war nicht fertig geworden.

Als die Schuelerinnen abgetreten waren, die Pruefenden zusammen Rat hielten und uns Lehrern wenigstens einiges Wort dabei goennten, merkte ich wohl bald, dass von Ottilien gar nicht und, wenn es geschah, wo nicht mit Missbilligung, doch mit Gleichgueltigkeit gesprochen wurde.

Ich hoffte, durch eine offne Darstellung ihrer Art zu sein einige Gunst zu erregen, und wagte mich daran mit doppeltem Eifer, einmal, weil ich nach meiner ueberzeugung sprechen konnte, und sodann, weil ich mich in juengeren Jahren in eben demselben traurigen Fall befunden hatte.

Man hoerte mich mit Aufmerksamkeit an; doch als ich geendigt hatte, sagte mir der vorsitzende Pruefende zwar freundlich, aber lakonisch: ’Faehigkeiten werden vorausgesetzt, sie sollen zu Fertigkeiten werden.

Dies ist der Zweck aller Erziehung, dies ist die laute, deutliche Absicht der Eltern und Vorgesetzten, die stille, nur halb bewusste der Kinder selbst.

Dies ist auch der Gegenstand der Pruefung, wobei zugleich Lehrer und Schueler beurteilt werden.

Aus dem, was wir von Ihnen vernehmen, schoepfen wir gute Hoffnung von dem Kinde, und Sie sind allerdings lobenswuerdig, indem Sie auf die Faehigkeiten der Schuelerinnen genau achtgeben.

Verwandeln Sie solche uebers Jahr in Fertigkeiten, so wird es Ihnen und Ihrer beguenstigten Schuelerin nicht an Beifall mangeln.

’ In das, was hierauf folgte, hatte ich mich schon ergeben, aber ein noch uebleres nicht befuerchtet, das sich bald darauf zutrug.

Unsere gute Vorsteherin, die wie ein guter Hirte auch nicht eins von ihren Schaefchen verloren oder, wie es hier der Fall war, ungeschmueckt sehen moechte, konnte, nachdem die Herren sich entfernt hatten, ihren Unwillen nicht bergen und sagte zu Ottilien, die ganz ruhig, indem die andern sich ueber ihre Preise freuten, am Fenster stand: ’aber sagen Sie mir, um ’s Himmels willen!

Wie kann man so dumm aussehen, wenn man es nicht ist?’

Ottilie versetzte ganz gelassen: ’verzeihen Sie, liebe Mutter, ich habe gerade heute wieder mein Kopfweh, und ziemlich stark’.—’Das kann niemand wissen!’ Versetzte die sonst so teilnehmende Frau und kehrte sich verdriesslich um.

Nun es ist wahr: niemand kann es wissen; denn Ottilie veraendert das Gesicht nicht, und ich habe auch nicht gesehen, dass sie einmal die Hand nach dem Schlafe zu bewegt haette.

Das war noch nicht alles.

Ihre Fraeulein Tochter, gnaedige Frau, sonst lebhaft und freimuetig, war im Gefuehl ihres heutigen Triumphs ausgelassen und uebermuetig.

Sie sprang mit ihren Preisen und Zeugnissen in den Zimmern herum und schuettelte sie auch Ottilien vor dem Gesicht.

"Du bist heute schlecht gefahren!" rief sie aus.

Ganz gelassen antwortete Ottilie: "es ist noch nicht der letzte Pruefungstag".—"Und doch wirst du immer die Letzte bleiben!" rief das Fraeulein und sprang hinweg.

Ottilie schien gelassen fuer jeden andern, nur nicht fuer mich. Eine innere, unangenehme, lebhafte Bewegung, der sie widersteht, zeigt sich durch eine ungleiche Farbe des Gesichts.

Die linke Wange wird auf einen Augenblick rot, indem die rechte bleich wird.

Ich sah dies Zeichen, und meine Teilnehmung konnte sich nicht zurueckhalten.

Ich fuehrte unsre Vorsteherin beiseite, sprach ernsthaft mit ihr ueber die Sache.

Die treffliche Frau erkannte ihren Fehler.

Wir berieten, wir besprachen uns lange, und ohne deshalb weitlaeufiger zu sein, will ich Euer Gnaden unsern Beschluss und unsre Bitte vortragen: Ottilien auf einige Zeit zu sich zu nehmen.

Die Gruende werden Sie sich selbst am besten entfalten.

Bestimmen Sie sich hiezu, so sage ich mehr ueber die Behandlung des guten Kindes.

Verlaesst uns dann Ihre Fraeulein Tochter, wie zu vermuten steht, so sehen wir Ottilien mit Freuden zurueckkehren.

Noch eins, das ich vielleicht in der Folge vergessen koennte: ich habe nie gesehen, dass Ottilie etwas verlangt oder gar um etwas dringend gebeten haette.

Dagegen kommen Faelle, wiewohl selten, dass sie etwas abzulehnen sucht, was man von ihr fordert.

Sie tut das mit einer Gebaerde, die fuer den, der den Sinn davon gefasst hat, unwiderstehlich ist.

Sie drueckt die flachen Haende, die sie in die Hoehe hebt, zusammen und fuehrt sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig vorwaerts neigt und den dringend Fordernden mit einem solchen Blick ansieht, dass er gern von allem absteht, was er verlangen oder wuenschen moechte.

Sehen Sie jemals diese Gebaerde, gnaedige Frau, wie es bei Ihrer Behandlung nicht wahrscheinlich ist, so gedenken Sie meiner und schonen Ottilien".

Eduard hatte diese Briefe vorgelesen, nicht ohne Laecheln und Kopfschuetteln.

Auch konnte es an Bemerkungen ueber die Personen und ueber die Lage der Sache nicht fehlen.

"Genug!" rief Eduard endlich aus; "es ist entschieden, sie kommt!

Fuer dich waere gesorgt, meine Liebe, und wir duerfen nun auch mit unserm Vorschlag hervorruecken.

Es wird hoechst noetig, dass ich zu dem Hauptmann auf den rechten Fluegel hinueberziehe.

Sowohl abends als morgens ist erst die rechte Zeit, zusammen zu arbeiten.

Du erhaeltst dagegen fuer dich und Ottilien auf deiner Seite den schoensten Raum".

Charlotte liess sichs gefallen, und Eduard schilderte ihre kuenftige Lebensart.

Unter andern rief er aus: "es ist doch recht zuvorkommend von der Nichte, ein wenig Kopfweh auf der linken Seite zu haben; ich habe es manchmal auf der rechten.

Trifft es zusammen und wir sitzen gegeneinander, ich auf den rechten Ellbogen, sie auf den linken gestuetzt und die Koepfe nach verschiedenen Seiten in die Hand gelegt, so muss das ein Paar artige Gegenbilder geben".

Der Hauptmann wollte das gefaehrlich finden.

Eduard hingegen rief aus: "nehmen Sie sich nur, lieber Freund, vor dem D in acht!

Was sollte B denn anfangen, wenn ihm C entrissen wuerde?" "Nun, ich daechte doch", versetzte Charlotte, "das verstuende sich von selbst".

"Freilich", rief Eduard; "es kehrte zu seinem A zurueck, zu seinem A und O!" rief er, indem er aufsprang und Charlotten fest an seine Brust drueckte.

Ein Wagen, der Ottilien brachte, war angefahren.

Charlotte ging ihr entgegen; das liebe Kind eilte, sich ihr zu naehern, warf sich ihr zu Fuessen und umfasste ihre Kniee.

"Wozu die Demuetigung!" sagte Charlotte, die einigermassen verlegen war und sie aufheben wollte.

"Es ist so demuetig nicht gemeint", versetzte Ottilie, die in ihrer vorigen Stellung blieb.

"Ich mag mich nur so gern jener Zeit erinnern, da ich noch nicht hoeher reichte als bis an Ihre Kniee und Ihrer Liebe schon so gewiss war".

Sie stand auf, und Charlotte umarmte sie herzlich.

Sie ward den Maennern vorgestellt und gleich mit besonderer Achtung als Gast behandelt.

Schoenheit ist ueberall ein gar willkommener Gast.

Sie schien aufmerksam auf das Gespraech, ohne dass sie daran teilgenommen haette.

Den andern Morgen sagte Eduard zu Charlotten: "es ist ein angenehmes, unterhaltendes Maedchen".

"Unterhaltend?" versetzte Charlotte mit Laecheln;" sie hat ja den Mund noch nicht aufgetan".

"So?" erwiderte Eduard, indem er sich zu besinnen schien, "das waere doch wunderbar!" Charlotte gab dem neuen Ankoemmling nur wenig Winke, wie es mit dem Hausgeschaefte zu halten sei.

Ottilie hatte schnell die ganze Ordnung eingesehen, ja, was noch mehr ist, empfunden.

Was sie fuer alle, fuer einen jeden insbesondre zu besorgen hatte, begriff sie leicht.

Alles geschah puenktlich.

Sie wusste anzuordnen, ohne dass sie zu befehlen schien, und wo jemand saeumte, verrichtete sie das Geschaeft gleich selbst.

Sobald sie gewahr wurde, wieviel Zeit ihr uebrigblieb, bat sie Charlotten, ihre Stunden einteilen zu duerfen, die nun genau beobachtet wurden.

Sie arbeitete das Vorgesetzte auf eine Art, von der Charlotte durch den Gehuelfen unterrichtet war.

Man liess sie gewaehren.

Nur zuweilen suchte Charlotte sie anzuregen.

So schob sie ihr manchmal abgeschriebene Federn unter, um sie auf einen freieren Zug der Handschrift zu leiten; aber auch diese waren bald wieder scharf geschnitten.

Die Frauenzimmer hatten untereinander festgesetzt, franzoesisch zu reden, wenn sie allein waeren, und Charlotte beharrte um so mehr dabei, als Ottilie gespraechiger in der fremden Sprache war, indem man ihr die uebung derselben zur Pflicht gemacht hatte.

Hier sagte sie oft mehr, als sie zu wollen schien.

Besonders ergetzte sich Charlotte an einer zufaelligen, zwar genauen, aber doch liebevollen Schilderung der ganzen Pensionsanstalt.

Ottilie ward ihr eine liebe Gesellschafterin, und sie hoffte, dereinst an ihr eine zuverlaessige Freundin zu finden.

Charlotte nahm indes die aelteren Papiere wieder vor, die sich auf Ottilien bezogen, um sich in Erinnerung zu bringen, was die Vorsteherin, was der Gehuelfe ueber das gute Kind geurteilt, um es mit ihrer Persoenlichkeit selbst zu vergleichen.

Denn Charlotte war der Meinung, man koenne nicht geschwind genug mit dem Charakter der Menschen bekannt werden, mit denen man zu leben hat, um zu wissen, was sich von ihnen erwarten, was sich an ihnen bilden laesst, oder was man ihnen ein fuer allemal zugestehen und verzeihen muss.

Sie fand zwar bei dieser Untersuchung nichts Neues, aber manches Bekannte ward ihr bedeutender und auffallender.

So konnte ihr zum Beispiel Ottiliens Maessigkeit im Essen und Trinken wirklich Sorge machen.

Das Naechste, was die Frauen beschaeftigte, war der Anzug.

Charlotte verlangte von Ottilien, sie solle in Kleidern reicher und mehr ausgesucht erscheinen.

Sogleich schnitt das gute, taetige Kind die ihr frueher geschenkten Stoffe selbst zu und wusste sie sich mit geringer Beihuelfe anderer schnell und hoechst zierlich anzupassen.

Die neuen, modischen Gewaender erhoehten ihre Gestalt; denn indem das Angenehme einer Person sich auch ueber ihre Huelle verbreitet, so glaubt man sie immer wieder von neuem und anmutiger zu sehen, wenn sie ihre Eigenschaften einer neuen Umgebung mitteilt.

Dadurch ward sie den Maennern, wie von Anfang so immer mehr, dass wir es nur mit dem rechten Namen nennen, ein wahrer Augentrost.

Denn wenn der Smaragd durch seine herrliche Farbe dem Gesicht wohltut, ja sogar einige Heilkraft an diesem edlen Sinn ausuebt, so wirkt die menschliche Schoenheit noch mit weit groesserer Gewalt auf den aeussern und innern Sinn.

Wer sie erblickt, den kann nichts uebles anwehen; er fuehlt sich mit sich selbst und mit der Welt in uebereinstimmung.

Auf manche Weise hatte daher die Gesellschaft durch Ottiliens Ankunft gewonnen.

Die beiden Freunde hielten regelmaessiger die Stunden, ja die Minuten der Zusammenkuenfte.

Sie liessen weder zum Essen, noch zum Tee, noch zum Spaziergang laenger als billig auf sich warten.

Sie eilten, besonders abends, nicht so bald von Tische weg. Charlotte bemerkte das wohl und liess beide nicht unbeobachtet. Sie suchte zu erforschen, ob einer vor dem andern hiezu den Anlass gaebe; aber sie konnte keinen Unterschied bemerken.

Beide zeigten sich ueberhaupt geselliger.

Bei ihren Unterhaltungen schienen sie zu bedenken, was Ottiliens Teilnahme zu erregen geeignet sein moechte, was ihren Einsichten, ihren uebrigen Kenntnissen gemaess waere.

Beim Lesen und Erzaehlen hielten sie inne, bis sie wiederkam. Sie wurden milder und im ganzen mitteilender.

In Erwiderung dagegen wuchs die Dienstbeflissenheit Ottiliens mit jedem Tage.

Je mehr sie das Haus, die Menschen, die Verhaeltnisse kennenlernte, desto lebhafter griff sie ein, desto schneller verstand sie jeden Blicke, jede Bewegung, ein halbes Wort, einen Laut.

Ihre ruhige Aufmerksamkeit blieb sich immer gleich, so wie ihre gelassene Regsamkeit.

Und so war ihr Sitzen, Aufstehen, Gehen, Kommen, Holen, Bringen, Wiederniedersitzen ohne einen Schein von Unruhe, ein ewiger Wechsel, eine ewige angenehme Bewegung.

Dazu kam, dass man sie nicht gehen hoerte; so leise trat sie auf.

Diese anstaendige Dienstfertigkeit Ottiliens machte Charlotten viele Freude.

Ein einziges, was ihr nicht ganz angemessen vorkam, verbarg sie Ottilien nicht.

"Es gehoert", sagte sie eines Tages zu ihr, "unter die lobenswuerdigen Aufmerksamkeiten, dass wir uns schnell buecken, wenn jemand etwas aus der Hand fallen laesst, und es eilig aufzuheben suchen.

Wir bekennen uns dadurch ihm gleichsam dienstpflichtig; nur ist in der groessern Welt dabei zu bedenken, wenn man eine solche Ergebenheit bezeigt.

Gegen Frauen will ich dir darueber keine Gesetze vorschreiben. Du bist jung.

Gegen Hoehere und aeltere ist es Schuldigkeit, gegen deinesgleichen Artigkeit, gegen Juengere und Niedere zeigt man sich dadurch menschlich und gut; nur will es einem Frauenzimmer nicht wohl geziemen, sich Maennern auf diese Weise ergeben und dienstbar zu bezeigen".

"Ich will es mir abzugewoehnen suchen", versetzte Ottilie.

"Indessen werden Sie mir diese Unschicklichkeit vergeben, wenn ich Ihnen sage, wie ich dazu gekommen bin.

Man hat uns die Geschichte gelehrt; ich habe nicht soviel daraus behalten, als ich wohl gesollt haette; denn ich wusste nicht, wozu ichs brauchen wuerde.

Nur einzelne Begebenheiten sind mir sehr eindruecklich gewesen, so folgende: als Karl der Erste von England von seinen sogenannten Richtern stand, fiel der goldne Knopf des Stoeckchens, das er trug, herunter.

Gewohnt, dass bei solchen Gelegenheiten sich alles fuer ihn bemuehte, schien er sich umzusehen und zu erwarten, dass ihm jemand auch diesmal den kleinen Dienst erzeigen sollte.

Es regte sich niemand; er bueckte sich selbst, um den Kopf aufzuheben.

Mir kam das so schmerzlich vor, ich weiss nicht, ob mit Recht, dass ich von jenem Augenblick an niemanden kann etwas aus den Haenden fallen sehn, ohne mich darnach zu buecken.

Da es aber freilich nicht immer schicklich sein mag und ich", fuhr sie laechelnd fort, "nicht jederzeit meine Geschichte erzaehlen kann, so will ich mich kuenftig mehr zurueckhalten".

Indessen hatten die guten Anstalten, zu denen sich die beiden Freunde berufen fuehlten, ununterbrochenen Fortgang.

Ja taeglich fanden sie neuen Anlass, etwas zu bedenken und zu unternehmen.

Als sie eines Tages zusammen durch das Dorf gingen, bemerkten sie missfaellig, wie weit es an Ordnung und Reinlichkeit hinter jenen Doerfern zurueckstehe, wo die Bewohner durch die Kostbarkeit des Raums auf beides hingewiesen werden.

"Du erinnerst dich", sagte der Hauptmann, "wie wir auf unserer Reise durch die Schweiz den Wunsch aeusserten, eine laendliche sogenannte Parkanlage recht eigentlich zu verschoenern, indem wir ein so gelegnes Dorf nicht zur Schweizer Bauart, sondern zur Schweizer Ordnung und Sauberkeit, welche die Benutzung so sehr befoerdern, einrichteten".

"Hier zum Beispiel", versetzte Eduard, "ginge das wohl an.

Der Schlossberg verlaeuft sich in einen vorspringenden Winkel herunter; das Dorf ist ziemlich regelmaessig im Halbzirkel gegenueber gebaut; dazwischen fliesst der Bach, gegen dessen Anschwellen sich der eine mit Steinen, der andere mit Pfaehlen, wieder einer mit Balken und der Nachbar sodann mit Planken verwahren will, keiner aber den andern foerdert, vielmehr sich und den uebrigen Schaden und Nachteil bringt.

So geht der Weg auch in ungeschickter Bewegung bald herauf, bald herab, bald durchs Wasser, bald ueber Steine.

Wollten die Leute mit Hand anlegen, so wuerde kein grosser Zuschuss noetig sein, um hier eine Mauer im Halbkreis aufzufuehren, den Weg dahinter bis an die Haeuser zu erhoehen, den schoensten Raum herzustellen, der Reinlichkeit Platz zu geben und durch eine ins Grosse gehende Anstalt alle kleine, unzulaengliche Sorge auf einmal zu verbannen".

"Lass es uns versuchen!" sagte der Hauptmann, indem er die Lage mit den Augen ueberlief und schnell beurteilte.

"Ich mag mit Buergern und Bauern nichts zu tun haben, wenn ich ihnen nicht geradezu befehlen kann", versetzte Eduard.

"Du hast so unrecht nicht", erwiderte der Hauptmann; "denn auch mir machten dergleichen Geschaefte im Leben schon viel Verdruss.

Wie schwer ist es, dass der Mensch recht abwaege, was man aufopfern muss gegen das, was zu gewinnen ist, wie schwer, den Zweck zu wollen und die Mittel nicht zu verschmaehen!

Viele verwechseln gar die Mittel und den Zweck, erfreuen sich an jenen, ohne diesen im Auge zu behalten.

Jedes uebel soll an der Stelle geheilt werden, wo es zum Vorschein kommt, und man bekuemmert sich nicht um jenen Punkt, wo es eigentlich seinen Ursprung nimmt, woher es wirkt.

Deswegen ist es so schwer, Rat zu pflegen, besonders mit der Menge, die im Taeglichen ganz verstaendig ist, aber selten weiter sieht als auf morgen.

Kommt nun gar dazu, dass der eine bei einer gemeinsamen Anstalt gewinnen, der andre verlieren soll, da ist mit Vergleich nun gar nichts auszurichten.

Alles eigentlich gemeinsame Gute muss durch das unumschraenkte Mejestaetsrecht gefoerdert werden".

Indem sie standen und sprachen, bettelte sie ein Mensch an, der mehr frech als beduerftig aussah.

Eduard, ungern unterbrochen und beunruhigt, schalt ihn, nachdem er ihn einigemal vergebens gelassener abgewiesen hatte.

Als aber der Kerl sich murrend, ja gegenscheltend mit kleinen Schritten entfernte, auf die Rechte des Bettlers trotzte, dem man wohl ein Almosen versagen, ihn aber nicht beleidigen duerfe, weil er so gut wie jeder andere unter dem Schutze Gottes und der Obrigkeit stehe, kam Eduard ganz aus der Fassung.

Der Hauptmann, ihn zu beguetigen, sagte darauf: "lass uns diesen Vorfall als eine Aufforderung annehmen, unsere laendliche Polizei auch hierueber zu erstrecken!

Almosen muss man einmal geben; man tut aber besser, wenn man sie nicht selbst gibt, besonders zu Hause.

Da sollte man maessig und gleichfoermig in allem sein, auch im Wohltun.

Eine allzu reichliche Gabe lockt Bettler herbei, anstatt sie abzufertigen, dagegen man wohl auf der Reise, im Vorbeifliegen, einem Armen an der Strasse in der Gestalt des zufaelligen Gluecks erscheinen und ihm eine ueberraschende Gabe zuwerfen mag.

Uns macht die Lage des Dorfes, des Schlosses eine solche Anstalt sehr leicht; ich habe schon frueher darueber nachgedacht.

An dem einen Ende des Dorfes liegt das Wirtshaus, an dem andern wohnen ein Paar alte, gute Leute; an beiden Orten musst du eine kleine Geldsumme niederlegen.

Nicht der ins Dorf Hereingehende, sondern der Hinausgehende erhaelt etwas; und da die beiden Haeuser zugleich an den Wegen stehen, die auf das Schloss fuehren, so wird auch alles, was sich hinaufwenden wollte, an die beiden Stellen gewiesen".

"Komm", sagte Eduard, "wir wollen das gleich abmachen; das Genauere koennen wir immer noch nachholen".

Sie gingen zum Wirt und zu dem alten Paare, und die Sache war abgetan.

"Ich weiss recht gut", sagte Eduard, indem sie zusammen den Schlossberg wieder hinaufstiegen, "dass alles in der Welt ankommt auf einen gescheiten Einfall und auf einen festen Entschluss.

So hast du die Parkanlagen meiner Frau sehr richtig beurteilt und mir auch schon einen Wink zum Bessern gegeben, den ich ihr, wie ich gar nicht leugnen will, sogleich mitgeteilt habe".

"Ich konnte es vermuten", versetzte der Hauptmann, "aber nicht billigen.

Du hast sie irregemacht; sie laesst alles liegen und trutzt in dieser einzigen Sache mit uns; denn sie vermeidet davon zu reden und hat uns nicht wieder zur Mooshuette eingeladen, ob sie gleich mit Ottilien in den Zwischenstunden hinaufgeht".

"Dadurch muessen wir uns", versetzte Eduard, "nicht abschrecken lassen.

Wenn ich von etwas Gutem ueberzeugt bin, was geschehen koennte und sollte, so habe ich keine Ruhe, bis ich es getan sehe.

Sind wir doch sonst klug, etwas einzuleiten!

Lass uns die englischen Parkbeschreibungen mit Kupfern zur Abendunterhaltung vornehmen, nachher deine Gutskarte!

Man muss es erst problematisch und nur wie zum Scherz behandeln; der Ernst wird sich schon finden".

Nach dieser Verabredung wurden die Buecher aufgeschlagen, worin man jedesmal den Grundriss der Gegend und ihre landschaftliche Ansicht in ihrem ersten, rohen Naturzustande gezeichnet sah, sodann auf andern Blaettern die Veraenderung vorgestellt fand, welche die Kunst daran vorgenommen, um alles das bestehende Gute zu nutzen und zu steigern.

Hievon war der uebergang zur eigenen Besitzung, zur eignen Umgebung und zu dem, was man daran ausbilden koennte, sehr leicht.

Die von dem Hauptmann entworfene Karte zum Grunde zu legen, war nunmehr eine angenehme Beschaeftigung; nur konnte man sich von jener ersten Vorstellung, nach der Charlotte die Sache einmal angefangen hatte, nicht ganz losreissen.

Doch erfand man einen leichtern Aufgang auf die Hoehe; man wollte oberwaerts am Abhange vor einem angenehmen Hoelzchen ein Lustgebaeude auffuehren; dieses sollte einen Bezug aufs Schloss haben; aus den Schlossfenstern sollte man es uebersehen, von dorther Schloss und Gaerten wieder bestreichen koennen.

Der Hauptmann hatte alles wohl ueberlegt und gemessen und brachte jenen Dorfweg, jene Mauer am Bache her, jene Ausfuellung wieder zur Sprache.

"Ich gewinne", sagte er, "indem ich einen bequemen Weg zur Anhoehe hinauffuehre, gerade soviel Steine, als ich zu jener Mauer bedarf. Sobald eins ins andre greift, wird beides wohlfeiler und geschwinder bewerkstelligt".

"Nun aber", sagte Charlotte, "kommt meine Sorge.

Notwendig muss etwas Bestimmtes ausgesetzt werden; und wenn man weiss, wieviel zu einer solchen Anlage erforderlich ist, dann teilt man es ein, wo nicht auf Wochen, doch wenigstens auf Monate.

Die Kasse ist unter meinem Beschluss; ich zahle die Zettel, und die Rechnung fuehre ich selbst".

"Du scheinst uns nicht sonderlich viel zu vertrauen", sagte Eduard.

"Nicht viel in willkuerlichen Dingen", versetzte Charlotte. "Die Willkuer wissen wir besser zu beherrschen als ihr".

Die Einrichtung war gemacht, die Arbeit rasch angefangen, der Hauptmann immer gegenwaertig und Charlotte nunmehr fast taeglich Zeuge seines ernsten und bestimmten Sinnes.

Auch er lernte sie naeher kennen, und beiden wurde es leicht, zusammenzuwirken und etwas zustande zu bringen.

Es ist mit den Geschaeften wie mit dem Tanze: Personen, die gleichen Schritt halten, muessen sich unentbehrlich werden, ein wechselseitiges Wohlwollen muss notwendig daraus entspringen, und dass Charlotte dem Hauptmann, seitdem sie ihn naeher kennengelernt, wirklich wohlwollte, davon war ein sicherer Beweis, dass sie ihn einen schoenen Ruheplatz, den sie bei ihren ersten Anlagen besonders ausgesucht und verziert hatte, der aber seinem Plane entgegenstand, ganz gelassen zerstoeren liess, ohne auch nur die mindeste unangenehme Empfindung dabei zu haben.

Indem nun Charlotte mit dem Hauptmann eine gemeinsame Beschaeftigung fand, so war die Folge, dass sich Eduard mehr zu Ottilien gesellte.

Fuer sie sprach ohnehin seit einiger Zeit eine stille, freundliche Neigung in seinem Herzen.

Gegen jedermann war sie dienstfertig und zuvorkommend; dass sie es gegen ihn am meisten sei, das wollte seiner Selbstliebe scheinen.

Nun war keine Frage: was fuer Speisen und wie er sie liebte, hatte sie schon genau bemerkt; wieviel er Zucker zum Tee zu nehmen pflegte und was dergleichen mehr ist, entging ihr nicht.

Besonders war sie sorgfaeltig, alle Zugluft abzuwehren, gegen die er eine uebertriebene Empfindlichkeit zeigte und deshalb mit seiner Frau, der es nicht luftig genug sein konnte, manchmal in Widerspruch geriet.

Ebenso wusste sie im Baum—und Blumengarten Bescheid.

Was er wuenschte, suchte sie zu befoerdern, was ihn ungeduldig machen konnte, zu verhueten, dergestalt dass sie in kurzem wie ein freundlicher Schutzgeist ihm unentbehrlich ward und er anfing, ihre Abwesenheit schon peinlich zu empfinden.

Hiezu kam noch, dass sie gespraechtiger und offener schien, sobald sie sich allein trafen.

Eduard hatte bei zunehmenden Jahren immer etwas Kindliches behalten, das der Jugend Ottiliens besonders zusagte.

Sie erinnerten sich gern frueherer Zeiten, wo sie einander gesehen; es stiegen diese Erinnerungen bis in die ersten Epochen der Neigung Eduards zu Charlotten.

Ottilie wollte sich der beiden noch als des schoensten Hofpaares erinnern; und wenn Eduard ihr ein solches Gedaechtnis aus ganz frueher Jugend absprach, so behauptete sie doch, besonders einen Fall noch vollkommen gegenwaertig zu haben, wie sie sich einmal bei seinem Hereintreten in Charlottens Schoss versteckt, nicht aus Furcht, sondern aus kindischer ueberraschung.

Sie haette dazusetzen koennen: weil er so lebhaften Eindruck auf sie gemacht, weil er ihr gar so wohl gefallen.

Bei solchen Verhaeltnissen waren manche Geschaefte, welche die beiden Freunde zusammen frueher vorgenommen, gewissermassen in Stocken geraten, sodass sie fuer noetig fanden, sich wieder eine uebersicht zu verschaffen, einige Aufsaetze zu entwerfen, Briefe zu schreiben.

Sie bestellten sich deshalb auf ihre Kanzlei, wo sie den alten Kopisten muessig fanden.

Sie gingen an die Arbeit und gaben ihm bald zu tun, ohne zu bemerken, dass sie ihm manches aufbuerdeten, was sie sonst selbst zu verrichten gewohnt waren.

Gleich der erste Aufsatz wollte dem Hauptmann, gleich der erste Brief Eduarden nicht gelingen.

Sie quaelten sich eine Zeitlang mit Konzipieren und Umschreiben, bis endlich Eduard, dem es am wenigsten vonstatten ging, nach der Zeit fragte.

Da zeigte sich denn, dass der Hauptmann vergessen hatte, seine chronometrische Sekundenuhr aufzuziehen, das erstemal seit vielen Jahren; und sie schienen, wo nicht zu empfinden, doch zu ahnen, dass die Zeit anfange, ihnen gleichgueltig zu werden.

Indem so die Maenner einigermassen in ihrer Geschaeftigkeit nachliessen, wuchs vielmehr die Taetigkeit der Frauen.

ueberhaupt nimmt die gewoehnliche Lebensweise einer Familie, die aus den gegebenen Personen und aus notwendigen Umstaenden entspringt, auch wohl eine ausserordentliche Neigung, eine werdende Leidenschaft in sich wie ein Gefaess auf, und es kann eine ziemliche Zeit vergehen, ehe dieses neue Ingrediens eine merkliche Gaerung verursacht und schaeumend ueber den Rand schwillt.

Bei unsern Freunden waren die entstehenden wechselseitigen Neigungen von der angenehmsten Wirkung.

Die Gemueter oeffneten sich, und ein allgemeines Wohlwollen entsprang aus dem besonderen.

Jeder Teil fuehlte sich gluecklich und goennte dem andern sein Glueck.

Ein solcher Zustand erhebt den Geist, indem er das Herz erweitert, und alles, was man tut und vornimmt, hat eine Richtung gegen das Unermessliche.

So waren auch die Freunde nicht mehr in ihrer Wohnung befangen.

Ihre Spaziergaenge dehnten sich weiter aus, und wenn dabei Eduard mit Ottilien, die Pfade zu waehlen, die Wege zu bahnen, vorauseilte, so folgte der Hauptmann mit Charlotten in bedeutender Unterhaltung, Teilnehmend an manchem neuentdeckten Plaetzchen, an mancher unerwarteten Aussicht, geruhig der Spur jener rascheren Vorgaenger.

Eines Tages leitete sie ihr Spaziergang durch die Schlosspforte des rechten Fluegels hinunter nach dem Gasthofe, ueber die Bruecke gegen die Teiche zu, an denen sie hingingen, soweit man gewoehnlich das Wasser verfolgte, dessen Ufer sodann, von einem buschigen Huegel und witerhin von Felsen eingeschlossen, aufhoerte, gangbar zu sein. Aber Eduard, dem von seinen Jagdwanderungen her die Gegend bekannt war, drang mit Ottilien auf einem bewachsenen Pfade weiter vor, wohl wissend, dass die alte, zwischen Felsen versteckte Muehle nicht weit abliegen konnte.

Allein der wenig betretene Pfad verlor sich bald, und sie fanden sich im dichten Gebuesch zwischen moosigen Gestein verirrt, doch nicht lange; denn das Rauschen der Raeder verkuendigte ihnen sogleich die Naehe des gesuchten Ortes.

Auf eine Klippe vorwaerts tretend, sahen sie das alte, schwarze, wunderliche Holzgebaeude im Grunde vor sich, von steilen Felsen sowie von hohen Baeumen umschattet.

Sie entschlossen sich kurz und gut, ueber Moos und Felstruemmer hinabzusteigen, Eduard voran; und wenn er nun in die Hoehe sah und Ottilie leicht schreitend, ohne Furcht und aengstlichkeit, im schoensten Gleichgewicht von Stein zu Stein ihm folgte, glaubte er ein himmlisches Wesen zu sehen, das ueber ihm schwebte.

Und wenn sie nun manchmal an unsicherer Stelle seine ausgestreckte Hand ergriff, ja sich auf seine Schulter stuetzte, dann konnte er sich nicht verleugnen, dass es das zarteste weibliche Wesen sei, das ihn beruehrte.

Fast haette er gewuenscht, sie moechte straucheln, gleiten, dass er sie in seine Arme auffangen, sie an sein Herz druecken koennte.

Doch dies haette er unter keiner Bedingung getan, aus mehr als einer Ursache: er fuerchtete sie zu beleidigen, sie zu beschaedigen.

Wie dies gemeint sei, erfahren wir sogleich.

Denn als er nun herabgelangt, ihr unter den hohen Baeumen am laendlichen Tische gegenuebersass, die freundliche Muellerin nach Milch, der bewillkommende Mueller Charlotten und dem Hauptmann entgegen gesandt war, fing Eduard mit einigem Zaudern zu sprechen an: "ich habe eine Bitte, liebe Ottilie; verzeihen Sie mir die, wenn Sie mir sie auch versagen!

Sie machen kein Geheimnis daraus, und es braucht es auch nicht, dass Sie unter Ihrem Gewand, auf Ihrer Brust ein Miniaturbild tragen.

Es ist das Bild Ihres Vaters, des braven Mannes, den Sie kaum gekannt und der in jedem Sinne eine Stelle an Ihrem Herzen verdient.

Aber vergeben Sie mir: das Bild ist ungeschickt gross, und dieses Metall, dieses Glas macht mir tausend aengste, wenn Sie ein Kind in die Hoehe heben, etwas vor sich hintragen, wenn die Kutsche schwankt, wenn wir durchs Gebuesch dringen, eben jetzt, wie wir vom Felsen herabstiegen.

Mir ist die Moeglichkeit schrecklich, dass irgendein unvorgesehener Stoss, ein Fall, eine Beruehrung Ihnen schaedlich und verderblich sein koennte.

Tun Sie es mir zuliebe, entfernen Sie das Bild, nicht aus Ihrem Andenken, nicht aus Ihrem Zimmer; ja geben Sie ihm den schoensten, den heiligsten Ort Ihrer Wohnung; nur von Ihrer Brust entfernen Sie etwas, dessen Naehe mir, vielleicht aus uebertriebener aengstlichkeit, so gefaehrlich scheint!" Ottilie schwieg und hatte, waehrend er sprach, vor sich hingesehen; dann, ohne uebereilung und ohne Zaudern, mit einem Blick mehr gen Himmel als auf Eduard gewendet, loeste sie die Kette, zog das Bild hervor, drueckte es gegen ihre Stirn und reichte es dem Freunde hin mit den Worten: "heben Sie mir es auf, bis wir nach Hause kommen! Ich vermag Ihnen nicht besser zu bezeugen, wie sehr ich Ihre freundliche Sorgfalt zu schaetzen weiss".

Der Freund wagte nicht, das Bild an seine Lippen zu druecken, aber er fasste ihre Hand und drueckte sie an seine Augen.

Es waren vielleicht die zwei schoensten Haende, die sich jemals zusammenschlossen.

Ihm war, als wenn ihm ein Stein vom Herzen gefallen waere, als wenn sich eine Scheidewand zwischen ihm und Ottilien niedergelegt haette.

Vom Mueller gefuehrt, langten Charlotte und der Hauptmann auf einem bequemeren Pfade herunter.

Man begruesste sich, man erfreute und erquickte sich.

Zurueck wollte man denselben Weg nicht kehren, und Eduard schlug einen Felspfad auf der andern Seite des Baches vor, auf welchem die Teiche wieder zu Gesicht kamen, indem man ihn mit einiger Anstrengung zuruecklegte.

Nun durchstrich man abwechselndes Gehoelz und erblickte nach dem Lande zu mancherlei Doerfer, Flecken, Meiereien mit ihren gruenen und fruchtbaren Umgebungen; zunaechst ein Vorwerk, das an der Hoehe mitten im Holze gar vertraulich lag.

Am schoensten zeigte sich der groesste Reichtum der Gegend, vor—und rueckwaerts, auf der sanfterstiegenen Hoehe, von da man zu einem lustigen Waeldchen gelangte und beim Heraustreten aus demselben sich auf dem Felsen dem Schlosse gegenueber befand.

Wie froh waren sie, als sie daselbst gewissermassen unvermutet ankamen!

Sie hatten eine kleine Welt umgangen; sie standen auf dem Platze, wo das neue Gebaeude hinkommen sollte, und sahen wieder in die Fenster ihrer Wohnung.

Man stieg zur Mooshuette hinunter und sass zum erstenmal darin zu vieren.

Nichts war natuerlicher, als dass einstimmig der Wunsch ausgesprochen wurde, dieser heutige Weg, den sie langsam und nicht ohne Beschwerlichkeit gemacht, moechte dergestalt gefuehrt und eingerichtet werden, dass man ihn gesellig, schlendernd und mit Behaglichkeit zuruecklegen koennte.

Jedes tat Vorschlaege, und man berechnete, dass der Weg, zu welchem sie mehrere Stunden gebraucht hatten, wohlgebahnt in einer Stunde zum Schloss zurueckfuehren muesste.

Schon legte man in Gedanken unterhalb der Muehle, wo der Bach in die Teiche fliesst, eine wegverkuerzende und die Landschaft zierende Bruecke an, als Charlotte der erfindenden Einbildungskraft einigen Stillstand gebot, indem sie an die Kosten erinnerte, welche zu einem solchen Unternehmen erforderlich sein wuerden.

"Hier ist auch zu helfen", versetzte Eduard.

"Jenes Vorwerk im Walde, das so schoen zu liegen scheint und so wenig eintraegt, duerfen wir nur veraeussern und das daraus Geloeste zu diesen Anlagen verwenden, so geniessen wir vergnueglich auf einem unschaetzbaren Spaziergange die Interessen eines wohlangelegten Kapitals, da wir jetzt mit Missmut, bei letzter Berechnung am Schlusse des Jahrs, eine kuemmerliche Einnahme davon ziehen".

Charlotte selbst konnte als gute Haushaelterin nicht viel dagegen erinnern.

Die Sache war schon frueher zur Sprache gekommen.

Nun wollte der Hauptmann einen Plan zu Zerschlagung der Grundstuecke unter die Waldbauern machen; Eduard aber wollte kuerzer und bequemer verfahren wissen.

Der gegenwaertige Pachter, der schon Vorschlaege getan hatte, sollte es erhalten, terminweise zahlen, und so terminweise wollte man die planmaessigen Anlagen von Strecke zu Strecke vornehmen.

So eine vernuenftige, gemaessigte Einrichtung musste durchaus Beifall finden, und schon sah die ganze Gesellschaft im Geiste die neuen Wege sich schlaengeln, auf denen und in deren Naehe man noch die angenehmsten Ruhe—und Aussichtsplaetze zu entdecken hoffte.

Um sich alles mehr im einzelnen zu vergegenwaertigen, nahm man abends zu Hause sogleich die neue Karte vor.

Man uebersah den zurueckgelegten Weg und wie er vielleicht an einigen Stellen noch vorteilhafter zu fuehren waere.

Alle frueheren Vorsaetze wurden nochmals durchgesprochen und mit den neuesten Gedanken verbunden, der Platz des neuen Hauses gegen dem Schloss ueber nochmals gebilligt und der Kreislauf der Wege bis dahin abgeschlossen.

Ottilie hatte zu dem allen geschwiegen, als Eduard zuletzt den Plan, der bisher vor Charlotten gelegen, vor sie hinwandte und sie zugleich einlud, ihre Meinung zu sagen, und, als sie einen Augenblick anhielt, sie liebevoll ermunterte, doch ja nicht zu schweigen; alles sei ja noch gleichgueltig, alles noch im Werden.

"Ich wuerde", sagte Ottilie, indem sie den Finger auf die hoechste Flaeche der Anhoehe setzte, "das Haus hieher bauen.

Man saehe zwar das Schloss nicht, denn es wird von dem Waeldchen bedeckt; aber man befaende sich auch dafuer wie in einer andern und neuen Welt, indem zugleich das Dorf und alle Wohnungen verborgen waeren.

Die Aussicht auf die Teiche, nach der Muehle, auf die Hoehen, in die Gebirge, nach dem Lande zu ist ausserordentlich schoen; ich habe es im Vorbeigehen bemerkt".

"Sie hat recht!" rief Eduard.

"Wie konnte uns das nicht einfallen!

Nicht wahr, so ist es gemeint, Ottilie?"—er nahm einen Bleistift und strich ein laengliches Viereck recht stark und derb auf die Anhoehe.

Dem Hauptmann fuhr das durch die Seele, denn er sah einen sorgfaeltigen, reinlich gezeichneten Plan ungern auf diese Weise verunstaltet; doch fasste er sich nach einer leisen Missbilligung und ging auf den Gedanken ein.

"Ottilie hat recht", sagte er; "macht man nicht gern eine entfernte Spazierfahrt, um einen Kaffee zu trinken, einen Fisch zu geniessen, der uns zu Hause nicht so gut geschmeckt haette?

Wir verlangen Abwechselung und fremde Gegenstaende.

Das Schloss haben die Alten mit Vernunft hieher gebaut, denn es liegt geschuetzt vor den Winden und nah an allen taeglichen Beduerfnissen; ein Gebaeude hingegen, mehr zum geselligen Aufenthalt als zur Wohnung, wird sich dorthin recht wohl schicken und in der guten Jahrszeit die angenehmsten Stunden gewaehren".

Je mehr man die Sache durchsprach, desto guenstiger erschien sie, und Eduard konnte seinen Triumph nicht bergen, dass Ottilie den Gedanken gehabt.

Er war so stolz darauf, als ob die Erfindung sein gewesen waere.

Der Hauptmann untersuchte gleich am fruehsten Morgen den Platz, entwarf erst einen fluechtigen und, als die Gesellschaft an Ort und Stelle sich nochmals entschieden hatte, einen genauen Riss nebst Anschlag und allem Erforderlichen.

Es fehlte nicht an der noetigen Vorbereitung.

Jenes Geschaeft wegen Verkauf des Vorwerks ward auch sogleich wieder angegriffen.

Die Maenner fanden zusammen neuen Anlass zur Taetigkeit.

Der Hauptmann machte Eduarden bemerklich, dass es eine Artigkeit, ja wohl gar eine Schuldigkeit sei, Charlottens Geburtstag durch Legung des Grundsteins zu feiern.

Es bedurfte nicht viel, die alte Abneigung Eduards gegen solche Feste zu ueberwinden; denn es kam ihm schnell in den Sinn, Ottiliens Geburtstag, der spaeter fiel, gleichfalls recht feierlich zu begehen.

Charlotte, der die neuen Anlagen, und was deshalb geschehen sollte, bedeutend, ernstlich, ja fast bedenklich vorkamen, beschaeftigte sich damit, die Anschlaege, Zeit—und Geldeinteilungen nochmals fuer sich durchzugehen.

Man sah sich des Tages weniger, und mit desto mehr Verlangen suchte man sich des Abends auf.

Ottilie war indessen schon voellig Herrin des Haushaltes, und wie konnte es anders sein bei ihrem stillen und sichern Betragen.

Auch war ihre ganze Sinnesweise dem Hause und dem Haeuslichen mehr als der Welt, mehr als dem Leben im Freien zugewendet.

Eduard bemerkte bald, dass sie eigentlich nur aus Gefaelligkeit in die Gegend mitging, dass sie nur aus geselliger Pflicht abends laenger draussen verweilte, auch wohl manchmal einen Vorwand haeuslicher Taetigkeit suchte, um wieder hineinzugehen.

Sehr bald wusste er daher die gemeinschaftlichen Wanderungen so einzurichten, dass man vor Sonnenuntergang wieder zu Hause war, und fing an, was er lange unterlassen hatte, Gedichte vorzulesen, solche besonders, in deren Vortrag der Ausdruck einer reinen, doch leidenschaftlichen Liebe zu legen war.

Gewoehnlich sassen sie abends um einen kleinen Tisch auf hergebrachten Plaetzen: Charlotte auf dem Sofa, Ottilie auf einem Sessel gegen ihr ueber, und die Maenner nahmen die beiden andern Seiten ein.

Ottilie sass zu Eduarden zur Rechten, wohin er auch das Licht schob, wenn er las.

Alsdann auch sie traute ihren eigenen Augen mehr als fremden Lippen; und Eduard gleichfalls rueckte zu, um es ihr auf alle Weise bequem zu machen, ja er hielt oft laengere Pausen als noetig, damit er nur nicht eher umwendete, bis auch sie zu Ende der Seite gekommen.

Charlotte und der Hauptmann bemerkten es wohl und sahen manchmal einander laechelnd an; doch wurden beide von einem andern Zeichen ueberrascht, in welchem sich Ottiliens stille Neigung gelegentlich offenbarte.

An einem Abende, welcher der kleinen Gesellschaft durch einen laestigen Besuch zum Teil verloren gegangen, tat Eduard den Vorschlag, noch beisammen zu bleiben.

Er fuehlte sich aufgelegt, seine Floete vorzunehmen, welche lange nicht an die Tagesordnung gekommen war.

Charlotte suchte nach den Sonaten, die sie zusammen gewoehnlich auszufuehren pflegten, und da sie nicht zu finden waren, gestand Ottilie nach einigem Zaudern, dass sie solche mit auf ihr Zimmer genommen.

"Und Sie koennen, Sie wollen mich auf dem Fluegel begleiten?" rief Eduard, dem die Augen vor Freude glaenzten.

"Ich glaube wohl", versetzte Ottilie, "dass es gehen wird".

Sie brachte die Noten herbei und setzte sich ans Klavier.

Die Zuhoerenden waren aufmerksam und ueberrascht, wie vollkommen Ottilie das Musikstueck fuer sich selbst eingelernt hatte, aber noch mehr ueberrascht, wie sie es der Spielart Eduards anzupassen wusste.

’Anzupassen wusste’ ist nicht der rechte Ausdruck; denn wenn es von Charlottens Geschicklichkeit und freiem Willen abhing, ihrem bald zoegernden, bald voreilenden Gatten zuliebe hier anzuhalten, dort mitzugehen, so schien Ottilie, welche die Sonate von jenen enigemal spielen sie gehoert, nur in dem Sinne eingelernt zu haben, wie jener sie begleitete.

Sie hatte seine Maengel so zu den ihrigen gemacht, dass daraus wieder eine Art von lebendigem Ganzen entsprang, das sich zwar nicht taktgemaess bewegte, aber doch hoechst angenehm und gefaellig lautete.

Der Komponist selbst haette seine Freude daran gehabt, sein Werk auf eine so liebevolle Weise entstellt zu sehen.

Auch diesem wundersamen, unerwarteten Begegnis sahen der Hauptmann und Charlotte stillschweigend mit einer Empfindung zu, wie man oft kindische Handlungen betrachtet, die man wegen ihrer besorglichen Folgen gerade nicht billigt und doch nicht schelten kann, ja vielleicht beneiden muss.

Denn eigentlich war die Neigung dieser beiden ebensogut im Wachsen als jene, und vielleicht nur noch gefaehrlicher dadurch, dass beide ernster, sicherer von sich selbst, sich zu halten faehiger waren.

Schon fing der Hauptmann an zu fuehlen, dass eine unwiderstehliche Gewohnheit ihn an Charlotten zu fesseln drohte.

Er gewann es ueber sich, den Stunden auszuweichen, in denen Charlotte nach der Anlagen zu kommen pflegte, indem er schon am fruehsten Morgen aufstand, alles anordnete und sich dann zur Arbeit auf seinen Fluegel ins Schloss zurueckzog.

Die ersten Tage hielt es Charlotte fuer zufaellig; sie suchte ihn an allen wahrscheinlichen Stellen; dann glaubte sie ihn zu verstehen und achtete ihn nur um desto mehr.

Vermied nun der Hauptmann, mit Charlotten allein zu sein, so war er desto emsiger, zur glaenzenden Feier des herannahenden Geburtsfestes die Anlagen zu betreiben und zu beschleunigen; denn indem er von unten hinauf, hinter dem Dorfe her, den bequemen Weg fuehrte, so liess er, vorgeblich um Steine zu brechen, auch von oben herunter arbeiten und hatte alles so eingerichtet und berechnet, dass erst in der letzten Nacht die beiden Teile des Weges sich begegnen sollten.

Zum neuen Hause oben war auch schon der Keller mehr gebrochen als gegraben und ein schoener Grundstein mit Faechern und Deckplatten zugehauen.

Die aeussere Taetigkeit, diese kleinen, freundlichen, geheimnisvollen Absichten bei innern, mehr oder weniger zurueckgedraengten Empfindungen liessen die Unterhaltung der Gesellschaft, wenn sie beisammen war, nicht lebhaft werden, dergestalt dass Eduard, der etwas Lueckenhaftes empfand, den Hauptmann eines Abends aufrief, seine Violine hervorzunehmen und Charlotten bei dem Klavier zu begleiten.

Der Hauptmann konnte dem allgemeinen Verlangen nicht widerstehen, und so fuehrten beide mit Empfindung, Behagen und Freiheit eins der schwersten Musikstuecke zusammen auf, dass es ihnen und dem zuhoerenden Paar zum groessten Vergnuegen gereichte.

Man versprach sich oeftere Wiederholung und mehrere Zusammenuebung.

"Sie machen es besser als wir, Ottilie!" sagte Eduard.

"Wir wollen sie bewundern, aber uns doch zusammen freuen".

Der Geburtstag war herbeigekommen und alles fertig geworden: die ganze Mauer, die den Dorfweg gegen das Wasser zu einfasste und erhoehte, ebenso der Weg an der Kirche vorbei, wo er eine Zeitlang in dem von Charlotten angelegten Pfade fortlief, sich dann die Felsen hinaufwaerts schlang, die Mooshuette links ueber sich, dann nach einer voelligen Wendung links unter sich liess und so allmaehlich auf die Hoehe gelangte.

Es hatte sich diesen Tag viel Gesellschaft eingefunden.

Man ging zur Kirche, wo man die Gemeinde im festlichen Schmuck versammelt antraf.

Nach dem Gottesdienste zogen die Knaben, Juenglinge und Maenner, wie es angeordnet war, voraus; dann kam die Herrschaft mit ihrem Besuch und Gefolge; Maedchen, Jungfrauen und Frauen machten den Beschluss.

Bei der Wendung des Weges war ein erhoehter Felsenplatz eingerichtet; dort liess der Hauptmann Charlotten und die Gaeste ausruhen.

Hier uebersahen sie den ganzen Weg, die hinaufgeschrittene Maennrschar, die nachwandelnden Frauen, welche nun vorbeizogen.

Es war bei dem herrlichen Wetter ein wunderschoener Anblick.

Charlotte fuehlte sich ueberrascht, geruehrt und drueckte dem Hauptmann herzlich die Hand.

Man folgte der sachte fortschreitenden Menge, die nun schon einen Kreis um den kuenftigen Hausraum gebildet hatte.

Der Bauherr, die Seinigen und die vornehmsten Gaeste wurden eingeladen, in die Tiefe hinabzusteigen, wo der Grundstein, an einer Seite unterstuetzt, eben zum Niederlassen bereit lag.

Ein wohlgeputzter Maurer, die Kelle in der einen, den Hammer in der andern Hand, hielt in Reimen eine anmutige Rede, die wir in Prosa nur unvollkommen wiedergeben koennen.

"Drei Dinge", fing er an, "sind bei einem Gebaeude zu beachten: dass es am rechten Fleck stehe, dass es wohl gegruendet, dass es vollkommen ausgefuehrt sei.

Das erste ist eigentlich die Sache des Bauherrn; denn wie in der Stadt nur der Fuerst und die Gemeine bestimmen koennen, wohin gebaut werden soll, so ist es auf dem Lande das Vorrecht des Grundherrn, dass er sage: hier soll meine Wohnung stehen und nirgends anders".

Eduard und Ottilie wagten nicht, bei diesen Worten einander anzusehen, ob sie gleich nahe gegen einander ueber standen.

"Das dritte, die Vollendung, ist die Sorge gar vieler Gewerke; ja wenige sind, die nicht dabei beschaeftigt waeren.

Aber das zweite, die Gruendung, ist des Maurers Angelengenheit und, dass wir es nur heraussagen, die Hauptangelegenheit des ganzen Unternehmens.

Es ist ein ernstes Geschaeft, und unsre Einladung ist ernsthaft; denn diese Feierlichkeit wird in der Tiefe begangen.

Hier innerhalb dieses engen, ausgegrabenen Raums erweisen Sie uns die Ehre, als Zeugen unseres geheimnisvollen Geschaeftes zu erscheinen.

Gleich werden wir diesen wohlzugehauenen Stein niederlegen, und bald werden diese mit schoenen und wuerdigen Personen gezierten Erdwaende nicht mehr zugaenglich, sie werden ausgefuellt sein.

Diesen Grundstein, der mit seiner Ecke die rechte Ecke des Gebaeudes, mit seiner Rechtwinkligkeit die Regelmaessigkeit desselben, mit seiner wasser—und senkrechten Lage Lot und Waage aller Mauern und Waende bezeichnet, koennten wir ohne weiteres niederlegen; denn er ruhte wohl auf seiner eignen Schwere.

Aber auch hier soll es am Kalk, am Bindungsmittel nicht fehlen; denn so wie Menschen, die einander von Natur geneigt sind, noch besser zusammenhalten, wenn das Gesetz sie verkittet, so werden auch Steine, deren Form schon zusammenpasst, noch besser durch diese bindenden Kraefte vereinigt; und da es sich nicht ziemen will, unter den Taetigen muessig zu sein, so werden Sie nicht verschmaehen, auch hier Mitarbeiter zu werden".

Er ueberreichte hierauf seine Kelle Charlotten, welche damit Kalk unter den Stein warf.

Mehreren wurde ein Gleiches zu tun angesonnen und der Stein alsobald niedergesenkt, worauf denn Charlotten und den uebrigen sogleich der Hammer gereicht wurde, um durch ein dreimaliges Pochen die Verbindung des Steins mit dem Grunde ausdruecklich zu segnen.

"Des Maurers Arbeit", fuhr der Redner fort, "zwar jetzt unter freiem Himmel, geschieht, wo nicht immer im Verborgnen, doch zum Verborgnen.

Der regelmaessig aufgefuehrte Grund wird verschuettet, und sogar bei den Mauern, die wir am Tage auffuehren, ist man unser am Ende kaum eingedenk.

Die Arbeiten des Steinmetzen und Bildhauers fallen mehr in die Augen, und wir muessen es sogar noch gutheissen, wenn der Tuencher die Spur unserer Haende voellig ausloescht und sich unser Werk zueignet, indem er es ueberzieht, glaettet und faerbt.

Wem muss also mehr daran gelegen sein, das, was er tut, sich selbst recht zu machen, indem er es recht macht, als dem Maurer?

Wer hat mehr als er das Selbstbewusstsein zu naehren Ursach?

Wenn das Haus aufgefuehrt, der Boden geplattet und gepflastert, die Aussenseite mit Zieraten ueberdeckt ist, so sieht er durch alle Huellen immer noch hinein und erkennt noch jene regelmaessigen, sorgfaeltigen Fugen, denen das Ganze sein Dasein und seinen Halt zu danken hat.

Aber wie jeder, der eine uebeltat begangen, fuerchten muss, dass, ungeachtet alles Abwehrens, sie dennoch ans Licht kommen werde, so muss derjenige erwarten, der insgeheim das Gute getan, dass auch dieses wider seinen Willen an den Tag komme.

Deswegen machen wir diesen Grundstein zugleich zum Denkstein. Hier in diese unterschiedlichen gehauenen Vertiefungen soll verschiedenes eingesenkt werden zum Zeugnis fuer eine entfernte Nachwelt.

Diese metallnen zugeloeteten Koecher enthalten schriftliche Nachrichten; auf diese Metallplatten ist allerlei Merkwuerdiges eingegraben; in diesen schoenen glaesernen Flaschen versenken wir den besten Wein, mit Bezeichnung seines Geburtsjahrs; es fehlt nicht an Muenzen verschiedener Art, in diesem Jahre gepraegt: alles dieses erhielten wir durch die Freigebigkeit unseres Bauherrn.

Auch ist hier noch mancher Platz, wenn irgendein Gast und Zuschauer etwas der Nachwelt zu uebergeben Belieben truege".

Nach einer kleinen Pause sah der Geselle sich um; aber wie es in solchen Faellen zu gehen pflegt: niemand war vorbereitet, jedermann ueberrascht, bis endlich ein junger, munterer Offizier anfing und sagte: "wenn ich etwas beitragen soll, das in dieser Schatzkammer noch nicht niedergelegt ist, so muss ich ein paar Knoepfe von der Uniform schneiden, die doch wohl auch verdienen, auf die Nachwelt zu kommen".

Gesagt, getan!

Und nun hatte mancher einen aehnlichen Einfall.

Die Frauenzimmer saeumten nicht, von ihren kleinen Haarkaemmen hineinzulegen; Riechenflaeschchen und andre Zierden wurden nicht geschont; nur Ottilie zauderte, bis Eduard sie durch ein freundliches Wort aus der Betrachtung aller der beigesteuerten und eingelegten Dinge herausriss.

Sie loeste darauf die goldne Kette vom Halse, an der das Bild ihres Vaters gehangen hatte, und legte sie mit leiser Hand ueber die anderen Kleinode hin, worauf Eduard mit einiger Hast veranstaltete, dass der wohlgefugte Deckel sogleich aufgestuerzt und eingekittet wurde.

Der junge Gesell, der sich dabei am taetigsten erwiesen, nahm seine Rednermiene wieder an und fuhr fort: "wir gruenden diesen Stein fuer ewig, zur Sicherung des laengsten Genusses der gegenwaertigen und kuenftigen Besitzer dieses Hauses.

Allein indem wir hier gleichsam einen Schatz vergraben, so denken wir zugleich, bei dem gruendlichsten aller Geschaefte, an die Vergaenglichkeit der menschlichen Dinge; wir denken uns eine Moeglichkeit, dass dieser festversiegelte Deckel wieder aufgehoben werden koenne, welches nicht anders geschehen duerfte, als wenn das alles wieder zerstoert waere, was wir noch nicht einmal aufgefuehrt haben.

Aber eben, damit dieses aufgefuehrt werde: zurueck mit den Gedanken aus der Zukunft, zurueck ins Gegenwaertige!

Lasst und nach begangenem heutigem Feste unsre Arbeit sogleich foerdern, damit keiner von den Gewerken, die auf unserm Grunde fortarbeiten, zu feiern brauche, dass der Bau eilig in die Hoehe steige und vollendet werde und aus den Fenstern, die noch nicht sind, der Hausherr mit den Seinigen und seinen Gaesten sich froehlich in der Gegend umschaue, deren aller sowie saemtlicher Anwesenden Gesundheit hiermit getrunken sei!"

Und so leerte er ein wohlgeschliffenes Kelchglas auf einen Zug aus und warf es in die Luft; denn es bezeichnet das uebermass einer Freude, das Gefaess zu zerstoeren, dessen man sich in der Froehlichkeit bedient.

Aber diesmal ereignete es sich anders: das Glas kam nicht wieder auf den Boden, und zwar ohne Wunder.

Man hatte naemlich, um mit dem Bau vorwaertszukommen, bereits an der entgegengesetzten Ecke den Grund voellig herausgeschlagen, ja schon angefangen, die Mauern aufzufuehren, und zu dem Endzweck das Geruest erbaut, so hoch, als es ueberhaupt noetig war.

Dass man es besonders zu dieser Feierlichkeit mit Brettern belegt und eine Menge Zuschauer hinaufgelassen hatte, war zum Vorteil der Arbeitsleute geschehen.

Dort hinauf flog das Glas und wurde von einem aufgefangen, der diesen Zufall als ein glueckliches Zeichen fuer sich ansah.

Er wies es zuletzt herum, ohne es aus der Hand zu lassen, und man sah darauf die Buchstaben E und O in sehr zierlicher Verschlingung eingeschnitten: es war eins der Glaeser, die fuer Eduarden in seiner Jugend verfertigt worden.

Die Gerueste standen wieder leer, und die leichtesten unter den Gaesten stiegen hinauf, sich umzusehen, und konnten die schoene Aussicht nach allen Seiten nicht genugsam ruehmen; denn was entdeckt der nicht alles, der auf einem hohen Punkte nur um ein Geschoss hoeher steht! Nach dem Innern des Landes zu kamen mehrere neue Doerfer zum Vorschein, den silbernen Streifen des Flusses erblickte man deutlich, ja selbst die Tuerme der Hauptstadt wollte einer gewahr werden.

An der Rueckseite, hinter den waldigen Huegeln, erhoben sich die blauen Gipfel eines fernen Gebirges, und die naechste Gegend uebersah man im ganzen.

"Nun sollten nur noch", rief einer, "die drei Teiche zu einem See vereinigt werden; dann haette der Anblick alles, was gross und wuenschenswert ist".

"Das liesse sich wohl machen", sagte der Hauptmann; "denn sie bildeten schon vorzeiten einen Bergsee".

"Nur bitte ich, meine Platanen—und Pappelgruppe zu schonen", sagte Eduard, "die so schoen am mittelsten Teiche steht".

"Sehen Sie",—wandte er sich zu Ottilien, die er einige Schritte vorfuehrte, indem er hinabwies—"diese Baeume habe ich selbst gepflanzt".

"Wie lange stehen sie wohl schon?" fragte Ottilie.

"Etwa so lange", versetzte Eduard, "als Sie auf der Welt sind.

Ja, liebes Kind, ich pflanzte schon, da Sie noch in der Wiege lagen".

Die Gesellschaft begab sich wieder in das Schloss zurueck.

Nach aufgehobener Tafel wurde sie zu einem Spaziergang durch das Dorf eingeladen, um auch hier die neuen Anstalten in Augenschein zu nehmen.

Dort hatten sich auf des Hauptmanns Veranlassung die Bewohner vor ihren Haeusern versammelt; sie standen nicht in Reihen, sondern familienweise natuerlich gruppiert, teils, wie es der Abend forderte, beschaeftigt, teils auf neuen Baenken ausruhend.

Es ward ihnen angenehmen Pflicht gemacht, wenigstens jeden Sonntag und Festtag diese Reinlichkeit, diese Ordnung zu erneuern.

Eine innere Geselligkeit mit Neigung, wie sie sich unter unseren Freunden erzeugt hatte, wird durch eine groessere Gesellschaft immer nur unangenehm unterbrochen.

Alle vier waren zufrieden, sich wieder im grossen Saale allein zu finden; doch ward dieses haeusliche Gefuehl einigermassen gestoert, indem ein Brief, der Eduarden ueberreicht wurde, neue Gaeste auf morgen ankuendigte.

"Wie wir vermuteten", rief Eduard Charlotten zu; "der Graf wird nicht ausbleiben, er kommt morgen".

"Da ist also auch die Baronesse nicht weit", versetzte Charlotte.

"Gewiss nicht!" antwortete Eduard;" sie wird auch morgen von ihrer Seite anlangen.

Sie bitten um ein Nachtquartier und wollen uebermorgen zusammen wieder fortreisen".

"Da muessen wir unsere Anstalten beizeiten machen, Ottilie! " sagte Charlotte.

"Wie befehlen Sie die Einrichtung?" fragte Ottilie.

Charlotte gab es im allgemeinen an, und Ottilie entfernte sich.

Der Hauptmann erkundigte sich nach dem Verhaeltnis dieser beiden Personen, das er nur im allgemeinsten kannte.

Sie hatten frueher, beide schon anderwaerts verheiratet, sich leidenschaftlich liebgewonnen.

Eine doppelte Ehe war nicht ohne Aufsehn gestoert; man dachte an Scheidung.

Bei der Baronesse war sie moeglich geworden, bei dem Grafen nicht.

Sie mussten sich zum Scheine trennen, allein ihr Verhaeltnis blieb; und wenn sie Winters in der Residenz nicht zusammen sein konnten, so entschaedigten sie sich Sommers auf Lustreisen und in Baedern.

Sie waren beide um etwas aelter als Eduard und Charlotte und saemtlich genaue Freunde aus frueher Hofzeit her.

Man hatte immer ein gutes Verhaeltnis erhalten, ob man gleich nicht alles an seinen Freunden billigte.

Nur diesmal war Charlotten ihre Ankunft gewissermassen ganz ungelegen, und wenn sie die Ursache genau untersucht haette: es war eigentlich um Ottiliens willen.

Das gute, reine Kind sollte ein solches Beispiel so frueh nicht gewahr werden.

"Sie haetten wohl noch ein paar Tage wegbleiben koennen", sagte Eduard, als eben Ottilie wieder hereintrat, "bis wir den Vorwerksverkauf in Ordnung gebracht.

Der Aufsatz ist fertig, die eine Abschrift habe ich hier; nun fehlt es aber an der zweiten, und unser alter Kanzellist ist recht krank".

Der Hauptmann bot sich an, auch Charlotte; dagegen waren einige Einwendungen zu machen.

"Geben Sie mirs nur!" rief Ottilie mit einiger Hast.

"Du wirst nicht damit fertig", sagte Charlotte.

"Freilich muesste ich es uebermorgen frueh haben, und es ist viel", sagte Eduard.

"Es soll fertig sein", rief Ottilie und hatte das Blatt schon in den Haenden.

Des andern Morgens, als sie sich aus dem obern Stock nach den Gaesten umsahen, denen sie entgegenzugehen nicht verfehlen wollten, sagte Eduard: "wer reitet denn so langsam dort die Strasse her?" Der Hauptmann beschrieb die Figur des Reiters genauer.

"So ist ers doch", sagte Eduard; "denn das Einzelne, das du besser siehst als ich, passt sehr gut zu dem Ganzen, das ich recht wohl sehe.

Es ist Mittler.

Wie kommt er aber dazu, langsam und so langsam zu reiten?" Die Figur kam naeher, und Mittler war es wirklich.

Man empfing ihn freundlich, als er langsam die Treppe heraufstieg.

"Warum sind Sie nicht gestern gekommen?" rief ihm Eduard entgegen.

"Laute Feste lieb ich nicht", versetzte jener.

"Heute komm ich aber, den Geburtstag meiner Freundin mit euch im stillen nachzufeiern".

"Wie koennen Sie denn soviel Zeit gewinnen?" fragte Eduard scherzend.

"Meinen Besuch, wenn er euch etwas wert ist, seid ihr einer Betrachtung schuldig, die ich gestern gemacht habe.

Ich freute mich recht herzlich den halben Tag in einem Hause, wo ich Frieden gestiftet hatte, und dann hoerte ich, dass hier Geburtstag gefeiert werde.

’Das kann man doch am Ende selbstisch nennen,’ dachte ich bei mir, ’dass du dich nur mit denen freuen willst, die du zum Frieden bewogen hast.

Warum freust du dich nicht auch einmal mit Freunden, die Frieden halten und hegen?’

Gesagt, getan!

Hier bin ich, wie ich mir vorgenommen hatte".

"Gestern haetten Sie grosse Gesellschaft gefunden, heute finden Sie nur kleine", sagte Charlotte.

"Sie finden den Grafen und die Baronesse, die Ihnen auch schon zu schaffen gemacht haben".

Aus der Mitte der vier Hausgenossen, die den seltsamen, willkommenen Mann umgeben hatten, fuhr er mit verdriesslicher Lebhaftigkeit heraus, indem er sogleich nach Hut und Reitgerte suchte: "schwebt doch immer ein Unstern ueber mir, sobald ich einmal ruhen und mir wohltun will!

Aber warum gehe ich aus meinem Charakter heraus!

Ich haette nicht kommen sollen, und nun werd ich vertrieben.

Denn mit jenen will ich nicht unter einem Dache bleiben; und nehmt euch in acht: sie bringen nichts als Unheil!

Ihr Wesen ist wie ein Sauerteig, der seine Ansteckung fortpflanzt".

Man suchte ihn zu beguetigen, aber vergebens.

"Wer mir den Ehstand angreift", rief er aus, "wer mir durch Wort, ja durch Tat diesen Grund aller sittlichen Gesellschaft untergraebt, der hat es mit mir zu tun; oder wenn ich sein nicht Herr werden kann, habe ich nichts mit ihm zu tun.

Die Ehe ist der Anfang und der Gipfel aller Kultur.

Sie macht den Rohen mild, und der Gebildetste hat keine bessere Gelegenheit, seine Milde zu beweisen.

Unaufloeslich muss sie sein; denn sie bringt so vieles Glueck, dass alles einzelne Unglueck dagegen gar nicht zu rechnen ist.

Und was will man von Unglueck reden?

Ungeduld ist es, die den Menschen von Zeit zu Zeit anfaellt, und dann beliebt er sich ungluecklich zu finden.

Lasse man den Augenblick voruebergehen, und man wird sich gluecklich preisen, dass ein so lange Bestandenes noch besteht.

Sich zu trennen gibts gar keinen hinlaenglichen Grund.

Der menschliche Zustand ist so hoch in Leiden und Freuden gesetzt, dass gar nicht berechnet werden kann, was ein Paar Gatten einander schuldig werden.

Es ist eine unendliche Schuld, die nur durch die Ewigkeit abgetragen werden kann.

Unbequem mag es manchmal sein, das glaub ich wohl, und das ist eben recht.

Sind wir nicht auch mit dem Gewissen verheiratet, das wir oft gerne los sein moechten, weil es unbequemer ist, als uns je ein Mann oder eine Frau werden koennte?" so sprach er lebhaft und haette wohl noch lange fortgesprochen, wenn nicht blasende Postillons die Ankunft der Herrschaften verkuendig haetten, welche wie abgemessen von beiden Seiten zu gleicher Zeit in den Schlosshof hereinfuhren.

Als ihnen die Hausgenossen entgegeneilten, versteckte sich Mittler, liess sich das Pferd an den Gasthof bringen und ritt verdriesslich davon.

Die Gaeste waren bewillkommt und eingefuehrt; sie freuten sich, das Haus, die Zimmer wieder zu betreten, wo sie frueher so manchen guten Tag erlebt und die sie eine lange Zeit nicht gesehn hatten.

Hoechst angenehm war auch den Freunden ihre Gegenwart.

Den Grafen sowie die Baronesse konnte man unter jene hohen, schoenen Gestalten zaehlen, die man in einem mittlern Alter fast lieber als in der Jugend sieht; denn wenn ihnen auch etwas von der ersten Bluete abgehn moechte, so erregen sie doch nun mit der Neigung ein entschiedenes Zutrauen.

Auch dieses Paar zeigte sich hoechst bequem in der Gegenwart.

Ihre freie Weise, die Zustaende des Lebens zu nehmen und zu behandeln, ihre Heiterkeit und scheinbare Unbefangenheit teilte sich sogleich mit, und ein hoher Anstand begrenzte das Ganze, ohne dass man irgendeinen Zwang bemerkt haette.

Diese Wirkung liess sich augenblicks in der Gesellschaft empfinden.

Die Neueintretenden, welche unmittelbar aus der Welt kamen, wie man sogar an ihren Kleidern, Geraetschaften und allen Umgebungen sehen konnte, machten gewissermassen mit unsern Freunden, ihrem laendlichen und heimlich leidenschaftlichen Zustande eine Art von Gegensatz, der sich jedoch sehr bald verlor, indem alte Erinnerungen und gegenwaertige Teilnahme sich vermischten und ein schnelles, lebhaftes Gespraech alle geschwind zusammenverband.

Es waehrte indessen nicht lange, als schon eine Sonderung vorging.

Die Frauen zogen sich auf ihren Fluegel zurueck und fanden daselbst, indem sie sich mancherlei vertrauten und zugleich die neuesten Formen und Zuschnitte von Fruehkleidern, Hueten und derglichen zu mustern anfingen, genugsame Unterhaltung, waehrend die Maenner sich um die neuen Reisewagen, mit vorgefuehrten Pferden, beschaeftigten und gleich zu handeln und zu tauschen anfingen.

Erst zu Tische kam man wieder zusammen.

Die Umkleidung war geschehen, und auch hier zeigte sich das angekommene Paar zu seinem Vorteile.

Alles, was sie an sich trugen, war neu und gleichsam ungesehen und doch schon durch den Gebrauch zur Gewohnheit und Bequemlichkeit eingeweiht.

Das Gespraech war lebhaft und abwechselnd, wie denn in Gegenwart solcher Personen alles und nichts zu interessieren scheint.

Man bediente sich der franzoesischen Sprache, um die Aufwartenden von dem Mitverstaendnis auszuschliessen, und schweifte mit mutwilligem Behagen ueber hohe und mittlere Weltverhaeltnisse hin.

Auf einem einzigen Punkt blieb die Unterhaltung laenger als billig haften, indem Charlotte nach einer Jugendfreundin sich erkundigte und mit einiger Befremdung vernahm, dass sie ehstens geschieden werden sollte.

"Es ist unerfreulich", sagte Charlotte, "wenn man seine abwesenden Freunde irgend einmal geborgen, eine Freundin, die man liebt, versorgt glaubt; eh man sichs versieht, muss man wieder hoeren, dass ihr Schicksal im Schwanken ist, und dass sie erst wieder neue und vielleicht abermals unsichre Pfade des Lebens betreten soll".

"Eigentlich, meine Beste", versetzte der Graf, "sind wir selbst schuld, wenn wir auf solche Weise ueberrascht werden.

Wir moegen uns die irdischen Dinge und besonders auch die ehlichen Verbindungen gern so recht dauerhaft vorstellen, und was den letzten Punkt betrifft, so verfuehren uns die Lustspiele, die wir immer wiederholen sehen, zu solchen Einbildungen, die mit dem Gange der Welt nicht zusammentreffen.

In der Komoedie sehen wir eine Heirat als das letzte Ziel eines durch die Hindernisse mehrerer Akte verschobenen Wunsches, und im Augenblick, da er erreicht ist, faellt der Vorhang, und die momentane Befriedigung klingt bei uns nach.

In der Welt ist es anders; da wird hinten immer fortgespielt, und wenn der Vorhang wieder aufgeht, mag man gern nichts weiter davon sehen noch hoeren".

"Es muss doch so schlimm nicht sein", sagte Charlotte laechelnd, "da man sieht, dass auch Personen, die von diesem Theater abgetreten sind, wohl gern darauf wieder eine Rolle spielen moegen".

"Dagegen ist nichts einzuwenden", sagte der Graf.

"Eine neue Rolle mag man gern wieder uebernehmen, und wenn man die Welt kennt, so sieht man wohl: auch bei dem Ehestande ist es nur diese entschiedene, ewige Dauer zwischen soviel Beweglichem in der Welt, die etwas Ungeschicktes an sich traegt.

Einer von meinen Freunden, dessen gute Laune sich meist in Vorschlaegen zu neuen Gesetzen hervortat, behauptet: eine jede Ehe solle nur auf fuenf Jahre geschlossen werden.

Es sei, sagte er, dies eine schoene, ungrade, heilige Zahl und ein solcher Zeitraum eben hinreichend, um sich kennenzulernen, einige Kinder heranzubringen, sich zu entzweien und, was das Schoenste sei, sich wieder zu versoehnen.

Gewoehnlich rief er aus: ’ wie gluecklich wuerde die erste Zeit verstreichen!

Zwei, drei Jahre wenigstens gingen vergnueglich hin.

Dann wuerde doch wohl dem einen Teil daran gelegen sein, das Verhaeltnis laenger dauern zu sehen, die Gefaelligkeit wuerde wachsen, je mehr man sich dem Termin der Aufkuendigung naeherte.

Der gleichgueltige, ja selbst der unzufriedene Teil wuerde durch ein solches Betragen beguetigt und eingenommen.

Man vergaesse, wie man in guter Gesellschaft die Stunden vergisst, dass die Zeit verfliesse, und faende sich aufs angenehmste ueberrascht, wenn man nach verlaufenem Termin erst bemerkte, dass er schon stillschweigend verlaengert sei".

So artig und lustig dies klang und so gut man, wie Charlotte wohl empfand, diesem Scherz eine tiefe moralische Deutung geben konnte, so waren ihr dergleichen aeusserungen, besonders um Ottiliens willen, nicht angenehm.

Sie wusste recht gut, dass nichts gefaehrlicher sei als ein allzufreies Gespraech, das einen strafbaren oder halbstrafbaren Zustand als einen gewoehnlichen, gemeinen, ja loeblichen bahandelt; und dahin gehoert doch gewiss alles, was die eheliche Verbindung antastet.

Sie suchte daher nach ihrer gewandten Weise das Gespraech abzulenken; da sie es nicht vermochte, tat es ihr leid, dass Ottilie alles so gut eingerichtet hatte, um nicht aufstehen zu duerfen.

Das ruhig aufmerksame Kind verstand sich mit dem Haushofmeister durch Blick und Wink, dass alles auf das trefflichste geriet, obgleich ein paar neue, ungeschickte Bedienten in der livree staken.

Und so fuhr der Graf, Charlottens Ablenken nicht empfindend, ueber diesen Gegenstand sich zu aeussern fort.

Ihm, der sonst nicht gewohnt war, im Gespraech irgend laestig zu sein, lastete diese Sache zu sehr auf dem Herzen, und die Schwierigkeiten, sich von seiner Gemahlin getrennt zu sehen, machten ihn bitter gegen alles, was eheliche Verbindung betraf, die er doch selbst mit der Baronesse so eifrig wuenschte.

"Jener Freund", so fuhr er fort, "tat noch einen andern Gesetzvorschlag: eine Ehe sollte nur alsdann fuer unaufloeslich gehalten werden, wenn entweder beide Teile oder wenigstens der eine Teil zum drittenmal verheiratet waere.

Denn was eine solche Person betreffe, so bekenne sie unwidersprechlich, dass sie die Ehe fuer etwas Unentbehrliches halte.

Nun sei auch schon bekannt geworden, wie sie sich in ihren fruehern Verbindungen betragen, ob sie Eigenheiten habe, die oft mehr zur Trennung Anlass geben als ueble Eigenschaften.

Man habe sich also wechselseitig zu erkundigen; man habe ebensogut auf Verheiratete wie auf Unverheiratete achtzugeben, weil man nicht wisse, wie die Faelle kommen koennen".

"Das wuerde freilich das Interesse der Gesellschaft sehr vermehren", sagte Eduard; "denn in der Tat jetzt, wenn wir verheiratet sind, fragt niemand weiter mehr nach unsern Tugenden noch unsern Maengeln".

"Bei einer solchen Einrichtung", fiel die Baronesse laechelnd ein, "haetten unsere lieben Wirte schon zwei Stufen gluecklich ueberstiegen und koennten sich zu der dritten vorbereiten".

"Ihnen ists wohl geraten", sagte der Graf; "hier hat der Tod willig getan, was die Konsistorien sonst nur ungern zu tun pflegen". "Lassen wir die Toten ruhen", versetzte Charlotte mit einem halb ernsten Blicke.

"Warum?" versetzte der Graf, "da man ihrer in Ehren gedenken kann.

Sie waren bescheiden genug, sich mit einigen Jahren zu begnuegen fuer mannigfaltiges Gute, das sie zurueckliessen".

"Wenn nur nicht gerade", sagte die Baronesse mit einem verhaltenen Seufzer, "in solchen Faellen das Opfer der besten Jahre gebracht werden muesste!" "Jawohl", versetzte der Graf, "man muesste darueber verzweifeln, wenn nicht ueberhaupt in der Welt so weniges eine gehoffte Folge zeigte.

Kinder halten nicht, was sie versprechen, junge Leute sehr selten, und wenn sie Wort halten, haelt es ihnen die Welt nicht".

Charlotte, welche froh war, dass das Gespraech sich wendete, versetzte heiter:" nun!

Wir muessen uns ja ohnehin bald genug gewoehnen, das Gute stueck—und teilweise zu geniessen".

"Gewiss", versetzte der Graf, "Sie haben beide sehr schoener Zeiten genossen.

Wenn ich mir die Jahre zurueckerinnere, da Sie und Eduard das schoenste Paar bei Hof waren; weder von so glaenzenden Zeiten noch von so hervorleuchtenden Gestalten ist jetzt die Rede mehr.

Wenn Sie beide zusammen tanzten, aller Augen waren auf Sie gerichtet, und wie umworben beide, indem Sie sich nur ineinander bespiegelten!" "Da sich so manches veraendert hat", sagte Charlotte, "koennen wir wohl soviel Schoenes mit Bescheidenheit anhoeren".

"Eduarden habe ich doch oft im stillen getadelt", sagte der Graf, "dass er nicht beharrlicher war; denn am Ende haetten seine wunderlichen Eltern wohl nachgegeben; und zehn fruehe Jahre gewinnen ist keine Kleinigkeit".

"Ich muss mich seiner anehmen", fiel die Baronesse ein.

"Charlotte war nicht ganz ohne Schuld, nicht ganz rein von allem Umhersehen, und ob sie gleich Eduarden von Herzen liebte und sich ihn auch heimlich zum Gatten bestimmte, so war ich doch Zeuge, wie sehr sie ihn manchmal quaelte, sodass man ihn leicht zu dem ungluecklichen Entschluss draengen konnte, zu reisen, sich zu entfernen, sich von ihr zu entwoehnen".

Eduard nickte der Baronesse zu und schien dankbar fuer ihre Fuersprache.

"Und dann muss ich eins", fuhr sie fort, "zu Charlottens Entschuldigung beifuegen: der Mann, der zu jener Zeit um sie warb, hatte sich schon lange durch Neigung zu ihr ausgezeichnet und war, wenn man ihn naeher kannte, gewiss liebenswuerdiger, als ihr andern gern zugestehen moegt".

"Liebe Freundin", versetzte der Graf etwas lebhaft, "bekennen wir nur, dass er Ihnen nicht ganz gleichgueltig war, und dass Charlotte von Ihnen mehr zu befuerchten hatte als von einer andern.

Ich finde das einen sehr huebschen Zug an den Frauen, dass sie ihre Anhaenglichkeit an irgendeinen Mann solange noch fortsetzen, ja durch keine Art von Trennung stoeren oder aufheben lassen".

"Diese gute Eigenschaft besitzen vielleicht die Maenner noch mehr", versetzte die Baronesse; "wenigstens an Ihnen lieber Graf, habe ich bemerkt, dass niemand mehr Gewalt ueber Sie hat als ein Frauenzimmer, dem Sie frueher geneigt waren.

So habe ich gesehen, dass Sie auf die Fuersprache einer solchen sich mehr Muehe gaben, um etwas auszuwirken, als vielleicht die Freundin des Augenblicks von Ihnen erlangt haette".

"Einen solchen Vorwurf darf man sich wohl gefallen lassen", versetzte der Graf; "doch was Charlottens ersten Gemahl betrifft, so konnte ich ihn deshalb nicht leiden, weil er mir das schoene Paar auseinandersprengte, ein wahrhaft praedestiniertes Paar, das, einmal zusammengegeben, weder fuenf Jahre zu scheuen, noch auf eine zweite oder gar dritte Verbindung hinzusehen brauchte".

"Wir wollen versuchen", sagte Charlotte, "wieder einzubringen, was wir versaeumt haben".

"Da muessen Sie sich dazuhalten", sagte der Graf.

"Ihre ersten Heiraten", fuhr er mit einiger Heftigkeit fort, "waren doch so eigentlich rechte Heiraten von der verhassten Art, und leider haben ueberhaupt die Heiraten—verzeihen Sie mir einen lebhafteren Ausdruck—etwas Toelpelhaftes; sie verderben die zartesten Verhaeltnisse, und es liegt doch eigentlich nur an der plumpen Sicherheit, auf die sich wenigstens ein Teil etwas zugute tut.

Alles versteht sich von selbst, und man scheint sich nur verbunden zu haben, damit eins wie das andere nunmehr seiner Wege gehe". In diesem Augenblick machte Charlotte, die ein fuer allemal dies Gespraech abbrechen wollte, von einer kuehnen Wendung Gebrauch; es gelang ihr.

Die Unterhaltung ward allgemeiner, die beiden Gatten und der Hauptmann konnten daran teilnehmen; selbst Ottilie ward veranlasst sich zu aeussern, und der Nachtisch ward mit der besten Stimmung genossen, woran der in zierlichen Fruchtkoerben aufgestellte Obstreichtum, die bunteste, in Prachtgefaessen schoen verteilte Blumenfuelle den vorzueglichsten Anteil hatte.

Auch die neuen Parkanlagen kamen zur Sprache, die man sogleich nach Tische besuchte.

Ottilie zog sich unter dem Vorwande haeuslicher Beschaeftigung zurueck; eigentlich aber setzte sie sich nieder zur Abschrift.

Der Graf wurde von dem Hauptmann unterhalten; spaeter gesellte sich Charlotte zu ihm.

Als sie oben auf die Hoehe gelangt waren und der Hauptmann gefaellig hinuntereilte, um den Plan zu holen, sagte der Graf zu Charlotten: "dieser Mann gefaellt mir ausserordentlich.

Er ist sehr wohl und im Zusammenhang unterrichtet.

Ebenso scheint seine Taetigkeit sehr ernst und folgerecht.

Was er hier leistet, wuerde in einem hoehern Kreise von viel Bedeutung sein".

Charlotte vernahm des Hauptmanns Lob mit innigem Behagen.

Sie fasste sich jedoch und bekraeftigte das Gesagte mit Ruhe und Klarheit.

Wie ueberrascht war sie aber, als der Graf fortfuhr: "diese Bekanntschaft kommt mir sehr zu gelegener Zeit.

Ich weiss eine Stelle, an die der Mann vollkommen passt, und ich kann mir durch eine solche Empfehlung, indem ich ihn gluecklich mache, einen hohen Freund auf das allerbeste verbinden".

Es war wie ein Donnerschlag, der auf Charlotten herabfiel.

Der Graf bemerkte nichts; denn die Frauen, gewohnt, sich jederzeit zu baendigen, behalten in den ausserordentlichsten Faellen immer noch eine Art von scheinbarer Fassung.

Doch hoerte sie schon nicht mehr, was der Graf sagte, indem er fortfuhr: "wenn ich von etwas ueberzeugt bin, geht es bei mir geschwind her.

Ich habe schon meinen Brief im Kopfe zusammengestellt, und mich draengts, ihn zu schreiben.

Sie verschaffen mir einen reitenden Boten, den ich noch heute abend wegschicken kann".

Charlotte war innerlich zerrissen.

Von diesen Vorschlaegen sowie von sich selbst ueberrascht, konnte sie kein Wort hervorbringen.

Der Graf fuhr gluecklicherweise fort, von seinen Planen fuer den Hauptmann zu sprechen, deren Guenstiges Charlotten nur allzusehr in die Augen fiel.

Es war Zeit, dass der Hauptmann herauftrat und seine Rolle vor dem Grafen entfaltete.

Aber mit wie andern Augen sah sie den Freund an, den sie verlieren sollte!

Mit einer notduerftigen Verbeugung wandte sie sich weg und eilte hinunter nach der Mooshuette.

Schon auf halbem Wege stuerzten ihr die Traenen aus den Augen, und nun warf sie sich in den engen Raum der kleinen Einsiedelei und ueberliess sich ganz einem Schmerz, einer Leidenschaft, einer Verzweiflung, von deren Moeglichkeit sie wenig Augenblicke vorher auch nicht die leiseste Ahnung gehabt hatte.

Auf der andern Seite war Eduard mit der Baronesse an den Teichen hergegangen.

Die kluge Frau, die gern von allem unterrichtet sein mochte, bemerkte bald in einem tastenden Gespraech, dass Eduard sich zu Ottiliens Lobe weitlaeufig herausliess, und wusste ihn auf eine so natuerliche Weise nach und nach in den Gang zu bringen, dass ihr zuletzt kein Zweifel uebrigblieb, hier sei eine Leidenschaft nicht auf dem Wege, sondern wirklich angelangt.

Verheiratete Frauen, wenn sie sich auch untereinander nicht lieben, stehen doch stillschweigend miteinander, besonders gegen junge Maedchen, im Buendnis.

Die Folgen einer solchen Zuneigung stellten sich ihrem weltgewandten Geiste nur allzugeschwind dar.

Dazu kam noch, dass sie schon heute frueh mit Charlotten ueber Ottilien gesprochen und den Aufenthalt dieses Kindes auf dem Lande, besonders bei seiner stillen Gemuetsart, nicht gebilligt und den Vorschlag getan hatte, Ottilien in die Stadt zu einer Freundin zu bringen, die sehr viel an die Erziehung ihrer einzigen Tochter wende und sich nur nach einer gutartigen Gespielin umsehe, die an die zweite Kindesstatt eintreten und alle Vorteile mitgeniessen solle.

Charlotte hatte sichs zur ueberlegung genommen.

Nun aber brachte der Blick in Eduards Gemuet diesen Vorschlag bei der Baronesse ganz zur vorsaetzlichen Festigkeit, und um so schneller dieses in ihr vorging, um desto mehr schmeichelte sie aeusserlich Eduards Wuenschen.

Denn niemand besass sich mehr als diese Frau, und diese Selbstbeherrschung in ausserordentlichen Faellen gewoehnt uns, sogar einen gemeinen Fall mit Verstellung zu behandeln, macht uns geneigt, indem wir soviel Gewalt ueber uns selbst ueben, unsre Herrschaft auch ueber die andern zu verbreiten, um uns durch das, was wir aeusserlich gewinnen, fuer dasjenige, was wir innerlich entbehren, gewissermassen schadlos zu halten. An diese Gesinnung schliesst sich meist eine Art heimlicher Schadenfreude ueber die Dunkelheit der andern, ueber das Bewusstlose, womit sie in eine Falle gehen.

Wir freuen uns nicht allein ueber das gegenwaertige Gelingen, sondern zugleich auch auf die kuenftig ueberraschende Beschaemung.

Und so war die Baronesse boshaft genug, Eduarden zur Weinlese auf ihre Gueter mit Charlotten einzuladen und die Frage Eduards, ob sie Ottilien mitbringen duerften, auf eine Weise, die er beliebig zu seinen Gunsten auslegen konnte, zu beantworten.

Eduard sprach schon mit Entzuecken von der herrlichen Gegend, dem grossen Flusse, den Huegeln, Felsen und Weinbergen, von alen Schloessern, von Wasserfahrten, von dem Jubel der Weinlese, des Kelterns und so weiter, wobei er in der Unschuld seines Herzens sich schon zum voraus laut ueber den Eindruck freute, den dergleichen Szenen auf das frische Gemuet Ottiliens machen wuerden.

In diesem Augenblick sah man Ottilien herankommen, und die Baronesse sagte schnell zu Eduard, er moechte von dieser vorhabenden Herbstreise ja nichts reden; denn gewoehnlich geschaehe das nicht, worauf man sich so lange voraus freue.

Eduard versprach, noetigte sie aber, Ottilien entgegen geschwinder zu gehen, und eilte ihr endlich, dem lieben Kinde zu, mehrere Schritte voran.

Eine herzliche Freude drueckte sich in seinem ganzen Wesen aus. Er kuesste ihr die Hand, in die er einen Strauss Feldblumen drueckte, die er unterwegs zusammengepflueckt hatte.

Die Baronesse fuehlte sich bei diesem Anblick in ihrem Innern fast erbittert.

Denn wenn sie auch das, was an dieser Neigung strafbar sein mochte, nicht billigen durfte, so konnte sie das, was daran liebenswuerdig und angenehm war, jenem unbedeutenden Neuling von Maedchen keineswegs goennen.

Als man sich zum Abendessen zusammengesetzt hatte, war eine voellig andre Stimmung in der Gesellschaft verbreitet.

Der Graf, der schon vor Tische geschrieben und den Boten fortgeschickt hatte, unterhielt sich mit dem Hauptmann, den er auf eine verstaendige und bescheidene Weise immer mehr ausforschte, indem er ihn diesen Abend an seine Seite gebracht hatte.

Die zur Rechten des Grafen sitzende Baronesse fand von daher wenig Unterhaltung, ebensowenig an Eduard, der, erst durstig, dann aufgeregt, des Weines nicht schonte und sich sehr lebhaft mit Ottilien unterhielt, die er an sich gezogen hatte, wie von der andern Seite neben dem Hauptmann Charlotte sass, der es schwer, ja beinahe unmoeglich ward, die Bewegungen ihres Innern zu verbergen.

Die Baronesse hatte Zeit genug, Beobachtungen anzustellen.

Sie bemerkte Charlottens Unbehagen, und weil sie nur Eduards Verhaeltnis zu Ottilien im Sinn hatte, so ueberzeugte sie sich leicht, auch Charlotte sei bedenklich und verdriesslich ueber ihres Gemahls Benehmen, und ueberlegte, wie sie nunmehr am besten zu ihren Zwecken gelangen koenne.

Auch nach Tische fand sich ein Zwiespalt in der Gesellschaft. Der Graf, der den Hauptmann recht ergruenden wollte, brauchte bei einem so ruhigen, keineswegs eitlen und ueberhaupt lakonischen Manne verschiedene Wendungen, um zu erfahren, was er wuenschte.

Sie gingen miteinander an der einen Seite des Saals auf und ab, indes Eduard, aufgeregt von Wein und Hoffnung, mit Ottilien an einem Fenster scherzte, Charlotte und die Baronesse aber stillschweigend an der andern Seite des Saals nebeneinander hin und wider gingen.

Ihr Schweigen und muessiges Umherstehen brachte denn auch zuletzt eine Stockung in die uebrige Gesellschaft.

Die Frauen zogen sich zurueck auf ihren Fluegel, die Maenner auf den andern, und so schien dieser Tag abgeschlossen.

Eduard begleitete den Grafen auf sein Zimmer und liess sich recht gern durchs Gespraech verfuehren, noch eine Zeitlang bei ihm zu bleiben.

Der Graf verlor sich in vorige Zeiten, gedachte mit Lebhaftigkeit an die Schoenheit Charlottens, die er als ein Kenner mit vielem Feuer entwickelte:" ein schoener Fuss ist eine grosse Gabe der Natur. Diese Anmut ist unverwuenstlich.

Ich habe sie heute im Gehen Beobachtet; noch immer moechte man ihren Schuh kuessen und die zwar etwas barbarische, aber doch tief gefuehlte Ehrenbezeugung der Aarmaten wiederholen, die sich nichts Besseres kennen, als aus dem Schuh einer geliebten und verehrten Person ihre Gesundheit zu trinken".

Die Spitze des Fusses blieb nicht allein der Gegenstand des Lobes unter zwei vertrauten Maennern.

Sie gingen von der Person auf alte Geschichten und Abenteuer zurueck und kamen auf die Hindernisse, die man ehemals den Zusammenkuenften dieser beiden Liebenden entgegengesetzt, welche Muehe sie sich gegeben, welche Kunstgriffe sie erfunden, nur um sich sagen zu koennen, dass sie sich liebten.

"Erinnerst du dich", fuhr der Graf fort, "welch Abenteuer ich dir recht freundschaftlich und uneigennuetzig bestehen helfen, als unsre hoechsten Herrschaften ihren Oheim besuchten und auf dem weitlaeufigen Schlosse zusammenkamen?

Der Tag war in Feierlichkeiten und Feierkleidern hingegangen; ein Teil der Nacht sollte wenigstens unter freiem, liebevollem Gespraech verstreichen".

"Den Hinweg zu dem Quartier der Hofdamen hatten Sie sich wohl gemerkt", sagte Eduard.

"Wir gelangten gluecklich zu meiner Geliebten".

"Die", versetzte der Graf, "mehr an den Anstand als an meine Zufriedenheit gedacht und eine sehr haessliche Ehrenwaechterin bei sich behalten hatte; da mir denn, indessen ihr euch mit Blicken und Worten sehr gut unterhieltet, ein hoechst unerfreuliches Los zuteil ward".

"Ich habe mich noch gestern", versetzte Eduard, "als Sie sich anmelden liessen, mit meiner Frau an die Geschichte erinnert, besonders an unsern Rueckzug.

Wir verfehlten den Weg und kamen an den Vorsaal der Garden.

Weil wir uns nun von da recht gut zu finden wussten, so glaubten wir auch hier ganz ohne Bedenken hindurch und an dem Posten, wie an den uebrigen, vorbei gehen zu koennen.

Aber wie gross war beim Eroeffnen der Tuere unsere Verwunderung!

Der Weg war mit Matratzen verlegt, auf denen die Riesen in mehreren Reihen ausgestreckt lagen und schliefen.

Der einzige Wachende auf dem Posten sah uns verwundert an; wir aber, im jugendlichen Mut und Mutwillen, stiegen ganz gelassen ueber die ausgestreckten Stiefel weg, ohne dass auch nur einer von diesen schnarchenden Enakskindern erwacht waere".

"Ich hatte grosse Lust zu stolpern", sagte der Graf, "damit es Laerm gegeben haette; denn welch eine seltsame Auferstehung wuerden wir gesehen haben!" In diesem Augenblick schlug die Schlossglocke zwoelf.

"Es ist hoch Mitternacht", sagte der Graf laechelnd, "und eben gerechte Zeit.

Ich muss Sie, lieber Baron, um eine Gefaelligkeit bitten: fuehren Sie mich heute, wie ich Sie damals fuehrte; ich habe der Baronesse das Versprechen gegeben, sie noch zu besuchen.

Wir haben uns den ganzen Tag nicht allein gesprochen, wir haben uns solange nicht gesehen, und nichts ist natuerlicher, als dass man sich nach einer vertraulichen Stunde sehnt.

Zeigen Sie mir den Hinweg, den Rueckweg will ich schon finden, und auf alle Faelle werde ich ueber keine Stiefel wegzustolpern haben".

"Ich will Ihnen recht gern diese gastliche Gefaelligkeit erzeigen", versetzte Eduard; "nur sind die drei Frauenzimmer drueben zusammen auf dem Fluegel.

Wer weiss, ob wir sie nicht noch beieinander finden, oder was wir sonst fuer Haendel anrichten, die irgendein wunderliches Ansehn gewinnen".

"Nur ohne Sorge!" sagte der Graf; "die Baronesse erwartet mich.

Sie ist um diese Zeit gewiss auf ihrem Zimmer und allein".

"Die Sache ist uebringens leicht", versetzte Eduard und nahm ein Licht, dem Grafen vorleuchtend eine geheime Treppe hinunter, die zu einem langen Gang fuehrte.

Am Ende desselben oeffnete Eduard eine kleine Tuere.

Sie erstiegen eine Wendeltreppe; oben auf einem engen Ruheplatz deutete Eduard dem Grafen, dem er das Licht in die Hand gab, nach einer Tapetentuere rechts, die beim ersten Versuch sogleich sich oeffnete, den Grafen aufnahm und Eduarden in dem dunklen Raum zurueckliess.

Eine andre Tuere links ging in Charlottens Schlafzimmer.

Er hoerte reden und horchte.

Charlotte sprach zu ihrem Kammermaedchen: "ist Ottilie schon zu Bette?"—"Nein", versetzte jene, "sie sitzt noch unten und schreibt".

-"So zuende Sie das Nachtlicht an", sagte Charlotte, "und gehe Sie nur hin: es ist spaet.

Die Kerze will ich selbst ausloeschen und fuer mich zu Bette gehen".

Eduard hoerte mit Entzuecken, dass Ottilie noch schreibe.

’Sie beschaeftigt sich fuer mich!’ dachte er triumphierend.

Durch die Finsternis ganz in sich selbst geengt, sah er sie sitzen, schreiben; er glaubte zu ihr zu treten, sie zu sehen, wie sie sich nach ihm umkehrte; er fuehlte ein unueberwindliches Verlangen, ihr noch einmal nahe zu sein.

Von hier aber war kein Weg in das Halbgeschoss, wo sie wohnte. Nun fand er sich unmittelbar an seiner Frauen Tuere, eine sonderbare Verwechselung ging in seiner Seele vor; er suchte die Tuere aufzudrehen, er fand sie verschlossen, er pochte leise an, Charlotte hoerte nicht.

Sie ging in dem groesseren Nebenzimmer lebhaft auf und ab.

Sie wiederholte sich aber—und abermals, was sie seit jenem unerwarteten Vorschlag des Grafen oft genug bei sich um und um gewendet hatte.

Der Hauptmann schien vor ihr zu stehen.

Er fuellte noch das Haus, er belebte noch die Spaziergaenge, und er sollte fort, das alles sollte leer werden!

Sie sagte sich alles, was man sich sagen kann, ja sie antizipierte, wie man gewoehnlich pflegt, den leidigen Trost, dass auch solche Schmerzen durch die Zeit gelindert werden.

Sie verwuenschte die Zeit, die es braucht, um sie zu lindern; sie verwuenschte die totenhafte Zeit, wo sie wuerden gelindert sein.

Da war denn zuletzt die Zuflucht zu den Traenen um so willkommner, als sie bei ihr selten stattfand.

Sie warf sich auf den Sofa und ueberliess sich ganz ihrem Schmerz.

Eduard seinerseits konnte von der Tuere nicht weg; er pochte nochmals, und zum drittenmal etwas staerker, sodass Charlotte durch die Nachtstille es ganz deutlich vernahm und erschreckt auffuhr.

Der erste Gedanke war, es koenne, es muesse der Hauptmann sein; der zweite, das sei unmoeglich.

Sie hielt es fuer Taeuschung, aber sie hatte es gehoert, sie wuenschte, sie fuerchtete es gehoert zu haben.

Sie ging ins Schlafzimmer, trat leise zu der verriegelten Tapetentuer.

Sie schalt sich ueber ihre Furcht.

‘Wie leicht kann die Graefin etwas beduerfen!’ sagte sie zu sich selbst und rief gefasst und gesetzt: "ist jemand da?" Eine leise Stimme antwortete: "ich bins".

-"Wer?" entgegnete Charlotte, die den Ton nicht unterscheiden konnte.

Ihr stand des Hauptmanns Gestalt vor der Tuer.

Etwas lauter klang es ihr entgegen:" Eduard!" Sie oeffnete, und ihr Gemahl stand vor ihr.

Er begruesste sie mit einem Scherz.

Es ward ihr moeglich, in diesem Tone fortzufahren.

Er verwickelte den raetselhaften Besuch in raetselhafte Erklaerungen.

"Warum ich denn aber eigentlich komme", sagte er zuletzt, "muss ich dir nur gestehen.

Ich habe ein Geluebde getan, heute abend noch deinen Schuh zu kuessen".

"Das ist dir lange nicht eingefallen", sagte Charlotte.

"Desto schlimmer", versetzte Eduard," und desto besser!" Sie hatte sich in einen Sessel gesetzt, um ihre leichte Nachtkleidung seinen Blicken zu entziehen.

Er warf sich vor ihr nieder, und sie konnte sich nicht erwehren, dass er nicht ihren Schuh kuesste, und dass, als dieser ihm in der Hand blieb, er den Fuss ergriff und ihn zaertlich an seine Brust drueckte.

Charlotte war eine von den Frauen, die, von Natur maessig, im Ehestande ohne Vorsatz und Anstrengung die Art und Weise der Liebhaberinnen fortfuehren.

Niemals reizte sie den Mann, ja seinem Verlangen kam sie kaum entgegen; aber ohne Kaelte und abstossende Strenge glich sie immer einer liebevollen Braut, die selbst vor dem Erlaubten noch innige Scheu traegt.

Und so fand sie Eduard diesen Abend in doppeltem Sinne.

Wie sehnlich wuenschte sie den Gatten weg; denn die Luftgestalt des Freundes schien ihr Vorwuerfe zu machen.

Aber das, was Eduarden haette entfernen sollen, zog ihn nur mehr an.

Eine gewisse Bewegung war an ihr sichtbar.

Sie hatte geweint, und wenn weiche Personen dadurch meist an Anmut verlieren, so gewinnen diejenigen dadurch unendlich, die wir gewoehnlich als stark und gefasst kennen.

Eduard war so liebenswuerdig, so freundlich, so dringend; er bat sie, bei ihr bleiben zu duerfen, er forderte nicht, bald ernst bald scherzhaft suchte er sie zu bereden, er dachte nicht daran, dass er Rechte habe, und loeschte zuletzt mutwillig die Kerze aus.

In der Lampendaemmerung sogleich behauptete die innre Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte ueber das Wirkliche: Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen, Charlotten schwebte der Hauptmann naeher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwaertiges reizend und wonnevoll durcheinander.

Und doch laesst sich die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben.

Sie brachten einen Teil der Nacht unter allerlei Gespraechen und Scherzen zu, die um desto freier waren, als das Herz leider keinen Teil daran nahm.

Aber als Eduard des andern Morgens an dem Busen seiner Frau erwachte, schien ihm der Tag ahnungsvoll hereinzublicken, die Sonne schien ihm ein Verbrechen zu beleuchten; er schlich sich leise von ihrer Seite, und sie fand sich, seltsam genug, allein, als sie erwachte.

Als die Gesellschaft zum Fruehstueck wieder zusammenkam, haette ein aufmerksamer Beobachter an dem Betragen der einzelnen die Verschiedenheit der innern Gesinnungen und Empfindungen abnehmen koennen.

Der Graf und die Baronesse begegneten sich mit dem heitern Behagen, das ein Paar Liebende empfinden, die sich nach erduldeter Trennung ihrer wechselseitigen Neigung abermals versichert halten, dagegen Charlotte und Eduard gleichsam beschaemt und ruhig dem Hauptmann und Ottilien entgegentraten.

Denn so ist die Liebe beschaffen, dass sie allein recht zu haben glaubt und alle anderen Rechte vor ihr verschwinden.

Ottilie war kindlich heiter, nach ihrer Weise konnte man sie offen nennen.

Ernst erschien der Hauptmann; ihm war bei der Unterredung mit dem Grafen, indem dieser alles in ihm aufregte, was einige Zeit geruht und geschlafen hatte, nur zu fuehlbar geworden, dass er eigentlich hier seine Bestimmung nicht erfuelle und im Grunde bloss in einem halbtaetigen Muessiggang hinschlendere.

Kaum hatten sich die beiden Gaeste entfernt, als schon wieder neuer Besuch eintraf, Charlotten willkommen, die aus sich selbst herauszugehen, sich zu zerstreuen wuenschte; Eduarden ungelegen, der eine doppelte Neigung fuehlte, sich mit Ottilien zu beschaeftigen; Ottilien gleichfalls unerwuenscht, die mit ihrer auf morgen frueh so noetigen Abschrift noch nicht fertig war.

Und so eilte sie auch, als die Fremden sich spaet entfernten, sogleich auf ihr Zimmer.

Es war Abend geworden.

Eduard, Charlotte und der Hauptmann, welche die Fremden, ehe sie sich in den Wagen setzten, eine Strecke zu Fuss begleitet hatten, wurden einig, noch einen Spaziergang nach den Teichen zu machen.

Ein Kahn war angekommen, den Eduard mit ansehnlichen Kosten aus der Ferne verschrieben hatte.

Man wollte versuchen, ob er sich leicht bewegen und lenken lasse.

Er war am Ufer des mittelsten Teiches nicht weit von einigen alten Eichbaeumen angebunden, auf die man schon bei kuenftigen Anlagen gerechnet hatte.

Hier sollte ein Landungsplatz angebracht, unter den Baeumen ein architektonischer Ruhesitz aufgefuehrt werden, wonach diejenigen, die ueber den See fahren, zu steuern haetten.

"Wo wird man denn nun drueben die Landung am besten anlegen?" fragte Eduard.

"Ich sollte denken, bei meinen Platanen".

"Sie stehen ein wenig zu weit rechts", sagte der Hauptmann. "Landet man weiter unten, so ist man dem Schlosse naeher; doch muss man es ueberlegen".

Der Hauptmann stand schon im Hinterteile des Kahns und hatte ein Ruder ergriffen.

Charlotte stieg ein, Eduard gleichfalls und fasste das andre Ruder; aber als er eben im Abstossen begriffen war, gedachte er Ottiliens, gedachte, dass ihn diese Wasserfahrt verspaeten, wer weiss erst wann zurueckfuehren wuerde.

Er entschloss sich kurz und gut, sprang wieder ans Land, reichte dem Hauptmann das andre Ruder und eilte, sich fluechtig entschuldigend, nach Hause.

Dort vernahm er, Ottilie habe sich eingeschlossen, sie schreibe.

Bei dem angenehmen Gefuehle, dass sie fuer ihn etwas tue, empfand er das lebhafteste Missbehagen, sie nicht gegenwaertig zu sehen.

Seine Ungeduld vermehrte sich mit jedem Augenblicke.

Er ging in dem grossen Saale auf und ab, versuchte allerlei, und nichts vermochte seine Aufmerksamkeit zu fesseln.

Sie wuenschte er zu sehen, allein zu sehen, ehe noch Charlotte mit dem Hauptmann zurueckkaeme.

Es ward Nacht, die Kerzen wurden angezuendet.

Endlich trat sie herein, glaenzend von Liebenswuerdigkeit.

Das Gefuehl, etwas fuer den Freund getan zu haben, hatte ihr ganzes Wesen ueber sich selbst gehoben.

Sie legte das Original und die Abschrift vor Eduard auf den Tisch.

"Wollen wir kollationieren?" sagte sie laechelnd.

Eduard wusste nicht, was er erwidern sollte.

Er sah sie an, er besah die Abschrift.

Die ersten Blaetter waren mit der groessten Sorgfalt, mit einer zarten weiblichen Hand geschrieben, dann schienen sich die Zuege zu veraendern, leichter und freier zu werden; aber wie erstaunt war er, als er die letzten Seiten mit den Augen ueberlief!

"Um Gottes willen!" rief er aus, "was ist das?

Das ist meine Hand!" Er sah Ottilien an und wieder auf die Blaetter, besonders der Schluss war ganz, als wenn er ihn selbst geschrieben haette.

Ottilie schwieg, aber sie blickte ihm mit der groessten Zufriedenheit in die Augen.

Eduard hob seine Arme empor: "du liebst mich!" rief er aus, "Ottilie, du liebst mich" und sie hielten einander umfasste.

Wer das andere zuerst ergriffen, waere nicht zu unterscheiden gewesen.

Von diesem Augenblick an war die Welt fuer Eduarden umgewendet, er nicht mehr, was er gewesen, die Welt nicht mehr, was sie gewesen.

Sie standen voreinander, er hielt ihre Haende, sie sahen einander in die Augen, im Begriff, sich wieder zu umarmen.

Charlotte mit dem Hauptmann trat herein.

Zu den Entschuldigungen eines laengeren Aussenbleibens laechelte Eduard heimlich.

’O wie viel zu frueh kommt ihr!’ sagte er zu sich selbst.

Sie setzten sich zum Abendessen.

Die Personen des heutigen Besuchs wurden beurteilt.

Eduard, liebevoll aufgeregt, sprach gut von einem jeden, immer schonend, oft billigend.

Charlotte, die nicht durchaus seiner Meinung war, bemerkte diese Stimmung und scherzte mit ihm, dass er, der sonst ueber die scheidende Gesellschaft immer das strengste Zungengericht ergehen lasse, heute so mild und nachsichtig sei.

Mit Feuer und herzlicher ueberzeugung rief Eduard: "man muss nur Ein Wesen recht von Grund aus lieben, da kommen einem die uebrigen alle liebenswuerdig vor!" Ottilie schlug die Augen nieder, und Charlotte sah vor sich hin.

Der Hauptmann nahm das Wort und sagte:" mit den Gefuehlen der Hochachtung, der Verehrung ist es doch auch etwas aehnliches.

Man erkennt nur erst das Schaetzenswerte in der Welt, wenn man solche Gesinnungen an Einem Gegenstande zu ueben Gelegenheit findet".

Charlotte suchte bald in ihr Schlafzimmer zu gelangen, um sich der Erinnerung dessen zu ueberlassen, was diesen Abend zwischen ihr und dem Hauptmann vorgegangen war.

Als Eduard ans Ufer springend den Kahn vom Lande stiess, Gattin und Freund dem schwankenden Element selbst ueberantwortete, sah nunmehr Charlotte den Mann, um den sie im stillen schon soviel gelitten hatte, in der Daemmerung vor sich sitzen und durch die Fuehrung zweier Ruder das Fahrzeug in beliebiger Richtung fortbewegen.

Sie empfand eine tiefe, selten gefuehlte Traurigkeit.

Das Kreisen des Kahns, das Plaetschern der Ruder, der ueber den Wasserspiegel hinschauernde Wildhauch, das Saeuseln der Rohre, das letzte Schweben der Voegel, das Blinken und Widerblinken der ersten Sterne: alles hatte etwas Geisterhaftes in dieser allgemeinen Stille.

Es schien ihr, der Freund fuehre sie weit weg, um sie auszusetzen, sie allein zu lassen.

Eine wunderbare Bewegung war in ihrem Innern, und sie konnte nicht weinen.

Der Hauptmann beschrieb ihr unterdessen, wie nach seiner Absicht die Anlagen werden sollten.

Er ruehmte die guten Eigenschaften des Kahns, dass er sich leicht mit zwei Rudern von einer Person bewegen und regieren lasse.

Sie werde das selbst lernen, es sei eine angenehme Empfindung, manchmal allein auf dem Wasser hinzuschwimmen und sein eigner Faehr—und Steuermann zu sein.

Bei diesen Worten fiel der Freundin die bevorstehende Trennung aufs Herz.

’Sagt er das mit Vorsatz?’ dachte sie bei sich selbst.

’Weiss er schon davon?

Vermutet ers?

Oder sagt er es zufaellig, so dass er mir bewusstlos mein Schicksal vorausverkuendigt?’ Es ergriff sie eine grosse Wehmut, eine Ungeduld; sie bat ihn, baldmoeglichst zu landen und mit ihr nach dem Schlosse zurueckzukehren. Es war das erstemal, dass der Hauptmann die Teiche befuhr, und ob er gleich im allgemeinen ihre Tiefe untersucht hatte, so waren ihm doch die einzelnen Stellen unbekannt.

Dunkel fing es an zu werden; er richtete seinen Lauf dahin, wo er einen bequemen Ort zum Aussteigen vermutete und den Fusspfad nicht entfernt wusste, der nach dem Schlosse fuehrte.

Aber auch von dieser Bahn wurde er einigermassen abgelenkt, als Scharlotte mit einer Art von Angstlichkeit den Wunsch wiederholte, bald am Lande zu sein.

Er naeherte sich mit erneuten Anstrengungen dem Ufer, aber leider fuehlte er sich in einiger Entfernung davon angehalten; er hatte sich festgefahren, und seine Bemuehungen, wieder loszukommen, waren vergebens.

Was war zu tun?

Ihm blieb nichts uebrig, als in das Wasser zu steigen, das seicht genug war, und die Freundin an das Land zu tragen.

Gluecklich brachte er die liebe Buerde hinueber, stark genug, um nicht zu schwanken oder ihr einige Sorgen zu geben; aber doch hatte sie aengstlich ihre Arme um seinen Hals geschlungen.

Er hielt sie fest und drueckte sie an sich.

Erst auf einem Rasenabhang liess er sie nieder, nicht ohne Bewegung und Verwirrung.

Sie lag noch an seinem Halse; er schloss sie aufs neue in seine Arme und drueckte einen lebhaften Kuss auf ihre Lippen; aber auch im Augenblick lag er zu ihrem Fuessen, drueckte seinen Mund auf ihre Hand und rief: "Charlotte, werden Sie mir vergeben?" Der Kuss, den der Freund gewagt, den sie ihm beinahe zurueckgegeben, brachte Charlotten wieder zu sich selbst.

Sie drueckte seine Hand, aber sie hob ihn nicht auf.

Doch indem sie sich zu ihm hinunterneigte und eine Hand auf seine Schultern legte, rief sie aus: "dass dieser Augenblick in unserm Leben Epoche mache, koennen wir nicht verhindern; aber dass sie unser wert sei, haengt von uns ab.

Sie muessen scheiden, lieber Freund, und Sie werden scheiden. Der Graf macht Anstalt, Ihr Schicksal zu verbessern; es freut und schmerzt mich.

Ich wollte es verschweigen, bis es gewiss waere; der Augenblick noetigt mich, dies Geheimnis zu entdecken.

Nur insofern kann ich Ihnen, kann ich mir verzeihen, wenn wir den Mut haben, unsre Lage zu aendern, da es von uns nicht abhaengt, unsre Gesinnung zu aendern".

Sie hub ihn auf und ergriff seinen Arm, um sich darauf zu stuetzen, und so kamen sie stillschweigend nach dem Schlosse.

Nun aber stand sie in ihrem Schlafzimmer, wo sie sich als Gattin Eduards empfinden und betrachten musste.

Ihr kam bei diesen Widerspruechen ihr tuechtiger und durchs Leben mannigfaltig geuebter Charakter zu Huelfe.

Immer gewohnt, sich ihrer selbst bewusst zu sein, sich selbst zu gebieten, ward es ihr auch jetzt nicht schwer, durch ernste Betrachtung sich dem erwuenschten Gleichgewichte zu naehern; ja sie musste ueber sich selbst laecheln, indem sie des wunderlichen Nachtbesuches gedachte.

Doch schnell ergriff sie eine seltsame Ahnung, ein freudig baengliches Erzittern, das in fromme Wuensche und Hoffnungen sich aufloeste. Geruehrt kniete sie nieder, sie wiederholte den Schwur, den sie Eduarden vor dem Altar getan.

Freundschaft, Neigung, Entsagen gingen vor ihr in heitern Bildern vorueber.

Sie fuehlte sich innerlich wiederhergestellt.

Bald ergreift sie eine suesse Muedigkeit und ruhig schlaeft sie ein.

Eduard von seiner Seite ist in einer ganz verschiedenen Stimmung.

Zu schlafen denkt er so wenig, dass es ihm nicht einmal einfaellt, sich auszuziehen.

Die Abschrift des Dokuments kuesste er tausendmal, den Anfang von Ottiliens kindlich schuechterner Hand; das Ende wagt er kaum zu kuessen, weil er seine eigene Hand zu sehen glaubt.

’O, dass es ein andres Dokument waere!’ sagt er sich im stillen; und doch ist es ihm auch schon die schoenste Versicherung, dass sein hoechster Wunsch erfuellt sei.

Bleibt es ja doch in seinen Haenden!

Und wird er es nicht immerfort an sein Herz druecken, obgleich entstellt durch die Unterschrift eines Dritten?

Der abnehmende Mond steigt ueber den Wald hervor.

Die warme Nacht lockt ins Freie; er schweift umher, er ist der unruhigste und der gluecklichste aller Sterblichen.

Er wandelt durch die Gaerten; sie sind ihm zu enge; er eilt auf das Feld, und es wird ihm zu weit.

Nach dem Schlosse zieht es ihn zurueck; er findet sich unter Ottiliens Fenstern.

Dort setzt er sich auf eine Terrassentreppe.

’Mauern und Riegel’, sagt er zu sich selbst, ’trennen uns jetzt, aber unsre Herzen sind nicht getrennt.

Stuende sie vor mir, in meine Arme wuerde sie fallen, ich in die ihrigen, und was bedarf es weiter als diese Gewissheit!’

Alles war still um ihn her, kein Lueftchen regte sich; so still wars, dass er das wuehlende Arbeiten emsiger Tiere unter der Erde vernehmen konnte, denen Tag und Nacht gleich sind.

Er hing ganz seinen gluecklichen Traeumen nach, schlief endlich ein und erwachte nicht eher wieder, als bis die Sonne mit herrlichem Blick heraufstieg und die fruehsten Nebel gewaeltigte.

Nun fand er sich den ersten Wachenden in seinen Besitzungen.

Die Arbeiter schienen ihm zu lange auszubleiben.

Sie kamen; es schienen ihm ihrer zu wenig und die vorgesetzte Tagesarbeit fuer seine Wuensche zu gering.

Er fragte nach mehreren Arbeitern; man versprach sie und stellte sie im Laufe des Tages.

Aber auch diese sind ihm nicht genug, um seine Vorsaetze schleunig ausgefuehrt zu sehen.

Das Schaffen macht ihm keine Freude mehr; es soll schon alles fertig sein, und fuer wen?

Die Wege sollen gebahnt sein, damit Ottilie bequem sie gehen, die Sitze schon an Ort und Stelle, damit Ottilie dort ruhen koenne.

Auch an dem neuen Hause treibt er, was er kann; es soll an Ottiliens Geburtstage gerichtet werden.

In Eduards Gesinnungen wie in seinen Handlungen ist kein Mass mehr.

Das Bewusstsein, zu lieben und geliebt zu werden, treibt ihn ins Unendliche.

Wie veraendert ist ihm die Ansicht von allen Zimmern, von allen Umgebungen!

Er findet sich in seinem eigenen Hause nicht mehr.

Ottiliens Gegenwart verschlingt ihm alles; er ist ganz in ihr versunken, keine andre Betrachtung steigt vor ihm auf, kein Gewissen spricht ihm zu; alles, was in seiner Natur gebaendigt war, bricht los, sein ganzes Wesen stroemt gegen Ottilien.

Der Hauptmann beobachtet dieses leidenschaftliche Treiben und wuenscht den traurigen Folgen zuvorzukommen.

Alle diese Anlagen, die jetzt mit einem einseitigen Triebe, uebermaessig gefoerdert werden, hatte er auf ein ruhig freundliches Zusammenleben berechnet.

Der Verkauf des Vorwerks war durch ihn zustande gebracht, die erste Zahlung geschehen, Charlotte hatte sie der Abrede nach in ihre Kasse genommen.

Aber sie muss gleich in der ersten Woche Ernst und Geduld und Ordnung mehr als sonst ueben und im Auge haben; denn nach der uebereilten Weise wird das Ausgesetzte nicht lange reichen.

Es war viel angefangen und viel zu tun.

Wie soll er Charlotten in dieser Lage lassen!

Sie beraten sich und kommen ueberein, man wolle die planmaessigen Arbeiten lieber selbst beschleunigen, zu dem Ende Gelder aufnehmen und zu deren Abtragung die Zahlungstermine anweisen, die vom Vorwerksverkauf zurueckgeblieben waren.

Es liess sich fast ohne Verlust durch Zession der Gerechtsame tun; man hatte freiere Hand; man leistete, da alles im Gange, Arbeiter genug vorhanden waren, mehr auf einmal und gelangte gewiss und bald zum Zweck.

Eduard stimmte gern bei, weil es mit seinen Absichten uebereintraf.

Im innern Herzen beharrt indessen Charlotte bei dem, was sie bedacht und sich vorgesetzt, und maennlich steht ihr der Freund mit gleichem Sinn zur Seite.

Aber eben dadurch wird ihre Vertraulichkeit nur vermehrt.

Sie erklaeren sich wechselseitig ueber Eduards Leidenschaft, sie beraten sich darueber.

Charotte schliesst Ottilien naeher an sich, beobachtet sie strenger, und je mehr sie ihr eigen Herz gewahr worden, desto tiefer blickt sie in das Herz des Maedchens.

Sie sieht keine Rettung, als sie muss das Kind entfernen.

Nun scheint es ihr eine glueckliche Fuegung, dass Luciane ein so ausgezeichnetes Lob in der Pension erhalten; denn die Grosstante, davon unterrichtet, will sie nun ein fuer allemal zu sich nehmen, sie um sich haben, sie in die Welt einfuehren.

Ottilie konnte in die Pension zurueckkehren, der Hauptmann entfernte sich wohlversorgt; und alles stand wie vor wenigen Monaten, ja um so viel besser.

Ihr eigenes Verhaeltnis hoffte Charlotte zu Eduard bald wiederherzustellen, und sie legte das alles so verstaendig bei sich zurecht, dass sie sich nur immer mehr in dem Wahn bestaerkte: in einen fruehern, beschraenktern Zustand koenne man zurueckkehren, ein gewaltsam Entbundenes lasse sich wieder ins Enge bringen.

Eduard empfand indessen die Hindernisse sehr hoch, die man ihm in den Weg legte.

Er bemerkte gar bald, dass man ihn und Ottilien auseinanderhielt, dass man ihm erschwerte, sie allein zu sprechen, ja sich ihr zu naehern, ausser in Gegenwart von mehreren; und indem er hierueber verdriesslich war, ward er es ueber manches andere.

Konnte er Ottilien fluechtig sprechen, so war es nicht nur, sie seiner Liebe zu versichern, sondern sich auch ueber seine Gattin, ueber den Hauptmann zu beschweren.

Er fuehlte nicht, dass er selbst durch sein heftiges Treiben die Kasse zu erschoepfen auf dem Wege war; er tadelte bitter Charlotten und den Hauptmann, dass sie bei dem Geschaeft gegen die erste Abrede handelten, und doch hatte er in die zweite Abrede gewilligt, ja er hatte sie selbst veranlasst und notwendig gemacht.

Der Hass ist parteiisch, aber die Liebe ist es noch mehr.

Auch Ottilie entfremdete sich einigermassen von Charlotten und dem Hauptmann.

Als Eduard sich einst gegen Ottilien ueber den letztern beklagte, dass er als Freund und in einem solchen Verhaeltnisse nicht ganz aufrichtig handle, versetzte Ottilie unbedachtsam: "es hat mir schon frueher missfallen, dass er nicht ganz redlich gegen Sie ist.

Ich hoerte ihn einmal zu Charlotten sagen: ’wenn uns nur Eduard mit seiner Floetendudelei verschonte!

Es kann daraus nichts werden und ist fuer die Zuhoerer so laestig.’

Sie koennen denken, wie mich das geschmerzt hat, da ich Sie so gern akkompagniere".

Kaum hatte sie es gesagt, als ihr schon der Geist zufluesterte, dass sie haette schweigen sollen; aber es war heraus.

Eduards Gesichtszuege verwandelten sich.

Nie hatte ihn etwas mehr verdrossen; er war in seinen liebsten Forderungen angegriffen, er war sich eines kindlichen Strebens ohne die mindeste Anmassung bewusst.

Was ihn unterhielt, was ihn erfreute, sollte doch mit Schonung von Freuden behandelt werden.

Er dachte nicht, wie schrecklich es fuer einen Dritten sei, sich die Ohren durch ein unzulaengliches Talent verletzen zu lassen.

Er war beleidigt, wuetend, um nicht wieder zu vergeben.

Er fuehlte sich von allen Pflichten losgesprochen.

Die Notwendigkeit, mit Ottilien zu sein, sie zu sehen, ihr etwas zuzufluestern, ihr zu vertrauen, wuchs mit jedem Tage.

Er entschloss sich, ihr zu schreiben, sie um einen geheimen Briefwechsel zu bitten.

Das Streifchen Papier, worauf er dies lakonisch genug getan hatte, lag auf dem Schreibtisch und ward vom Zugwind heruntergefuehrt, als der Kammerdiener hereintrat, ihm die Haare zu kraeuseln.

Gewoehnlich, um die Hitze des Eisens zu versuchen, bueckte sich dieser nach Papierschnitzeln auf der Erde; diesmal ergriff er das Billet, zwickte es eilig, und es war versengt.

Eduard, den Missgriff bemerkend, riss es ihm aus der Hand.

Bald darauf setzte er sich hin, es noch einmal zu schreiben; es wollte nicht ganz so zum zweitenmal aus der Feder.

Er fuehlte einiges Bedenken, einige Besorgnis, die er jedoch ueberwand.

Ottilien wurde das Blaettchen in die Hand gedrueckt, den ersten Augenblick, wo er sich ihr naehern konnte.

Ottilie versaeumte nicht, ihm zu antworten.

Ungelesen steckte er das Zettelchen in die Weste, die, modisch kurz, es nicht gut verwahrte.

Es schob sich heraus und fiel, ohne von ihm bemerkt zu werden, auf den Boden.

Charlotte sah es und hob es auf und reichte es ihm mit einem fluechtigen ueberblick.

"Hier ist etwas von deiner Hand", sagte sie, "das du vielleicht ungern verloerest".

Er war betroffen.

’Verstellt sie sich?’ dachte er.

’Ist sie den Inhalt des Blaettchens gewahr worden, oder irrt sie sich an der aehnlichkeit der Haende?’ Er hoffte, er dachte das letztre.

Er war gewarnt, doppelt gewarnt; aber diese sonderbaren, zufaelligen Zeichen, durch die ein hoeheres Wesen mit uns zu sprechen scheint, waren seiner Leidenschaft unverstaendlich; vielmehr, indem sie ihn immer weiter fuehrte, empfand er die Beschraenkung, in der man ihn zu halten schien, immer unangenehmer.

Die freundliche Geselligkeit verlor sich.

Sein Herz war verschlossen, und wenn er mit Eduard und Frau zusammenzusein genoetigt war, so gelang es ihm nicht, seine fruehere Neigung zu ihnen in seinem Busen wieder aufzufinden, zu beleben.

Der stille Vorwurf, den er sich selbst hierueber machen musste, war ihm unbequem, und er suchte sich durch eine Art von Humor zu helfen, der aber, weil er ohne Liebe war, auch der gewohnten Anmut ermangelte. ueber alle diese Pruefungen half Charlotten ihr inneres Gefuehl hinweg.

Sie war sich ihres ernsten Vorsatzes bewusst, auf eine so schoene, edle Neigung Verzicht zu tun.

Wie sehr wuenschte sie, jenen beiden auch zu Huelfe zu kommen!

Entfernung, fuehlte sie wohl, wird nicht allein hinreichend sein, ein solches uebel zu heilen.

Sie nimmt sich vor, die Sache gegen das gute Kind zur Sprache zu bringen; aber sie vermag es nicht; die Erinnerung ihres eignen Schwankens steht ihr im Wege.

Sie sucht sich darueber im allgemeinen auszudruecken; das Allgemeine passt auch auf ihren eignen Zustand, den sie auszusprechen scheut.

Ein jeder Wink, den sie Ottilien geben will, deutet zurueck in ihr eignes Herz.

Sie will warnen und fuehlt, dass sie wohl selbst noch einer Warnung beduerfen koennte.

Schweigend haelt sie daher die Liebenden noch immer auseinander, und die Sache wird dadurch nicht besser.

Leise Andeutungen, die ihr manchmal entschluepfen, wirken auf Ottilien nicht; denn Eduard hatte diese von Charlottens Neigung zum Hauptmann ueberzeugt, sie ueberzeugt, dass Charlotte selbst eine Scheidung wuensche, die er nun auf eine anstaendige Weise zu bewirken denke.

Ottilie, getragen durch das Gefuehl ihrer Unschuld, auf dem Wege zu dem erwuenschtesten Glueck, lebt nur fuer Eduard.

Durch die Liebe zu ihm in allem Guten gestaerkt, um seinetwillen freudiger in ihrem Tun, aufgeschlossener gegen andre, findet sie sich in einem Himmel auf Erden.

So setzen alle zusammen, jeder auf seine Weise, das taegliche Leben fort, mit und ohne Nachdenken; alles scheint seinen gewoehnlichen Gang zu gehen, wie man auch in ungeheuren Faellen, wo alles auf dem Spiele steht, noch immer so fortlebt, als wenn von nichts die Rede waere.

Von dem Grafen war indessen ein Brief an den Hauptmann angekommen, und zwar ein doppelter, einer zum Vorzeigen, der sehr schoene Aussichten in die Ferne darwies; der andre hingegen, der ein entschiedenes Anerbieten fuer die Gegenwart enthielt, eine bedeutende Hof—und Geschaeftsstelle, den Charakter als Major, ansehnlichen Gehalt und andre Vorteile, sollte wegen verschiedener Nebenumstaende noch geheimgehalten werden.

Auch unterrichtete der Hauptmann seine Freunde nur von jenen Hoffnungen und verbarg, was so nahe bevorstand.

Indessen setzte er die gegenwaertigen Geschaefte lebhaft fort und machte in der Stille Einrichtungen, wie alles in seiner Abwesenheit ungehinderten Fortgang haben koennte.

Es ist ihm nun selbst daran gelegen, dass fuer manches ein Termin bestimmt werde, dass Ottiliens Geburtstag manches beschleunige.

Nun wirken die beiden Freunde, obschon ohne ausdrueckliches Einverstaendnis, gern zusammen.

Eduard ist nun recht zufrieden, dass man durch das Vorauserheben der Gelder die Kasse verstaerkt hat; die ganze Anstalt rueckt auf das rascheste vorwaerts.

Die drei Teiche in einen See zu verwandeln, haette jetzt der Hauptmann am liebsten ganz widerraten.

Der untere Damm war zu verstaerken, die mittlern abzutragen und die ganze Sache in mehr als einem Sinne wichtig und bedenklich.

Beide Arbeiten aber, wie sie ineinanderwirken konnten, waren schon angefangen, und hier kam ein junger Architekt, ein ehemaliger Zoegling des Hauptmanns, sehr erwuenscht, der teils mit Anstellung tuechtiger Meister, teils mit Verdingen der Arbeit, wo sichs tun liess, die Sache foerderte und dem Werke Sicherheit und Dauer versprach; wobei sich der Hauptmann im stillen freute, dass man seine Entfernung nicht fuehlen wuerde.

Denn er hatte den Grundsatz, aus einem uebernommenen unvollendeten Geschaeft nicht zu scheiden, bis er seine Stelle genugsam ersetzt saehe.

Ja er verachtete diejenigen, die, um ihren Abgang fuehlbar zu machen, erst noch Verwirrung in ihrem Kreise anrichten, indem sie als ungebildete Selbstler das zu zerstoeren wuenschen, wobei sie nicht mehr fortwirken sollen.

So arbeitete man immer mit Anstrengung, um Ottiliens Geburtstag zu verherrlichen, ohne dass man es aussprach oder sichs recht aufrichtig bekannte.

Nach Charlottens obgleich neidlosen Gesinnungen konnte es doch kein entschiedenes Fest werden.

Die Jugend Ottiliens, ihre Gluecksumstaende, das Verhaeltnis zur Familie berechtigten sie nicht, als Koenigin eines Tages zu erscheinen. Und Eduard wollte nicht davon gesprochen haben, weil alles wie von selbst entspringen, ueberraschen und natuerlich erfreuen sollte.

Alle kamen daher stillschweigend in dem Vorwande ueberein, als wenn an diesem Tage, ohne weitere Beziehung, jenes Lusthaus gerichtet werden sollte, und bei diesem Anlass konnte man dem Volke sowie den Freunden ein Fest ankuendigen.

Eduards Neigung war aber grenzenlos.

Wie er sich Ottilien zuzueignen begehrte, so kannte er auch kein Mass des Hingebens, Schenkens, Versprechens.

Zu einigen Gaben, die er Ottilien an diesem Tage verehren wollte, hatte ihm Charlotte viel zu aermliche Vorschlaege getan.

Er sprach mit seinem Kammerdiener, der seine Garderobe besorgte und mit Handelsleuten und Modehaendlern in bestaendigem Verhaeltnis blieb; dieser, nicht unbekannt sowohl mit den angenehmsten Gaben selbst als mit der besten Art, sie zu ueberreichen, bestellte sogleich in der Stadt den niedlichsten Koffer, mit rotem Saffian ueberzogen, mit Stahlnaegeln beschlagen und angefuellt mit Geschenken, einer solchen Schale wuerdig.

Noch einen andern Vorschlag tat er Eduarden.

Es war ein kleines Feuerwerk vorhanden, das man immer abzubrennen versaeumt hatte.

Dies konnte man leicht verstaerken und erweitern.

Eduard ergriff den Gedanken, und jener versprach, fuer die Ausfuehrung zu sorgen.

Die Sache sollte ein Geheimnis bleiben.

Der Hauptmann hatte unterdessen, je naeher der Tag heranrueckte, seine polizeilichen Einrichtungen getroffen, die er fuer so noetig hielt, wenn eine Masse Menschen zusammenberufen oder -gelockt wird. Ja sogar hatte er wegen des Bettelns und andrer Unbequemlichkeiten, wodurch die Anmut eines Festes gestoert wird, durchaus Vorsorge genommen.

Eduard und sein Vertrauter dagegen beschaeftigten sich vorzueglich mit dem Feuerwerk.

Am mittelsten Teiche vor jenen grossen Eichbaeumen sollte es abgebrannt werden; gegenueber unter den Platanen sollte die Gesellschaft sich aufhalten, um die Wirkung aus gehoeriger Ferne, die Abspiegelung im Wasser, und was auf dem Wasser selbst brennend zu schwimmen bestimmt war, mit Sicherheit und Bequemlichkeit anzuschauen.

Unter einem andern Vorwand liess daher Eduard den Raum unter den Platanen von Gestraeuch, Gras und Moos saeubern, und nun erschien erst die Herrlichkeit des Baumwuchses sowohl an Hoehe als Breite auf dem gereinigten Boden.

Eduard empfand darueber die groesste Freude.

’Es war ungefaehr um diese Jahrszeit, als ich sie pflanzte. Wie lange mag es her sein?’ sagte er zu sich selbst.

Sobald er nach Hause kam, schlug er in alten Tagebuechern nach, die sein Vater, besonders auf dem Lande, sehr ordentlich gefuehrt hatte.

Zwar diese Pflanzung konnte nicht darin erwaehnt sein, aber eine andre haeuslich wichtige Begebenheit an demselben Tage, deren sich Eduard noch wohl erinnerte, musste notwendig darin angemerkt stehen.

Er durchblaettert einige Baende, der Umstand findet sich.

Aber wie erstaunt, wie erfreut ist Eduard, als er das wunderbarste Zusammentreffen bemerkt!

Der Tag, das Jahr jener Baumpflanzung ist zugleich der Tag, das Jahr von Ottiliens Geburt.

Endlich leuchtete Eduarden der sehnlich erwartete Morgen, und nach und nach stellten viele Gaeste sich ein; denn man hatte die Einladungen weit umhergeschickt, und manche, die das Legen des Grundsteins versaeumt hatten, wovon man soviel Artiges erzaehlte, wollten diese zweite Feierlichkeit um so weniger verfehlen.

Vor Tafel erschienen die Zimmerleute mit Musik im Schlosshofe, ihren reichen Kranz tragend, der aus vielen stufenweise uebereinander schwankenden Laub—und Blumenreifen zusammengesetzt war.

Sie sprachen ihren Gruss und erbaten sich zur gewoehnlichen Ausschmueckung seidene Tuecher und Baender von dem schoenen Geschlecht.

Indes die Herrschaft speiste, setzten sie ihren jauchzenden Zug weiter fort, und nachdem sie sich eine Zeitlang im Dorfe aufgehalten und daselbst Frauen und Maedchen gleichfalls um manches Band gebracht, so kamen sie endlich, begleitet und erwartet von einer grossen Menge, auf die Hoehe, wo das gerichtete Haus stand.

Charlotte hielt nach der Tafel die Gesellschaft einigermassen zurueck.

Sie wollte keinen feierlichen, foermlichen Zug, und man fand Sich daher in einzelnen Partieen, ohne Rang und Ordnung, auf dem Platz gemaechlich ein.

Charlotte zoegerte mit Ottilien und machte dadurch die Sache nicht besser; denn weil Ottilie wirklich die letzte war, die herantrat, so schien es, als wenn Trompeten und Pauken nur auf sie gewartet haetten, als wenn die Feierlichkeit bei ihrer Ankunft nun gleich beginnen muesste.

Dem Hause das rohe Ansehn zu nehmen, hatte man es mit gruenem Reisig und Blumen, nach Angabe des Hauptmanns, architektonisch ausgeschmueckt; allein ohne dessen Mitwissen hatte Eduard den Architekten veranlasst, in dem Gesims das Datum mit Blumen zu bezeichnen.

Das mochte noch hingehen; allein zeitig genug langte der Hauptmann an, um zu verhindern, dass nicht auch der Name Ottiliens im Giebelfelde glaenzte.

Er wusste dieses Beginnen auf eine geschickte Weise abzulehnen und die schon fertigen Blumenbuchstaben beiseitezubringen.

Der Kranz war aufgesteckt und weit umher in der Gegend sichtbar.

Bunt flatterten die Baender und Tuecher in der Luft, und eine kurze Rede verscholl zum groessten Teil im Winde.

Die Feierlichkeit war zu Ende, der Tanz auf dem geebneten und mit Lauben umkreiseten Platze vor dem Gebaeude sollte nun angehen.

Ein schmucker Zimmergeselle fuehrte Eduarden ein flinkes Bauermaedchen zu und forderte Ottilien auf, welche danebenstand.

Die beiden Paare fanden sogleich ihre Nachfolger, und bald genug wechselte Eduard, indem er Ottilien ergriff und mit ihr die Runde machte.

Die juengere Gesellschaft mischte sich froehlich in den Tanz des Volks, indes die aeltern beobachteten.

Sodann, ehe man sich auf den Spaziergaengen zerstreute, ward abgeredet, dass man sich mit Untergang der Sonne bei den Platanen wieder versammeln wollte.

Eduard fand sich zuerst ein, ordnete alles und nahm Abrede mit dem Kammerdiener, der auf der andern Seite in Gesellschaft des Feuerwerkers die Lusterscheinungen zu besorgen hatte.

Der Hauptmann bemerkte die dazu getroffenen Vorrichtungen nicht mit Vergnuegen; er wollte wegen des zu erwartenden Andrangs der Zuschauer mit Eduard sprechen, als ihn derselbe etwas hastig bat, er moege ihm diesen Teil der Feierlichkeit doch allein ueberlassen.

Schon hatte sich das Volk auf die oberwaerts abgestochenen und vom Rasen entbloessten Daemme gedraengt, wo das Erdreich uneben und unsicher war.

Die Sonne ging unter, die Daemmerung trat ein, und in Erwartung groesserer Dunkelheit wurde die Gesellschaft unter den Platanen mit Erfrischungen bedient.

Man fand den Ort unvergleichlich und freute sich in Gedanken, kuenftig von hier die Aussicht auf einen weiten und so mannigfaltig begrenzten See zu geniessen.

Ein ruhiger Abend, eine vollkommene Windstille versprachen das naechtliche Fest zu beguenstigen, als auf einmal ein entsetzliches Geschrei entstand.

Grosse Schollen hatten sich vom Damme losgetrennt, man sah mehrere Menschen ins Wasser stuerzen.

Das Erdreich hatte nachgegeben unter dem Draengen und Treten der immer zunehmenden Menge.

Jeder wollte den besten Platz haben, und nun konnte niemand vorwaerts noch zurueck.

Jedermann sprang auf und hinzu, mehr um zu schauen als zu tun; denn was war da zu tun, wo niemand hinreichen konnte.

Nebst einigen Entschlossenen eilte der Hauptmann herbei, trieb sogleich die Menge von dem Damm herunter nach den Ufern, um den Huelfreichen freie Hand zu geben, welche die Versinkenden herauszuziehen suchten.

Schon waren alle teils durch eignes, teils durch fremdes Bestreben wieder auf dem Trochnen, bis auf einen Knaben, der durch allzu aengstliches Bemuehen, statt sich dem Damm zu naehern, sich davon entfernt hatte.

Die Kraefte schienen ihn zu verlassen, nur einigemal kam noch eine Hand, ein Fuss in die Hoehe.

Ungluecklicherweise war der Kahn auf der andern Seite, mit Feuerwerk gefuellt, nur langsam konnte man ihn ausladen, und die Huelfe verzoegerte sich.

Des Hauptmanns Entschluss war gefasst, er warf die Oberkleider weg, aller Augen richteten sich auf ihn, und seine tuechtige, kraeftige Gestalt floesste jedermann Zutrauen ein; aber ein Schrei der ueberraschung drang aus der Menge hervor, als er sich ins Wasser stuerzte, jedes Auge begleitete ihn, der als geschickter Schwimmer den Knaben bald erreichte und ihn, jedoch fuer tot, an den Damm brachte.

Indessen ruderte der Kahn herbei, der Hauptmann bestieg ihn und forschte genau von den Anwesenden, ob denn auch wirklich alle gerettet seien.

Der Chirurgus kommt und uebernimmt den totgeglaubten Knaben; Charlotte tritt hinzu, sie bittet den Hauptmann, nur fuer sich zu sorgen, nach dem Schlosse zurueckzukehren und die Kleider zu wechseln.

Er zaudert, bis ihm gesetzte, verstaendige Leute, die ganz nahe gegenwaertig gewesen, die selbst zur Rettung der einzelnen beigetragen, auf das heiligste versichern, dass alle gerettet seien.

Charlotte sieht ihn nach Hause gehen, sie denkt, dass Wein und Tee und was sonst noetig waere, verschlossen ist, dass ein solchen Faellen die Menschen gewoehnlich verkehrt handeln; sie eilt durch die zerstreute Gesellschaft, die sich noch unter den Platanen befindet.

Eduard ist beschaeftigt, jedermann zuzureden: man soll bleiben; in kurzem gedenkt er das Zeichen zu geben, und das Feuerwerk soll beginnen.

Charlotte tritt hinzu und bittet ihn, ein Vergnuegen zu verschieben, das jetzt nicht am Platze sei, das in dem gegenwaertigen Augenblick nicht genossen werden koenne; sie erinnert ihn, was man dem Geretteten und dem Retter schuldig sei.

"Der Chirurgus wird schon seine Pflicht tun", versetzte Eduard.

"Er ist mit allem versehen, und unser Zudringen waere nur eine hinderliche Teilnahme".

Charlotte bestand auf ihrem Sinne und winkte Ottilien, die sich sogleich zum Weggehen anschickte.

Eduard ergriff ihre Hand und rief: "wir wollen diesen Tag nicht im Lazarett endigen!

Zur barmherzigen Schwester ist sie zu gut.

Auch ohne uns werden die Scheintoten erwachen und die Lebendigen sich abtrocknen".

Charlotte schwieg und ging.

Einige folgten ihr, andere diesen; endlich wollte niemand der Letzte sein, und so folgten alle.

Eduard und Ottilie fanden sich allein unter den Platanen.

Er bestand darauf, zu bleiben, so dringend, so aengstlich sie ihn auch bat, mit ihr nach dem Schlosse zurueckzukehren.

"Nein, Ottilie!" rief er, "das Ausserordentliche geschieht nicht auf glattem, gewoehnlichem Wege.

Dieser ueberraschende Vorfall von heute abend bringt uns schneller zusammen.

Du bist die Meine!

Ich habe dirs schon so oft gesagt und geschworen; wir wollen es nicht mehr sagen und schwoeren, nun soll es werden".

Der Kahn von der andern Seite schwamm herueber.

Es war der Kammerdiener, der verlegen anfragte, was nunmehr mit dem Feuerwerk werden sollte.

"Brennt es ab!" rief er ihm entgegen.

"Fuer dich allein war es bestellt, Ottilie, und nun sollst du es auch allein sehen!

Erlaube mir, an deiner Seite sitzend, es mitzugeniessen".

Zaertlich bescheiden setzte er sich neben sie, ohne sie zu beruehren.

Raketen rauschten auf, Kanonenschlaege donnerten, Leuchtkugeln stiegen, Schwaermer schlaengelten und platzten, Raeder gischten, jedes erst einzeln, dann gepaart, dann alle zusammen und immer gewaltsamer hintereinander und zusammen.

Eduard, dessen Busen brannte, verfolgte mit lebhaft zufriedenem Blick diese feurigen Erscheinungen.

Ottiliens zartem, aufgeregtem Gemuet war dieses rauschende, blitzende Entstehen und Verschwinden eher aengstlich als angenehm.

Sie lehnte sich schuechtern an Eduard, dem diese Annaeherung, dieses Zutrauen das volle Gefuehl gab, dass sie ihm ganz angehoere.

Die Nacht war kaum in ihre Rechte wieder eingetreten, als der Mond aufging und die Pfade der beiden Rueckkehrenden beleuchtete.

Eine Figur, den Hut in der Hand, vertrat ihnen den Weg und sprach sie um ein Almosen an, da er an diesem Festlichen Tage versaeumt worden sei.

Der Mond schien ihm ins Gesicht, und Eduard erkannte die Zuege jenes zudringlichen Bettlers.

Aber so gluecklich wie er war, konnte er nicht ungehalten sein, konnte es ihm nicht einfallen, dass besonders fuer heute das Betteln hoechlich verpoent worden.

Er forschte nicht lange in der Tasche und gab ein Goldstueck hin.

Er haette jeden gern gluecklich gemacht, da sein Glueck ohne Grenzen schien.

Zu Hause war indes alles erwuenscht gelungen.

Die Taetigkeit des Chirurgen, die Bereitschaft alles Noetigen, der Beistand Charlottens, alles wirkte zusammen, und der Knabe ward wieder zum Leben hergestellt.

Die Gaeste zerstreuten sich, sowohl um noch etwas vom Feuerwerk aus der Ferne zu sehen, als auch um nach solchen verworrnen Szenen ihre ruhige Heimat wieder zu betreten.

Auch hatte der Hauptmann, geschwind umgekleidet, an der noetigen Vorsorge taetigen Anteil genommen; alles war beruhigt, und er fand sich mit Charlotten allein.

Mit zutraulicher Freundlichkeit erklaerte er nun, dass seine Abreise nahe bevorstehe.

Sie hatte diesen Abend so viel erlebt, dass diese Entdeckung wenig Eindruck auf sie machte; sie hatte gesehen, wie der Freund sich aufopferte, wie er rettete und selbst gerettet war.

Diese wunderbaren Ereignisse schienen ihr eine bedeutende Zukunft, aber keine unglueckliche zu weissagen.

Eduarden, der mit Ottilien hereintrat, wurde die bevorstehende Abreise des Hauptmanns gleichfalls angekuendigt.

Er argwohnte, dass Charlotte frueher um das Naehere gewusst habe, war aber viel zu sehr mit sich und seinen Absichten beschaeftigt, als dass er es haette uebel empfinden sollen.

Im Gegenteil vernahm er aufmerksam und zufrieden die gute und ehrenvolle Lage, in die der Hauptmann versetzt werden sollte.

Unbaendig drangen seine geheimen Wuensche den Begebenheiten vor. Schon sah er jenen mit Charlotten verbunden, sich mit Ottilien.

Man haette ihm zu diesem Fest kein groesseres Geschenk machen koennen.

Aber wie erstaunt war Ottilie, als sie auf ihr Zimmer trat und den koestlichen kleinen Koffer auf ihrem Tische fand!

Sie saeumte nicht, ihn zu eroeffnen.

Da zeigte sich alles so schoen gepackt und geordnet, dass sie es nicht auseinanderzunehmen, ja kaum zu lueften wagte.

Musselin, Batist, Seide, Schals und Spitzen wetteiferten an Feinheit, Zierlichkeit und Kostbarkeit.

Auch war der Schmuck nicht vergessen.

Sie begriff wohl die Absicht, sie mehr als einmal vom Kopf bis auf den Fuss zu kleiden; es war aber alles so kostbar und fremd, dass sie sichs in Gedanken nicht zuzueignen getraute.

Des andern Morgens war der Hauptmann verschwunden und ein dankbar gefuehltes Blatt an die Freunde von ihm zurueckgeblieben.

Er und Charlotte hatten abends vorher schon halben und einsilbigen Abschied genommen.

Sie empfand eine ewige Trennung und ergab sich darein; denn in dem zweiten Briefe des Grafen, den ihr der Hauptmann zuletzt mitteilte, war auch von einer Aussicht auf eine vorteilhafte Heirat die Rede, und obgleich er diesem Punkt keine Aufmerksamkeit schenkte, so hielt sie doch die Sache schon fuer gewiss und entsagte ihm rein und voellig.

Dagegen glaubte sie nun auch die Gewalt, die sie ueber sich selbst ausgeuebt, von andern fordern zu koennen.

Ihr war es nicht unmoeglich gewesen, andern sollte das gleiche moeglich sein.

In diesem Sinne begann sie das Gespraech mit ihrem Gemahl, um so mehr offen und zuversichtlich, als sie empfand, dass die Sache ein fuer allemal abgetan werden muesse.

"Unser Freund hat uns verlassen", sagte sie; "wir sind nun wieder gegeneinander ueber wie vormals, und es kaeme nun wohl auf uns an, ob wir wieder voellig in den alten Zustand zurueckkehren wollten".

Eduard, der nichts vernahm, als was seiner Leidenschaft schmeichelte, glaubte, dass Charlotte durch diese Worte den frueheren Witwenstand bezeichnen und, obgleich auf unbestimmte Weise, zu einer Scheidung Hoffnung machen wolle.

Er antwortete deshalb mit Laecheln: "warum nicht?

Es kaeme nur darauf an, dass man sich verstaendigte".

Er fand sich daher gar sehr betrogen, als Charlotte versetzte: "auch Ottilien in eine andere Lage zu bringen, haben wir gegenwaertig nur zu waehlen; denn es findet sich eine doppelte Gelegenheit, ihr Verhaeltnisse zu geben, die fuer sie wuenschenswert sind.

Sie kann in die Pension zurueckkehren, da meine Tochter zur Grosstante gezogen ist; sie kann in ein angesehenes Haus aufgenommen werden, um mit einer einzigen Tochter alle Vorteile einer standesmaessigen Erziehung zu geniessen".

"Indessen", versetzte Eduard ziemlich gefasst, "hat Ottilie sich in unserer freundlichen Gesellschaft so verwoehnt, dass ihr eine andere wohl schwerlich willkommen sein moechte".

"Wir haben uns alle verwoehnt", sagte Charlotte, "und du nicht zum letzten.

Indessen ist es eine Epoche, die uns zur Besinnung auffordert, die uns ernstlich ermahnt, an das Beste saemtlicher Mitglieder unseres kleinen Zirkels zu denken und auch irgendeine Aufopferung nicht zu versagen".

"Wenigstens finde ich es nicht billig", versetzte Eduard, "dass Ottilie aufgeopfert werde, und das geschaehe doch, wenn man sie gegenwaertig unter fremde Menschen hinunterstiesse.

Den Hauptmann hat sein gutes Geschick hier aufgesucht; wir duerfen ihn mit Ruhe, ja mit Behagen von uns wegscheiden lassen.

Wer weiss, was Ottilien bevorsteht; warum sollten wir uns uebereilen?" "Was uns bevorsteht, ist ziemlich klar", versetzte Charlotte mit einiger Bewegung, und da sie die Absicht hatte, ein fuer allemal sich auszusprechen, fuhr sie fort: "du liebst Ottilien, du gewoehnst dich an sie.

Neigung und Leidenschaft entspringt und naehrt sich auch von ihrer Seite.

Warum sollen wir nicht mit Worten aussprechen, was uns jede Stunde gesteht und bekennt?

Sollen wir nicht soviel Vorsicht haben, uns zu fragen, was das werden wird?" "Wenn man auch sogleich nicht darauf antworten kann", versetzte Eduard, der sich zusammennahm, "so laesst sich doch soviel sagen, dass man eben alsdann sich am ersten entschliesst abzuwarten, was uns die Zukunft lehren wird, wenn man gerade nicht sagen kann, was aus einer Sache werden soll".

"Hier vorauszusehen", versetzte Charlotte, "bedarf es wohl keiner grossen Weisheit, und soviel laesst sich auf alle Faelle gleich sagen, dass wir beide nicht mehr jung genug sind, um blindlings dahin zu gehen, wohin man nicht moechte oder nicht sollte.

Niemand kann mehr fuer uns sorgen; wir muessen unsre eigenen Freunde sein, unsre eigenen Hofmeister.

Niemand erwartet von uns, dass wir uns in ein aeusserstes verlieren werden, niemand erwartet, uns tadelnswert oder gar laecherlich zu finden".

"Kannst du mirs verdenken", versetzte Eduard, der die offne, reine Sprache seiner Gattin nicht zu erwidern vermochte, "kannst du mich schelten, wenn mir Ottiliens Glueck am Herzen liegt?

Und nicht etwa ein kuenftiges, das immer nicht zu berechnen ist, sondern ein gegenwaertiges?

Denke dir aufrichtig und ohne Selbstbetrug Ottilien aus unserer Gesellschaft gerissen und fremden Menschen untergeben—ich wenigstens fuehle mich nicht grausam genug, ihr eine solche Veraenderung zuzumuten".

Charlotte ward gar wohl die Entschlossenheit ihres Gemahls hinter seiner Verstellung gewahr.

Erst jetzt fuehlte sie, wie weit er sich von ihr entfernt hatte.

Mit einiger Bewegung rief sie aus: "kann Ottilie gluecklich sein, wenn sie uns entzweit, wenn sie mir einen Gatten, seinen Kindern einen Vater entreisst?" "Fuer unsere Kinder, daechte ich, waere gesorgt", sagte Eduard laechelnd und kalt; etwas freundlicher aber fuegte er hinzu: "wer wird auch gleich das aeusserste denken!" "Das aeusserste liegt der Leidenschaft zu allernaechst", bemerkte Charlotte.

"Lehne, solange es noch Zeit ist, den guten Rat nicht ab, nicht die Huelfe, die ich uns biete.

In trueben Faellen muss derjenige wirken und helfen, der am klarsten sieht.

Diesmal bin ichs.

Lieber, liebster Eduard, lass mich gewaehren!

Kannst du mir zumuten, dass ich auf mein wohlerworbenes Glueck, auf die schoensten Rechte, auf dich so geradehin Verzicht leisten soll?" "Wer sagt das?" versetzte Eduard mit einiger Verlegenheit.

"Du selbst", versetzte Charlotte; "indem du Ottilien in der Naehe behalten willst, gestehst du nicht alles zu, was daraus entspringen muss?

Ich will nicht in dich dringen; aber wenn du dich nicht ueberwinden kannst, so wirst du wenigstens dich nicht lange mehr betriegen koennen".

Eduard fuehlte, wie recht sie hatte.

Ein ausgesprochenes Wort ist fuerchterlich, wenn es das auf einmal ausspricht, was das Herz lange sich erlaubt hat; und um nur fuer den Augenblick auszuweichen, erwiderte Eduard: "es ist mir ja noch nicht einmal klar, was du vorhast".

"Meine Absicht war", versetzte Charlotte, "mit dir die beiden Vorschlaege zu ueberlegen.

Beide haben viel Gutes.

Die Pension wuerde Ottilien am gemaessesten sein, wenn ich betrachte, wie das Kind jetzt ist.

Jene groessere und weitere Lage verspricht aber mehr, wenn ich bedenke, was sie werden soll".

Sie legte darauf umstaendlich ihrem Gemahl die beiden Verhaeltnisse dar und schloss mit den Worten: "was meine Meinung betrifft, so wuerde ich das Haus jener Dame der Pension vorziehen aus mehreren Ursachen, besonders aber auch, weil ich die Neigung, ja die Leidenschaft des jungen Mannes, den Ottilie dort fuer sich gewonnen, nicht vermehren will".

Eduard schien ihr Beifall zu geben, nur aber, um einigen Aufschub zu suchen.

Charlotte, die darauf ausging, etwas Entscheidendes zu tun, ergriff sogleich die Gelegenheit, als Eduard nicht unmittelbar widersprach, die Abreise Ottiliens, zu der sie schon alles im stillen vorbereitet hatte, auf die naechsten Tage festzusetzen.

Eduard schauderte, er hielt sich fuer verraten und die liebevolle Sprache seiner Frau fuer ausgedacht, kuenstlich und planmaessig, um ihn auf ewig von seinem Gluecke zu trennen.

Er schien ihr die Sache ganz zu ueberlassen; allein schon war innerlich sein Entschluss gefasst.

Um nur zu Atem zu kommen, um das bevorstehende unabsehliche Unheil der Entfernung Ottiliens abzuwenden, entschied er sich, sein Haus zu verlassen, und zwar nicht ganz ohne Vorbewusst Charlottens, die er jedoch durch die Einleitung zu taeuschen verstand, dass er bei Ottiliens Abreise nicht gegenwaertig sein, ja sie von diesem Augenblick an nicht mehr sehen wolle.

Charlotte, die gewonnen zu haben glaubte, tat ihm allen Vorschub.

Er befahl seine Pferde, gab dem Kammerdiener die noetige Anweisung, was er einpacken und wie er ihm folgen solle, und so, wie schon im Stegreife, setzte er sich hin und schrieb.

"Das uebel, meine Liebe, das uns befallen hat, mag heilbar sein oder nicht, dies nur fuehle ich: wenn ich im Augenblicke nicht verzweifeln soll, so muss ich Aufschub finden fuer mich, fuer uns alle.

Indem ich mich aufopfre, kann ich fordern.

Ich verlasse mein Haus und kehre nur unter guenstigern, ruhigern Aussichten zurueck.

Du sollst es indessen besitzen, aber mit Ottilien.

Bei dir will ich sie wissen, nicht unter fremden Menschen.

Sorge fuer sie, behandle sie wie sonst, wie bisher, ja nur immer liebevoller, freundlicher und zarter.

Ich verspreche, kein heimliches Verhaeltnis zu Ottilien zu suchen.

Lasst mich lieber eine Zeitlang ganz unwissend, wie ihr lebt; ich will mir das Beste denken.

Denkt auch so von mir.

Nur, was ich dich bitte, auf das innigste, auf das lebhafteste: mache keinen Versuch, Ottilien sonst irgendwo unterzugeben, in neue Verhaeltnisse zu bringen!

Ausser dem Bezirk deines Schlosses, deines Parks, fremden Menschen anvertraut, gehoert sie mir, und ich werde mich ihrer bemaechtigen.

Ehrst du aber meine Neigung, meine Wuensche, meine Schmerzen, schmeichelst du meinem Wahn, meinen Hoffnungen, so will ich auch der Genesung nicht widerstreben, wenn sie sich mir anbietet".

Diese letzte Wendung floss ihm aus der Feder, nicht aus dem Herzen.

Ja, wie er sie auf dem Papier sah, fing er bitterlich an zu weinen.

Er sollte auf irgendeine Weise dem Glueck, ja dem Unglueck, Ottilien zu lieben, entsagen!

Jetzt fuehlte er, was er tat.

Er entfernte sich, ohne zu wissen, was daraus entstehen konnte.

Er sollte sie wenigstens jetzt nicht wiedersehen; ob er sie je widersaehe, welche Sicherheit konnte er sich darueber versprechen?

Aber der Brief war geschrieben; die Pferde standen vor der Tuer; jeden Augenblick musste er fuerchten, Ottilien irgendwo zu erblicken und zugleich seinen Entschluss vereitelt zu sehen.

Er fasste sich; er dachte, dass es ihm doch moeglich sei, jeden Augenblick zurueckzukehren und durch die Entfernung gerade seinen Wuenschen naeher zu kommen.

Im Gegenteil stellte er sich Ottilien vor, aus dem Hause gedraengt, wenn er bliebe.

Er siegelte den Brief, eilte die Treppe hinab und schwang sich aufs Pferd.

Als er beim Wirtshause vorbeitritt, sah er den Bettler in der Laube sitzen, den er gestern nacht so reichlich beschenkt hatte.

Dieser sass behaglich an seinem Mittagsmahle, stand auf und neigte sich ehrerbietig, ja anbetend vor Eduarden.

Eben diese Gestalt war ihm gestern erschienen, als er Ottilien am Arm fuehrte; nun erinnerte sie ihn schmerzlich an die gluecklichste Stunde seines Lebens.

Seine Leiden vermehrten sich; das Gefuehl dessen, was er zurueckliess, war ihm unertraeglich; nochmals blickte er nach dem Bettler: "o du Beneidenswerter!" rief er aus; "du kannst noch am gestrigen Almosen zehren und ich nicht mehr am gestrigen Gluecke!" Ottilie trat ans Fenster, als sie jemanden wegreiten hoerte, und sah Eduarden noch im Ruecken.

Es kam ihr wunderbar vor, dass er das Haus verliess, ohne sie gesehen, ohne ihr einen Morgengruss geboten zu haben.

Sie ward unruhig und immer nachdenklicher, als Charlotte sie auf einen weiten Spaziergang mit sich zog und von mancherlei Gegenstaenden sprach, aber des Gemahls, und wie es schien vorsaetzlich, nicht erwaehnte. Doppelt betroffen war sie daher, bei ihrer Zurueckkunft den Tisch nur mit zwei Gedecken besetzt zu finden.

Wir vermissen ungern gering scheinende Gewohnheiten, aber schmerzlich empfinden wir erst ein solches Entbehren in bedeutenden Faellen. Eduard und der Hauptmann fehlten, Charlotte hatte seit langer Zeit zum erstenmal den Tisch selbst angeordnet, und es wollte Ottilien scheinen, als wenn sie abgesetzt waere.

Die beiden Frauen sassen gegeneinander ueber; Charlotte sprach ganz unbefangen von der Anstellung des Hauptmanns und von der wenigen Hoffnung, ihn bald wiederzusehen.

Das einzige troestete Ottilien in ihrer Lage, dass sie glauben konnte, Eduard sei, um den Freund noch eine Strecke zu begleiten, ihm nachgeritten.

Allein da sie von Tische aufstanden, sahen sie Eduards Reisewagen unter dem Fenster, und als Charlotte einigermassen unwillig fragte, wer ihn hieher bestellt habe, so antwortete man ihr, es sei der Kammerdiener, der hier noch einiges aufpacken wolle.

Ottilie brauchte ihre ganze Fassung, um ihre Verwunderung und ihren Schmerz zu verbergen.

Der Kammerdiener trat herein und verlangte noch einiges.

Es war eine Mundtasse des Herrn, ein paar silberne Loeffel und mancherlei, was Ottilien auf eine weitere Reise, auf ein laengeres Aussenbleiben zu deuten schien.

Charlotte verwies ihm sein Begehren ganz trocken: sie verstehe nicht, was er damit sagen wolle; denn er habe ja alles, was sich auf den Herrn beziehe, selbst im Beschluss.

Der gewandte Mann, dem es freilich nur darum zu tun war, Ottilien zu sprechen und sie deswegen unter irgendeinem Vorwande aus dem Zimmer zu locken, wusste sich zu entschuldigen und auf seinem Verlangen zu beharren, das ihm Ottilie auch zu gewaehren wuenschte; allein Charlotte lehnte es ab, der Kammerdiener musste sich entfernen, und der Wagen rollte fort.

Es war fuer Ottilien ein schrecklicher Augenblick.

Sie verstand es nicht, sie begriff es nicht; aber dass ihr Eduard auf geraume Zeit entrissen war, konnte sie fuehlen.

Charlotte fuehlte den Zustand mit und liess sie allein.

Wir wagen nicht, ihren Schmerz, ihre Traenen zu schildern.

Sie litt unendlich.

Sie bat nur Gott, dass er ihr nur ueber diesen Tag weghelfen moechte; sie ueberstand den Tag und die Nacht, und als sie sich wiedergefunden, glaubte sie, ein anderes Wesen anzutreffen.

Sie hatte sich nicht gefasst, sich nicht ergeben, aber sie war nach so grossem Verluste noch da und hatte noch mehr zu befuerchten.

Ihre naechste Sorge, nachdem das Bewusstsein wiedergekehrt, war sogleich, sie moechte nun, nach Entfernung der Maenner, gleichfalls entfernt werden.

Sie ahnte nichts von Eduards Drohungen, wodurch ihr der Aufenthalt neben Charlotten gesichert war; doch diente ihr das Betragen Charlottens zu einiger Beruhigung.

Diese suchte das gute Kind zu beschaeftigen und liess sie nur selten, nur ungern von sich; und ob sie gleich wohl wusste, dass man mit Worten nicht viel gegen eine entschiedene Leidenschaft zu wirken vermag, so kannte sie doch die Macht der Besonnenheit, des Bewusstseins, und brachte daher manches zwischen sich und Ottilien zur Sprache.

So war es fuer diese ein grosser Trost, als jene gelegentlich mit Bedacht und Vorsatz die weise Betrachtung anstellte: "wie lebhaft ist", sagte sie, "die Dankbarkeit derjenigen, denen wir mit Ruhe ueber leidenschaftliche Verlegenheiten hinaushelfen!

Lass uns freudig und munter in das eingreifen, was die Maenner unvollendet zurueckgelassen haben; so bereiten wir uns die schoenste Aussicht auf ihre Rueckkehr, indem wir das, was ihr stuermendes, ungeduldiges Wesen zerstoeren moechte, durch unsre Maessigung erhalten und foerdern".

"Da Sie von Maessigung sprechen, liebe Tante", versetzte Ottilie, "so kann ich nicht bergen, dass mir dabei die Unmaessigkeit der Maenner, besonders was den Wein betrifft, einfaellt.

Wie oft hat es mich betruebt und geaengstigt, wenn ich bemerken musste, dass reiner Verstand, Klugheit, Schonung anderer, Anmut und Liebenswuerdigkeit selbst fuer mehrere Stunden verlorengingen und oft statt alles des Guten, was ein trefflicher Mann hervorzubringen und zu gewaehren vermag, Unheil und Verwirrung hereinzubrechen drohte!

Wie oft moegen dadurch gewaltsame Entschliessungen veranlasst werden!" Charlotte gab ihr recht, doch setzte sie das Gespraech nicht fort; denn sie fuehlte nur zu wohl, dass auch hier Ottilie bloss Eduarden wieder im Sinne hatte, der zwar nicht gewoehnlich, aber doch oefter, als es wuenschenswert war, sein Vergnuegen, seine Gespraechigkeit, seine Taetigkeit durch einen gelegentlichen Weingenuss zu steigern pflegte.

Hatte bei jener aeusserung Charlottens sich Ottilie die Maenner, besonders Eduarden, wieder herandenken koennen, so war es ihr um desto auffallender, als Charlotte von einer bevorstehenden Heirat des Hauptmanns wie von einer ganz bekannten und gewissen Sache sprach, wodurch denn alles ein andres Ansehn gewann, als sie nach Eduards fruehern Versicherungen sich vorstellen mochte.

Durch alles dies vermehrte sich die Aufmerksamkeit Ottiliens auf jede aeusserung, jeden Wink, jede Handlung, jeden Schritt Charlottens. Ottilie war klug, scharfsinnig, argwoehnisch geworden, ohne es zu wissen.

Charlotte durchdrang indessen das einzelne ihrer ganzen Umgebung mit scharfem Blick und wirkte darin mit ihrer klaren Gewandtheit, wobei sie Ottilien bestaendig teilzunehmen noetigte.

Sie zog ihren Haushalt ohne Baenglichkeit ins Enge; ja, wenn sie alles genau betrachtete, so hielt sie den leidenschaftlichen Vorfall fuer eine Art von gluecklicher Schickung.

Denn auf den bisherigen Wege waere man leicht ins Grenzenlose geraten und haette den schoenen Zustand reichlicher Gluecksgueter, ohne sich zeitig genug zu besinnen, durch ein vordringliches Leben und Treiben, wo nicht zerstoert, doch erschuettert.

Was von Parkanlagen im Gange war, stoerte sie nicht.

Sie liess vielmehr dasjenige fortsetzen, was zum Grunde kuenftiger Ausbildung liegen musste; aber dabei hatte es auch sein Bewenden. Ihr zurueckkehrender Gemahl sollte noch genug erfreuliche Beschaeftigung finden.

Bei diesen Arbeiten und Vorsaetzen konnte sie nicht genug das Verfahren des Architekten loben.

Der See lag in kurzer Zeit ausgebreitet vor ihren Augen und die neuentstandenen Ufer zierlich und mannigfaltig bepflanzt und beraset.

An dem neuen Hause ward alle rauhe Arbeit vollbracht, was zur Erhaltung noetig war, besorgt, und dann machte sie einen Abschluss da, wo man mit Vergnuegen wieder von vorn anfangen konnte.

Dabei war sie ruhig und heiter; Ottilie schien es nur; denn in allem beobachtete sie nichts als Symptome, ob Eduard wohl bald erwartet werde oder nicht.

Nichts interessierte sie an allem als diese Betrachtung.

Willkommen war ihr daher eine Anstalt, zu der man die Bauerknaben versammelte und die darauf abzielte, den weitlaeufig gewordenen Park immer rein zu erhalten.

Eduard hatte schon den Gedanken gehegt.

Man liess den Knaben eine Art von heiterer Montierung machen, die sie in den Abendstunden anzogen, nachdem sie sich durchaus gereinigt und gesaeubert hatten.

Die Garderobe war im Schloss; dem verstaendigsten, genausten Knaben vertraute man die Aufsicht an; der Architekt leitete das Ganze, und ehe man sichs versah, so hatten die Knaben alle ein gewisses Geschick. Man fand an ihnen eine bequeme Dressur, und sie verrichteten ihr Geschaeft nicht ohne eine Art von Manoever.

Gewiss, wenn sie mit ihren Scharreisen, gestielten Messerklingen, Rechen, kleinen Spaten und Hacken und wedelartigen Besen einherzogen, wenn andre mit Koerben hinterdrein kamen, um Unkraut und Steine beiseitezuschaffen, andre das hohe, grosse, eiserne Walzenrad hinter sich herzogen, so gab es einen huebschen, erfreulichen Aufzug, in welchem der Architekt eine artige Folge von Stellungen und Taetigkeiten fuer den Fries eines Gartenhauses sich anmerkte; Ottilie hingegen sah darin nur eine Art von Parade, welche den rueckkehrenden Hausherrn bald begruessen sollte.

Dies gab ihr Mut und Lust, ihn mit etwas aehnlichem zu empfangen.

Man hatte zeither die Maedchen des Dorfes im Naehen, Stricken, Spinnen und andern weiblichen Arbeiten zu ermuntern gesucht.

Auch diese Tugenden hatten zugenommen seit jenen Anstalten zu Reinlichkeit und Schoenheit des Dorfes.

Ottilie wirkte stets mit ein, aber mehr zufaellig, nach Gelegenheit und Neigung.

Nun gedachte sie es vollstaendiger und folgerechter zu machen. Aber aus einer Anzahl Maedchen laesst sich kein Chor bilden wie aus einer Anzahl Knaben.

Sie folgte ihrem guten Sinne, und ohne sichs ganz deutlich zu machen, suchte sie nichts, als einem jeden Maedchen Anhaenglichkeit an sein Haus, seine Eltern und seine Geschwister einzufloessen.

Das gelang ihr mit vielen.

Nur ueber ein kleines, lebhaftes Maedchen wurde immer geklagt, dass sie ohne Geschick sei und im Hause nun ein fuer allemal nichts tun wolle.

Ottilie konnte dem Maedchen nicht feind sein, denn ihr war es besonders freundlich.

Zu ihr zog es sich, mit ihr ging und lief es, wenn sie es erlaubte.

Da war es taetig, munter und unermuedet.

Die Anhaenglichkeit an eine schoene Herrin schien dem Kinde Beduerfnis zu sein.

Anfaenglich duldete Ottilie die Begleitung des Kindes; dann fasste sie selbst Neigung zu ihm; endlich trennten sie sich nicht mehr, und Nanny begleitete ihre Herrin ueberallhin.

Diese nahm oefters den Weg nach dem Garten und freute sich ueber das schoene Gedeihen.

Die Beeren—und Kirschenzeit ging zu Ende, deren Spaetlinge jedoch Nanny sich besonders schmecken liess.

Bei dem uebrigen Obste, das fuer den Herbst eine so reichliche Ernte versprach, gedachte der Gaertner bestaendig des Herrn und niemals, ohne ihn herbeizuwuenschen.

Ottilie hoerte dem guten alten Manne so gern zu.

Er verstand sein Handwerk vollkommen und hoerte nicht auf, ihr von Eduard vorzusprechen.

Als Ottilie sich freute, dass die Pfropfreiser dieses Fruehjahrs alle so gar schoen gekommen, erwiderte der Gaertner bedenklich: "ich wuensche nur, dass der gute Herr viel Freude daran erleben moege.

Waere er diesen Herbst hier, so wuerde er sehen, was fuer koestliche Sorten noch von seinem Herrn Vater her im alten Schlossgarten stehen.

Die jetzigen Herren Obstgaertner sind nicht so zuverlaessig, als sonst die Kartaeuser waren.

In den Katalogen findet man wohl lauter honette Namen.

Man pfropft und erzieht und endlich, wenn sie Fuerchte tragen, so ist es nicht der Muehe wert, dass solche Baeume im Garten stehen".

Am wiederholtesten aber fragte der treue Diener, fast so oft er Ottilien sah, nach der Rueckkunft des Herrn und nach dem Termin derselben.

Und wenn Ottilie ihn nicht angeben konnte, so liess ihr der gute Mann nicht ohne stille Betruebnis merken, dass er glaube, sie vertraue ihm nicht, und peinlich war ihr das Gefuehl der Unwissenheit, das ihr auf diese Weise recht aufgedrungen ward.

Doch konnte sie sich von diesen Rabatten und Beeten nicht trennen.

Was sie zusammen zum Teil gesaeet, alles gepflanzt hatten, stand nur im voelligen Flor; kaum bedurfte es noch einer Pflege, ausser dass Nanny immer zum Giessen bereit war.

Mit welchen Empfindungen betrachtete Ottilie die spaeteren Blumen, die sich erst anzeigten, deren Glanz und Fuelle dereinst an Eduards Geburtstag, dessen Feier sie sich manchmal versprach, prangen, ihre Neigung und Dankbarkeit ausdruecken sollten!

Doch war die Hoffnung, dieses Fest zu sehen, nicht immer gleich lebendig.

Zweifel und Sorgen umfluesterten stets die Seele des guten Maedchens.

Zu einer eigentlichen, offnen uebereinstimmung mit Charlotten konnte es auch wohl nicht wieder gebracht werden.

Denn freilich war der Zustand beider Frauen sehr verschieden. Wenn alles beim alten blieb, wenn man in das Gleis des gesetzmaessigen Lebens zurueckkehrte, gewann Charlotte an gegenwaertigem Glueck, und eine frohe Aussicht in die Zukunft oeffnete sich ihr; Ottilie hingegen verlor alles, man kann wohl sagen alles; denn sie hatte zuerst Leben und Freude in Eduard gefunden, und in dem gegenwaertigen Zustande fuehlte sie eine unendliche Leere, wovon sie frueher kaum etwas geahnet hatte.

Denn ein Herz, das sucht, fuehlt wohl, dass ihm etwas mangle; ein Herz, das verloren hat, fuehlt, dass es entbehre.

Sehnsucht verwandelt sich in Unmut und Ungeduld, und ein weibliches Gemuet, zum Erwarten und Abwarten gewoehnt, moechte nun aus seinem Kreise herausschreiten, taetig werden, unternehmen und auch etwas fuer sein Glueck tun.

Ottilie hatte Eduarden nicht entsagt.

Wie konnte sie es auch, obgleich Charlotte klug genug, gegen ihre eigne ueberzeugung die Sache fuer bekannt annahm und als entschieden voraussetzte, dass ein freundschaftliches, ruhiges Verhaeltnis zwischen ihrem Gatten und Ottilien moeglich sei.

Wie oft aber lag diese nachts, wenn sie sich eingeschlossen, auf den Knieen vor dem eroeffneten Koffer und betrachtete die Geburtstagsgeschenke, von denen sie noch nichts gebraucht, nichts zerschnitten, nichts gefertigt.

Wie oft eilte das gute Maedchen mit Sonnenaufgang aus dem Hause, in dem sie sonst alle ihre Glueckseligkeit gefunden hatte, ins Freie hinaus, in die Gegend, die sie sonst nicht ansprach.

Auch auf dem Boden mochte sie nicht verweilen.

Sie sprang in den Kahn und ruderte sich bis mitten in den See; dann zog sie eine Reisebeschreibung hervor, liess sich von den bewegten Wellen schaukeln, las, traeumte sich in die Fremde, und immer fand sie dort ihren Freund; seinem Herzen war sie noch immer nahe geblieben, er dem ihrigen.

Dass jener wunderlich taetige Mann, den wir bereits kennengelernt, dass Mittler, nachdem er von dem Unheil, das unter diesen Freunden ausgebrochen, Nachricht erhalten, obgleich kein Teil noch seine Huelfe angerufen, in diesem Falle seine Freundschaft, seine Geschicklichkeit zu beweisen, zu ueben geneigt war, laesst sich denken.

Doch schien es ihm raetlich, erst eine Weile zu zaudern; denn er wusste nur zu wohl, dass es schwerer sei, gebildeten Menschen bei sittlichen Verworrenheiten zu Huelfe zu kommen als ungebildeten.

Er ueberliess sie deshalb eine Zeitlang sich selbst; allein zuletzt konnte er es nicht mehr aushalten und eilte, Eduarden aufzusuchen, dem er schon auf die Spur gekommen war.

Sein Weg fuehrte ihn zu einem angenehmen Tal, dessen anmutig gruenen, baumreichen Wiesengrund die Wasserfuelle eines immer lebendigen Baches bald durchschlaengelte, bald durchrauschte.

Auf den sanften Anhoehen zogen sich fruchtbare Felder und wohlbestandene Obstpflanzungen hin.

Die Doerfer lagen nicht zu nah aneinander, das Ganze hatte einen friedlichen Charakter, und die einzelnen Partieen, wenn auch nicht zum Malen, schienen doch zum Leben vorzueglich geeignet zu sein.

Ein wohlerhaltenes Vorwerk mit einem reinlichen, bescheidenen Wohnhause, von Gaerten umgeben, fiel ihm endlich in die Augen.

Er vermutete, hier sei Eduards gegenwaertiger Aufenthalt, und er irrte nicht.

Von diesem einsamen Freunde koennen wir soviel sagen, dass er sich im stillen dem Gefuehl seiner Leidenschaft ganz ueberliess und dabei mancherlei Plane sich ausdachte, mancherlei Hoffnungen naehrte.

Er konnte sich nicht leugnen, dass er Ottilien hier zu sehen wuensche, dass er wuensche, sie hieher zu fuehren, zu locken, und was er sich sonst noch Erlaubtes und Unerlaubtes zu denken nicht verwehrte.

Dann schwankte seine Einbildungskraft in allen Moeglichkeiten herum.

Sollte er sie hier nicht besitzen, nicht rechtmaessig besitzen koennen, so wollte er ihr den Besitz des Gutes zueignen.

Hier sollte sie still fuer sich, unabhaengig leben; sie sollte gluecklich sein und, wenn ihn eine selbstquaelerische Einbildungskraft noch weiter fuehrte, vielleicht mit einem andern gluecklich sein.

So verflossen ihm seine Tage in einem ewigen Schwanken zwischen Hoffnung und Schmerz, zwischen Traenen und Heiterkeit, zwischen Vorsaetzen, Vorbereitungen und Verzweiflung.

Der Anblick Mittlers ueberraschte ihn nicht.

Er hatte dessen Ankunft laengst erwartet, und so war er ihm auch halb willkommen.

Glaubte er ihn von Charlotten gesendet, so hatte er sich schon auf allerlei Entschuldigungen und Verzoegerungen und sodann auf entscheidendere Vorschlaege bereitet; hoffte er nun aber von Ottilien wieder etwas zu vernehmen, so war ihm Mittler so lieb als ein himmlischer Bote.

Verdriesslich daher und verstimmt war Eduard, als er vernahm, Mittler komme nicht von dorther, sondern aus eignem Antriebe.

Sein Herz verschloss sich, und das Gespraech wollte sich anfangs nicht einleiten.

Doch wusste Mittler nur zu gut, dass ein liebevoll beschaeftigtes Gemuet das dringende Beduerfnis hat, sich zu aeussern, das, was in ihm vorgeht, vor einem Freunde auszuschuetten, und liess sich daher gefallen, nach einigem Hin—und Widerreden diesmal aus seiner Rolle herauszugehen und statt des Vermittlers den Vertrauten zu spielen.

Als er hiernach auf eine freundliche Weise Eduarden wegen seines einsamen Lebens tadelte, erwiderte dieser: "o, ich wuesste nicht, wie ich meine Zeit angenehmer zubringen sollte!

Immer bin ich mit ihr beschaeftigt, immer in ihrer Naehe.

Ich habe den unschaetzbaren Vorteil, mir denken zu koennen, wo sich Ottilie befindet, wo sie geht, wo sie steht, wo sie ausruht.

Ich sehe sie vor mir tun und handeln wie gewoehnlich, schaffen und vornehmen, freilich immer das, was mir am meisten schmeichelt.

Dabei bleibt es aber nicht; denn wie kann ich fern von ihr gluecklich sein!

Nun arbeitet meine Phantasie durch, was Ottilie tun sollte, sich mir zu naehern.

Ich schreibe suesse, zutrauliche Briefe in ihrem Namen an mich, ich antworte ihr und verwahre die Blaetter zusammen.

Ich habe versprochen, keinen Schritt gegen sie zu tun, und das will ich halten.

Aber was bindet sie, dass sie sich nicht zu mir wendet?

Hat etwa Charlotte die Grausamkeit gehabt, Versprechen und Schwur von ihr zu fordern, dass sie mir nicht schreiben, keine Nachricht von sich geben wolle?

Es ist natuerlich, es ist wahrscheinlich, und doch finde ich es unerhoert, unertraeglich.

Wenn sie mich liebt, wie ich glaube, wie ich weiss, warum entschliesst sie sich nicht, warum wagt sie es nicht, zu fliehen und sich in meine Arme zu werfen?

Sie sollte das, denke ich manchmal, sie koennte das.

Wenn sich etwas auf dem Vorsaale regt, sehe ich gegen die Tuere.

Sie soll hereintreten!

Denk ich, hoff ich.

Ach!

Und da das Moegliche unmoeglich ist, bilde ich mir ein, das Unmoegliche muesse moeglich werden.

Nachts, wenn ich aufwache, die Lampe einen unsichern Schein durch das Schlafzimmer wirft, da sollte ihre Gestalt, ihr Geist, eine Ahnung von ihr vorueberschweben, herantreten, mich ergreifen, nur einen Augenblick, dass ich eine Art von Versicherung haette, sie denke mein, sie sei mein.

Eine einzige Freude bleibt mir noch.

Da ich ihr nahe war, traeumte ich nie von ihr; jetzt aber, in der Ferne, sind wir im Traume zusammen, und sonderbar genug: seit ich andre liebenswuerdige Personen hier in der Nachbarschaft kennengelernt, jetzt erst erscheint mir ihr Bild im Traum, als wenn sie mir sagen wollte: ’siehe nur hin und her! Du findest doch nichts Schoeneres und Lieberes als mich.’

Und so mischt sich ihr Bild in jeden meiner Traeume.

Alles, was mir mit ihr begegnet, schiebt sich durch—und uebereinander.

Bald unterschreiben wir einen Kontrakt; da ist ihre Hand und die meinige, ihr Name und der meinige; beide loeschen einander aus, beide verschlingen sich.

Auch nicht ohne Schmerz sind diese wonnevollen Gaukeleien der Phantasie.

Manchmal tut sie etwas, das die reine Idee beleidigt, die ich von ihr habe, dann fueh ich erst, wie sehr ich sie liebe, indem ich ueber alle Beschreibung geaengstet bin.

Manchmal neckt sie mich ganz gegen ihre Art und quaelt mich; aber sogleich veraendert sich ihr Bild, ihr schoenes, rundes, himmlisches Gesichtchen verlaengert sich: es ist eine andre.

Aber ich bin doch gequaelt, unbefriedigt und zerruettet.

Laecheln Sie nicht, lieber Mittler, oder laecheln Sie auch! O ich schaeme mich nicht dieser Anhaenglichkeit, dieser, wenn Sie wollen, toerigen, rasenden Neigung.

Nein, ich habe noch nie geliebt; jetzt erfahre ich erst, was das heisst.

Bisher war alles in meinem Leben nur ein Vorspiel, nur Hinhalten, nur Zeitvertreib, nur Zeitverderb, bis ich sie kennenlernte, bis ich sie liebte und ganz und eigentlich liebte.

Man hat mir mir nicht gerade ins Gesicht, aber doch wohl im Ruecken den Vorwurf gemacht: ich pfusche, ich stuempere nur in den meisten Dingen.

Es mag sein; aber ich hatte das noch nicht gefunden, worin ich mich als Meister zeigen kann.

Ich will den sehen, der mich im Talent des Liebens uebertrifft.

Zwar ist es ein jammervolles, ein schmerzen-, ein traenenreiches; aber ich finde es mir so natuerlich, so eigen, dass ich es wohl schwerlich je wieder aufgebe".

Durch diese lebhaften, herzlichen aeusserungen hatte sich Eduard wohl erleichtert; aber es war ihm auch auf einmal jeder einzelne Zug seines wunderlichen Zustandes deutlich vor die Augen getreten, dass er, vom schmerzlichen Widerstreit ueberwaeltigt, in Traenen ausbrach, die um so reichlicher flossen, als sein Herz durch Mitteilung weich geworden war. Mittler, der sein rasches Naturell, seinen unerbittlichen Verstand um so weniger verleugnen konnte, als er sich durch diesen schmerzlichen Ausbruch der Leidenschaft Eduards weit von dem Ziel seiner Reise verschlagen sah, aeusserte aufrichtig und derb seine Mibilligung.

Eduard—hiess es—solle sich ermannen, solle bedenken, was er seiner Manneswuerde schuldig sei, solle nicht vergessen, dass dem Menschen zur hoechsten Ehre gereiche, im Unglueck sich zu fassen, den Schmerz mit Gleichmut und Anstand zu ertragen, um hoechlich geschaetzt, verehrt und als Muster aufgestellt zu werden.

Aufgeregt, durchdrungen von den peinlichsten Gefuehlen, wie Eduard war, mussten ihm diese Worte hohl und nichtig vorkommen.

"Der Glueckliche, der Behagliche hat gut reden", fuhr Eduard auf; "aber schaemen wuerde er sich, wenn er einsaehe, wie unertraeglich er dem Leidenden wird.

Eine unendliche Geduld soll es geben, einen unendlichen Schmerz will der starre Behagliche nicht anerkennen.

Es gibt Faelle, ja, es gibt deren!

Wo jeder Trost niedertraechtig und Verzweiflung Pflicht ist.

Verschmaeht doch ein edler Grieche, der auch Helden zu schildern weiss, keineswegs, die seinigen bei schmerzlichem Drange weinen zu lassen.

Selbst im Spruechwort sagt er: ’traenenreiche Maenner sind gut.’ Verlasse mich jeder, der trocknen Herzens, trockner Augen ist!

Ich verwuensche die Gluecklichen, denen der Unglueckliche nur zum Spektakel dienen soll.

Er soll sich in der grausamsten Lage koerperlicher und geistiger Bedraengnis noch edel gebaerden, um ihren Beifall zu erhalten, und, damit sie ihm beim Verscheiden noch applaudieren, wie ein Gladiator mit Anstand vor ihren Augen umkommen.

Lieber Mittler, ich danke Ihnen fuer Ihren Besuch; aber Sie erzeigten mir eine grosse Liebe, wenn Sie sich im Garten, in der Gegend umsaehen.

Wir kommen wieder zusammen.

Ich suche gefasster und Ihnen aehnlicher zu werden".

Mittler mochte lieber einlenken als die Unterhaltung abbrechen, die er so leicht nicht wieder anknuepfen konnte.

Auch Eduarden war es ganz gemaess, das Gespraech weiter fortzusetzen, das ohnehin zu seinem Ziele abzulaufen strebte.

"Freilich", sagte Eduard, "hilft das Hin—und Widerdenken, das Hin—und Widerreden zu nichts; doch unter diesem Reden bin ich mich selbst erst gewahr worden, habe ich erst entschieden gefuehlt, wozu ich mich entschliessen sollte, wozu ich entschlossen bin.

Ich sehe mein gegenwaertiges, mein zukuenftiges Leben vor mir; nur zwischen Elend und Genuss habe ich zu waehlen.

Bewirken Sie, bester Mann, eine Scheidung, die so notwendig, die schon geschehen ist; schaffen Sie mir Charlottens Einwilligung!

Ich will nicht weiter ausfuehren, warum ich glaube, dass sie zu erlangen sein wird.

Gehen Sie hin, lieber Mann, beruhigen Sie uns alle, machen Sie uns gluecklich!" Mittler stockte.

Eduard fuhr fort: "mein Schicksal und Ottiliens ist nicht zu trennen, und wir werden nicht zugrunde gehen.

Sehen Sie dieses Glas!

Unsere Namenszuege sind dareingeschnitten.

Ein froehlich Jubelnder warf es in die Luft; niemand sollte mehr daraus trinken, auf dem felsigen Boden sollte es zerschellen; aber es ward aufgefangen.

Um hohen Preis habe ich es wieder eingehandelt, und ich trinke nun taeglich daraus, um mich taeglich zu ueberzeugen, dass alle Verhaeltnisse unzerstoerlich sind, die das Schicksal beschlossen hat".

"O wehe mir", rief Mittler, "was muss ich nicht mit meinen Freunden fuer Geduld haben!

Nun begegnet mir noch gar der Aberglaube, der mir als das Schaedlichste, was bei den Menschen einkehren kann, verhasst bleibt.

Wir spielen mit Voraussagungen und Traeumen und machen dadurch das alltaegliche Leben bedeutend.

Aber wenn das Leben nun selbst bedeutend wird, wenn alles um uns sich bewegt und braust, dann wird das Gewitter durch jene Gespenster nur noch fuerchterlicher".

"Lassen Sie in dieser Ungewissheit des Lebens", rief Eduard, "zwischen diesem Hoffen und Bangen dem beduerftigen Herzen doch nur eine Art von Leitstern, nach welchem es hinblicke, wenn es auch nicht darnach steuern kann".

"Ich liesse mirs wohl gefallen", versetzte Mittler, "wenn dabei nur einige Konsequenz zu hoffen waere, aber ich habe immer gefunden: auf die warnenden Symptome achtet kein Mensch, auf die schmeichelnden und versprechenden allein ist die Aufmerksamkeit gerichtet und der Glaube fuer sie ganz allein lebendig".

Da sich nun Mittler sogar in die dunklen Regionen gefuehrt sah, in denen er sich immer unbehaglicher fuehlte, je laenger er darin verweilte, so nahm er den dringenden Wunsch Eduards, der ihn zu Charlotten gehen hiess, etwas williger auf.

Denn was wollte er ueberhaupt Eduarden in diesem Augenblicke noch entgegensetzen?

Zeit zu gewinnen, zu erforschen, wie es um die Frauen stehe, das war es, was ihm selbst nach seinen eignen Gesinnungen zu tun uebrigblieb.

Er eilte zu Charlotten, die er wie sonst gefasst und heiter fand.

Sie unterrichtete ihn gern von allem, was vorgefallen war; denn aus Eduards Reden konnte er nur die Wirkung abnehmen.

Er trat von seiner Seite behutsam heran, konnte es aber nicht ueber sich gewinnen, das Wort Scheidung auch nur im Vorbeigehn auszusprechen.

Wie verwundert, erstaunt und, nach seiner Gesinnung, erheitert war er daher, als Charlotte ihm in Gefolg so manches Unerfreulichen endlich sagte: "ich muss glauben, ich muss hoffen, dass alles sich wieder geben, dass Eduard sich wieder naehern werde.

Wie kann es auch wohl anders sein, da Sie mich guter Hoffnung finden".

"Versteh ich Sie recht?" fiel Mittler ein.

"Vollkommen", versetzte Charlotte.

"Tausendmal gesegnet sei mir diese Nachricht!" rief er, die Haende zusammenschlagend.

"Ich kenne die Staerke dieses Arguments auf ein maennliches Gemuet.

Wie viele Heiraten sah ich dadurch beschleunigt, befestigt, wiederhergestellt!

Mehr als tausend Worte wirkt eine solche gute Hoffnung, die fuerwahr die beste Hoffnung ist, die wir haben koennen.

Doch", fuhr er fort, "was mich betrifft, so haette ich alle Ursache, verdriesslich zu sein.

In diesem Falle, sehe ich wohl, wird meiner Eigenliebe nicht geschmeichelt.

Bei euch kann meine Taetigkeit keinen Dank verdienen.

Ich komme mir vor wie jener Arzt, mein Freund, dem alle Kuren gelangen, die er um Gottes willen an Armen tat, der aber selten einen Reichen heilen konnte, der es gut bezahlen wollte.

Gluecklicherweise hilft sich hier die Sache von selbst, da meine Bemuehungen, mein Zureden fruchtlos geblieben waeren".

Charlotte verlangte nun von ihm, er solle die Nachricht Eduarden bringen, einen Brief von ihr mitnehmen und sehen, was zu tun, was herzustellen sei.

Er wollte das nicht eingehen.

"Alles ist schon getan", rief er aus.

"Schreiben Sie!

Ein jeder Bote ist so gut als ich.

Muss ich doch meine Schritte hinwenden, wo ich noetiger bin.

Ich komme nur wieder, um Glueck zu wuenschen; ich komme zur Taufe".

Charlotte war diesmal, wie schon oefters, ueber Mittlern unzufrieden.

Sein rasches Wesen brachte manches Gute hervor, aber seine uebereilung war schuld an manchem Misslingen.

Niemand war abhaengiger von augenblicklich vorgefassten Meinungen als er.

Charlottens Bote kam zu Eduarden, der ihn mit halbem Schrecken empfing.

Der Brief konnte ebensogut fuer Nein als fuer Ja entscheiden.

Er wagte lange nicht, ihn aufzubrechen, und wie stand er betroffen, als er das Blatt gelesen, versteinert bei folgender Stelle, womit es sich endigte: "gedenke jener naechtlichen Stunden, in denen du deine Gattin abenteuerlich als Liebender besuchtest, sie unwiderstehlich an dich zogst, sie als eine Geliebte, als eine Braut in die Arme schlossest.

Lass uns in dieser seltsamen Zufaelligkeit eine Fuegung des Himmels verehren, die fuer ein neues Band unserer Verhaeltnisse gesorgt hat in dem Augenblick, da das Glueck unseres Lebens auseinanderzufallen und zu verschwinden droht".

Was von dem Augenblick an in der Seele Eduards vorging, wuerde schwer zu schildern sein.

In einem solchen Gedraenge treten zuletzt alte Gewohnheiten, alte Neigungen wieder hervor, um die Zeit zu toeten und den Lebensraum auszufuellen.

Jagd und Krieg sind eine solche fuer den Edelmann immer bereite Aushuelfe.

Eduard sehnte sich nach aeusserer Gefahr, um der innerlichen das Gleichgewicht zu halten.

Er sehnte sich nach dem Untergang, weil ihm das Dasein unertraeglich zu werden drohte; ja es war ihm ein Trost zu denken, dass er nicht mehr sein werde und eben dadurch seine Geliebten, seine Freunde gluecklich machen koenne.

Niemand stellte seinem Willen ein Hindernis entgegen, da er seinen Entschluss verheimlichte.

Mit allen Foermlichkeiten setzte er sein Testament auf; es war ihm eine suesse Empfindung, Ottilien das Gut vermachen zu koennen.

Fuer Charlotten, fuer das Ungeborne, fuer den Hauptmann, fuer seine Dienerschaft war gesorgt.

Der wieder ausgebrochene Krieg beguenstigte sein Vorhaben.

Militaerische Halbheiten hatten ihm in seiner Jugend viel zu schaffen gemacht; er hatte deswegen den Dienst verlassen.

Nun war es ihm eine herrliche Empfindung, mit einem Feldherrn zu ziehen, von dem er sich sagen konnte: unter seiner Anfuehrung ist der Tod wahrscheinlich und der Sieg gewiss.

Ottilie, nachdem auch ihr Charlottens Geheimnis bekannt geworden, betroffen wie Eduard, und mehr, ging in sich zurueck.

Sie hatte nichts weiter zu sagen.

Hoffen konnte sie nicht, und wuenschen durfte sie nicht.

Einen Blick jedoch in ihr Inneres gewaehrt uns ihr Tagebuch, aus dem wir einiges mitzuteilen gedenken.

Im gemeinen Leben begegnet uns oft, was wir in der Epopoee als Kunstgriff des Dichters zu ruehmen pflegen, dass naemlich, wenn die Hauptfiguren sich entfernen, verbergen, sich der Untaetigkeit hingeben, gleich sodann schon ein Zweiter, Dritter, bisher kaum Bemerkter den Platz fuellt und, indem er seine ganze Taetigkeit aeussert, uns gleichfalls der Aufmerksamkeit, der Teilnahme, ja des Lobes und Preises wuerdig erscheint.

So zeigte sich gleich nach der Entfernung des Hauptmanns und Eduards jener Architekt taeglich bedeutender, von welchem die Anordnung und Ausfuehrung so manches Unternehmens allein abhing, wobei er sich genau, verstaendig und taetig erwies und zugleich den Damen auf mancherlei Art beistand und in stillen, langwierigen Stunden sie zu unterhalten wusste.

Schon sein aeusseres war von der Art, dass es Zutrauen einfloesste und Neigung erweckte.

Ein Juengling im vollen Sinne des Wortes, wohlgebaut, schlank, eher ein wenig zu gross, bescheiden ohne aengstlich, zutraulich ohne zudringend zu sein.

Freudig uebernahm er jede Sorge und Bemuehung, und weil er mit grosser Leichtigkeit rechnete, so war ihm bald das ganze Hauswesen kein Geheimnis, und ueberallhin verbreitete sich sein guenstiger Einfluss.

Die Fremden liess man ihn gewoehnlich empfangen, und er wusste einen unerwarteten Besuch entweder abzulehnen oder die Frauen wenigstens dergestalt darauf vorzubereiten, dass ihnen keine Unbequemlichkeit daraus entsprang.

Unter andern gab ihm eines Tages ein junger Rechtsgelehrter viel zu schaffen, der, von einem benachbarten Edelmann gesendet, eine Sache zur Sprache brachte, die, zwar von keiner sonderlichen Bedeutung, Charlotten dennoch innig beruehrte.

Wir muessen dieses Vorfalls gedenken, weil er verschiedenen Dingen einen Anstoss gab, die sonst vielleicht lange geruht haetten.

Wir erinnern uns jener Veraenderung, welche Charlotte mit dem Kirchhofe vorgenommen hatte.

Die saemtlichen Monumente waren von ihrer Stelle gerueckt und hatten an der Mauer, an dem Sockel der Kirche Platz gefunden.

Der uebrige Raum war geebnet.

Ausser einem breiten Wege, der zur Kirche und an derselben vorbei zu dem jenseitigen Pfoertchen fuehrte, war das uebrige alles mit verschiedenen Arten Klee besaeet, der auf das schoenste gruente und bluehte.

Nach einer gewissen Ordnung sollten vom Ende heran die neuen Graeber bestellt, doch der Platz jederzeit wieder verglichen und ebenfalls besaeet werden.

Niemand konnte leugnen, dass diese Anstalt beim sonn—und festtaetigen Kirchgang eine heitere und wuerdige Ansicht gewaehrte.

Sogar der betagte und an alten Gewohnheiten haftende Geistliche, der anfaenglich mit der Einrichtung nicht sonderlich zufrieden gewesen, hatte nunmehr seine Freude daran, wenn er unter den alten Linden, gleich Philomon, mit seiner Baucis vor der Hintertuere ruhend, statt der holprigen Grabstaetten einen schoenen, bunten Teppich vor sich sah, der noch ueberdies seinem Haushalt zugute kommen sollte, indem Charlotte die Nutzung dieses Fleckes der Pfarre zusichern lassen.

Allein desungeachtet hatten schon manche Gemeindeglieder frueher gemissbilligt, dass man die Bezeichnung der Stelle, wo ihre Vorfahren ruhten, aufgehoben und das Andenken dadurch gleichsam ausgeloescht; denn die wohlerhaltenden Monumente zeigen zwar an, wer begraben sei, aber nicht, wo er begraben sei, und auf das Wo komme es eigentlich an, wie viele behaupteten.

Von ebensolcher Gesinnung war eine benachbarte Familie, die sich und den Ihrigen einen Raum auf dieser allgemeinen Ruhestaette vor mehreren Jahren ausbedungen und dafuer der Kirche eine kleine Stiftung zugewendet hatte.

Nun war der junge Rechtsgelehrte abgesendet, um die Stiftung zu widerrufen und anzuzeigen, dass man nicht weiterzahlen werde, weil die Bedingung, unter welcher dieses bisher geschehen, einseitig aufgehoben und auf alle Vorstellungen und Widerreden nicht geachtet worden.

Charlotte, die Urheberin dieser Veraenderung, wollte den jungen Mann selbst sprechen, der zwar lebhaft, aber nicht allzu vorlaut seine und seines Prinzipals Gruende darlegte und der Gesellschaft manches zu denken gab.

"Sie sehen", sprach er nach einem kurzen Eingang, in welchem er seine Zudringlichkeit zu rechtfertigen wusste, "Sie sehen, dass dem Geringsten wie dem Hoechsten daran gelegen ist, den Ort zu bezeichnen, der die Seinigen aufbewahrt.

Dem aermsten Landmann, der ein Kind begraebt, ist es eine Art von Trost, ein schwaches hoelzernes Kreuz auf das Grab zu stellen, es mit einem Kranze zu zieren, um wenigstens das Andenken so lange zu erhalten, als der Schmerz waehrt, wenn auch ein solches Merkzeichen, wie die Trauer selbst, durch die Zeit aufgehoben wird.

Wohlhabende verwandeln diese Kreuze in eiserne, befestigen und schuetzen sie auf mancherlei Weise, und hier ist schon Dauer fuer mehrere Jahre.

Doch weil auch diese endlich sinken und unscheinbar werden, so haben Begueterte nichts Angelegeneres, als einen Stein aufzurichten, der fuer mehrere Generationen zu dauern verspricht und von den Nachkommen erneut und aufgefrischt werden kann.

Aber dieser Stein ist es nicht, der uns anzieht, sondern das darunter Enthaltene, das daneben der Erde Vertraute.

Es ist nicht sowohl vom Andenken die Rede als von der Person selbst, nicht von der Erinnerung, sondern von der Gegenwart.

Ein geliebtes Abgeschiedenes umarme ich weit eher und inniger im Grabhuegel als im Denkmal, denn dieses ist fuer sich eigentlich nur wenig; aber um dasselbe her sollen sich wie um einen Markstein Gatten, Verwandte, Freunde selbst nach ihrem Hinscheiden noch versammeln, und der Lebende soll das Recht behalten, Fremde und Misswollende auch von der Seite seiner geliebten Ruhenden abzuweisen und zu entfernen.

Ich halte deswegen dafuer, dass mein Prinzipal voellig recht habe, die Stiftung zurueckzunehmen; und dies ist noch billig genug, denn die Glieder der Familie sind auf eine Weise verletzt, wofuer gar kein Ersatz zu denken ist.

Sie sollen das schmerzlich suesse Gefuehl entbehren, ihren Geliebten ein Totenopfer zu bringen, die troestliche Hoffnung, dereinst unmittelbar neben ihnen zu ruhen".

"Die Dache ist nicht von der Bedeutung",versetzte Charlotte, "dass man sich deshalb durch einen Rechtshandel beunruhigen sollte.

Meine Anstalt reut mich so wenig, dass ich die Kirche gern wegen dessen, was ihr entgeht, entschaedigen will.

Nur muss ich Ihnen aufrichtig gestehen: Ihre Argumente haben mich nicht ueberzeugt.

Das reine Gefuehl einer endlichen allgemeinen Gleichheit, wenigstens nach dem Tode, scheint mir beruhigender als dieses eigensinnige, starre Fortsetzen unserer Persoenlichkeiten, Anhaenglichkeiten und Lebensverhaeltnisse.—Und was sagen Sie hierzu?" richtete sie ihre Frage an den Architekten.

"Ich moechte", versetzte dieser, "in einer solchen Sache weder streiten noch den Ausschlag geben.

Lassen Sie mich das, was meiner Kunst, meiner Denkweise am naechsten liegt, bescheidentlich aeussern.

Seitdem wir nicht mehr so gluecklich sind, die Reste eines geliebten Gegenstandes eingeurnt an unsere Brust zu druecken, da wir weder reich noch heiter genug sind, sie unversehrt in grossen, wohlausgezierten Sarkophagen zu verwahren, ja da wir nicht einmal in den Kirchen mehr Platz fuer uns und fuer die Unsrigen finden, sondern hinaus ins Freie gewiesen sind, so haben wir alle Ursache, die Art und Weise, die Sie, meine gnaedige Frau, eingeleitet haben, zu billigen.

Wenn die Glieder einer Gemeinde reihenweise nebeneinander liegen, so ruhen sie bei und unter den Ihrigen; und wenn die Erde uns einmal aufnehmen soll, so finde ich nichts natuerlicher und reinlicher, als dass man die zufaellig entstandenen, nach und nach zusammensinkenden Huegel ungesaeumt vergleiche und so die Decke, indem alle sie tragen, einem jeden leichter gemacht werde".

"Und ohne irgendein Zeichen des Andenkens, ohne irgend etwas, das der Erinnerung entgegenkaeme, sollte das alles so voruebergehen?" versetzte Ottilie.

"Keineswegs!" fuhr der Architekt fort; "nicht vom Andenken, nur vom Platze soll man sich lossagen.

Der Baukuenstler, der Bildhauer sind hoechlich interessiert, dass der Mensch von ihnen, von ihrer Kunst, von ihrer Hand eine Dauer seines Daseins erwarte; und deswegen wuenschte ich gut gedachte, gut ausgefuehrte Monumente, nicht einzeln und zufaellig ausgesaeet, sondern an einem Orte aufgestellt, wo sie sich Dauer versprechen koennen.

Da selbst die Frommen und Hohen auf das Vorrecht Verzicht tun, in den Kirchen persoenlich zu ruhen, so stelle man wenigstens dort oder in schoenen Hallen um die Begraebnisplaetze Denkzeichen, Denkschriften auf.

Es gibt tausenderlei Formen, die man ihnen vorschreiben, tausenderlei Zieraten, womit man sie ausschmuecken kann".

"Wenn die Kuenstler so reich sind", versetzte Charlotte, "so sagen Sie mir doch: wie kann man sich niemals aus der Form eines kleinlichen Obelisken, einer abgestutzten Saeule und eines Aschenkrugs herausfinden?

Anstatt der tausend Erfindungen, deren Sie sich ruehmen, habe ich immer nur tausend Wiederholungen gesehen".

"Das ist wohl bei uns so", entgegnete ihr der Architekt, "aber nicht ueberall.

Und ueberhaupt mag es mit der Erfindung und der schicklichen Anwendung eine eigne Sache sein.

Besonders hat es in diesem Falle manche Schwierigkeit, einen ernsten Gegenstand zu erheitern und bei einem unerfreulichen nicht ins Unerfreuliche zu geraten.

Was Entwuerfe zu Monumenten aller Art betrifft, deren habe ich viele gesammelt und zeige sie gelegentlich; doch bleibt immer das schoenste Denkmal des Menschen eigenes Bildnis.

Dieses gibt mehr als irgend etwas anders einen Begriff von dem, was er war; es ist der beste Text zu vielen oder wenigen Noten; nur muesste es aber auch in seiner besten Zeit gemacht sein, welches gewoehnlich versaeumt wird.

Niemand denkt daran, lebende Formen zu erhalten, und wenn es geschieht, so geschieht es auf unzulaengliche Weise.

Da wird ein Toter geschwind noch abgegossen und eine solche Maske auf einen Block gesetzt, und das heisst man eine Bueste.

Wie selten ist der Kuenstler imstande, sie voellig wiederzubeleben!" "Sie haben, ohne es vielleicht zu wissen ud zu wollen", versetzte Charlotte, "dies Gespraech ganz zu meinen Gunsten gelenkt.

Das Bild eines Menschen ist doch wohl unabhaengig; ueberall, wo es steht, steht es fuer sich, und wir werden von ihm nicht verlangen, dass es die eigentliche Grabstaette bezeichne.

Aber soll ich Ihnen eine wunderliche Empfindung bekennen?

Selbst gegen die Bildnisse habe ich eine Art von Abneigung; denn sie scheinen mir immer einen stillen Vorwurf zu machen; sie deuten auf etwas Entferntes, Abgeschiedenes und erinnern mich, wie schwer es sei, die Gegenwart recht zu ehren.

Gedenkt man, wieviel Menschen man gesehen, gekannt, und gesteht sich, wie wenig wir ihnen, wie wenig sie uns gewesen, wie wird uns da zumute!

Wir begegnen dem Geistreichen, ohne uns mit ihm zu unterhalten, dem Gelehrten, ohne von ihm zu lernen, dem Gereisten, ohne uns zu unterrichten, dem Liebevollen, ohne ihm etwas Angenehmes zu erzeigen.

Und leider ereignet sich dies nicht bloss mit den Voruebergehenden.

Gesellschaften und Familien betragen sich so gegen ihre liebsten Glieder, Staedte gegen ihre wuerdigsten Buerger, Voelker gegen ihre trefflichsten Fuersten, Nationen gegen ihre vorzueglichsten Menschen.

Ich hoerte fragen, warum man von den Toten so unbewunden Gutes sage, von den Lebenden immer mit einer gewissen Vorsicht.

Es wurde geantwortet: weil wir von jenen nichts zu befuerchten haben und diese uns noch irgendwo in den Weg kommen koennten.

So unrein ist die Sorge fuer das Andenken der andern; es ist meist nur ein selbstischer Scherz, wenn es dagegen ein heiliger Ernst waere, seine Verhaeltnisse gegen die ueberbliebenen immer lebendig und taetig zu erhalten".

Aufgeregt durch den Vorfall und die daran sich knuepfenden Gespraeche, begab man sich des andern Tages nach dem Begraebnisplatz zu dessen Verzierung und Erheiterung der Architekt manchen gluecklichen Vorschlag tat.

Allein auch auf die Kirche sollte sich seine Sorgfalt erstrecken, auf ein Gebaeude, das gleich anfaenglich seine Aufmerksamkeit an sich gezogen hatte.

Diese Kirche stand seit mehrern Jahrhunderten, nach deutscher Art und Kunst in guten Massen errichtet und auf eine glueckliche Weise verziert.

Man konnte wohl nachkommen, dass der Baumeister eines benachbarten Klosters mit Einsicht und Neigung sich auch an diesem kleineren Gebaeude bewaehrt, und es wirkte noch immer ernst und angenehm auf den Betrachter, obgleich die innere neue Einrichtung zum protestantischen Gottesdienste ihm etwas von seiner Ruhe und Majestaet genommen hatte.

Dem Architekten fiel es nicht schwer, sich von Charlotten eine maessige Summe zu erbitten, wovon er das aeussere sowohl als das Innere im altertuemlichen Sinne herzustellen und mit dem davorliegenden Auferstehungsfelde zur uebereinstimmung zu bringen gedachte.

Er hatte selbst viel Handgeschick, und einige Arbeiter, die noch am Hausbau beschaeftigt waren, wollte man gern so lange beibehalten, bis auch dieses fromme Werk vollendet waere.

Man war nunmehr in dem Falle, das Gebaeude selbst mit allen Umgebungen und Angebaeuden zu untersuchen, und da zeigte sich zum groessten Erstaunen und Vergnuegen des Architekten eine wenig bemerkte kleine Seitenkapelle von noch geistreichern und leichtern Massen, von noch gefaelligern und fleissigern Zierarten.

Sie enthielt zugleich manchen geschnitzten und gemalten Rest jenes aelteren Gottesdienstes, der mit mancherlei Gebild und Geraetschaft die verschiedenen Feste zu bezeichnen und jedes auf seine eigne Weise zu feiern wusste.

Der Architekt konnte nicht unterlassen, die Kapelle sogleich in seinen Plan mit hereinzuziehen und besonders diesen engen Raum als ein Denkmal voriger Zeiten und ihres Geschmacks wiederherzustellen.

Er hatte sich die leeren Flaechen nach seiner Neigung schon verziert gedacht und freute sich, dabei sein malerisches Talent zu ueben; allein er machte seinen Hausgenossen fuers erste ein Geheimnis davon.

Vor allem andern zeigte er versprochenermassen den Frauen die verschiedenen Nachbildungen und Entwuerfe von alten Grabmonumenten, Gefaessen und andern dahin sich naehernden Dingen, und als man im Gespraech auf die einfachern Grabhuegel, der nordischen Voelker zu reden kam, brachte er seine Sammlung von mancherlei Waffen und Geraetschaften, die darin gefunden worden, zur Ansicht.

Er hatte alles sehr reinlich und tragbar in Schubladen und Faechern auf eingeschnittenen, mit Tuch ueberzogenen Brettern, sodass diese alten, ernsten Dinge durch seine Behandlung etwas Putzhaftes annahmen und man mit Vergnuegen darauf wie auf die Kaestchen eines Modehaendlers hinblickte.

Und da er einmal im Vorzeigen war, da die Einsamkeit eine Unterhaltung forderte, so pflegte er jeden Abend mit einem Teil seiner Schaetze hervorzutreten.

Sie waren meistenteils deutschen Ursprungs: Brakteaten, Dickmuenzen, Siegel und was sonst sich noch anschliessen mag.

Alle diese Dinge richteten die Einbildungskraft gegen die aeltere Zeit hin, und da er zuletzt mit den Anfaengen des Drucks, Holzschnitten und den aeltesten Kupfern seine Unterhaltung zierte und die Kirche taeglich auch, jenem Sinne gemaess, an Farbe und sonstiger Auszierung gleichsam der Vergangenheit entgegenwuchs, so musste man sich beinahe selbst fragen, ob man denn wirklich in der neueren Zeit lebe, ob es nicht ein Traum sei, dass man nunmehr in ganz andern Sitten, Gewohnheiten, Lebensweisen und ueberzeugungen verweile.

Auf solche Art vorbereitet, tat ein groesseres Portefeuille, das er zuletzt herbeibrachte, die beste Wirkung.

Es enthielt zwar meist nur umrissene Figuren, die aber, weil sie auf die Bilder selbst durchgezeichnet waren, ihren altertuemlichen Charakter vollkommen erhalten hatten, und diesen, wie einnehmend fanden ihn die Beschauenden!

Aus allen Gestalten blickte nur das reinste Dasein hervor; alle musste man, wo nicht fuer edel, doch fuer gut ansprechen.

Heitere Sammlung, willige Anerkennung eines Ehrwuerdigen ueber uns, stille Hingebung in Liebe und Erwartung war auf allen Gesichtern, in allen Gebaerden ausgedrueckt.

Der Greis mit dem kahlen Scheitel, der reichlockige Knabe, der muntere Juengling, der ernste Mann, der verklaerte Heilige, der schwebende Engel, alle schienen selig in einem unschuldigen Genuegen, in einem frommen Erwarten.

Das Gemeinste, was geschah, hatte einen Zug von himmlischem Leben, und eine gottesdienstliche Handlung schien ganz jeder Natur angemessen.

Nach einer solchen Region blicken wohl die meisten wie nach einem verschwundenen goldenen Zeitalter, nach einem verlorenen Paradiese hin.

Nur vielleicht Ottilie war in dem Fall, sich unter ihresgleichen zu fuehlen.

Wer haette nun widerstehen koennen, als der Architekt sich erbot, nach dem Anlass dieser Urbilder die Raeume zwischen den Spitzbogen der Kapelle auszumalen und dadurch sein Andenken entschieden an einem Orte zu stiften, wo es ihm so gut gegangen war.

Er erklaerte sich hierueber mit einiger Wehmut; denn er konnte nach der Lage der Sache wohl einsehen, dass sein Aufenthalt in so vollkommener Gesellschaft nicht immer dauern koenne, ja vielleicht bald abgebrochen werden muesse.

uebrigens waren diese Tage zwar nicht reich an Begebenheiten, doch voller Anlaesse zu ernsthafter Unterhaltung.

Wir nehmen daher Gelegenheit, von demjenigen, was Ottilie sich daraus in ihren Heften angemerkt, einiges mitzuteilen, wozu wir keinen schicklichern uebergang finden als durch ein Gleichnis, das sich uns beim Betrachten ihrer liebenswuerdigen Blaetter aufdringt.

Wir hoeren von einer besondern Einrichtung bei der englischen Marine.

Saemtliche Tauwerke der koeniglichen Flotte, vom staerksten bis zum schwaechsten, sind dergestalt geht, den man nicht herauswinden kann, ohne alles aufzuloesen, und woran auch die kleinsten Stuecke kenntlich sind, dass sie der Krone gehoeren.

Ebenso zieht sich durch Ottiliens Tagebuch ein Faden der Neigung und Anhaenglichkeit, der alles verbindet und das Ganze bezeichnet. Dadurch werden diese Bemerkungen, Betrachtungen, ausgezogenen Sinnsprueche und was sonst vorkommen mag, der Schreibenden ganz besonders eigen und fuer sie von Bedeutung.

Selbst jede einzelne von uns ausgewaehlte und mitgeteilte Stelle gibt davon das entschiedenste Zeugnis.

Neben denen dereinst zu ruhen, die man liebt, ist die angenehmste Vorstellung, welche der Mensch haben kann, wenn er einmal ueber das Leben hinausdenkt.

‘Zu den Seinigen versammelt werden’ ist ein so herzlicher Ausdruck.

Es gibt mancherlei Denkmale und Merkzeichen, die uns Entfernte und Abgeschidene naeher bringen.

Keins ist von der Bedeutung des Bildes.

Die Unterhaltung mit einem geliebten Bilde, selbst wenn es unaehnlich ist, hat was Reizendes, wie es manchmal etwas Reizendes hat, sich mit einem Freunde streiten.

Man fuehlt auf eine angenehme Weise, dass man zu zweien ist und doch nicht auseinander kann.

Man unterhaelt sich manchmal mit einem gegenwaertigen Menschen als mit einem Bilde.

Er braucht nicht zu sprechen, uns nicht anzusehen, sich nicht mit uns zu beschaeftigen; wir sehen ihn, wir fuehlen unser Verhaeltnis zu ihm, ja sogar unsere Verhaeltnisse zu ihm koennen wachsen, ohne dass er etwas dazu tut, ohne dass er etwas davon empfindet, dass er sich eben bloss zu uns wie ein Bild verhaelt.

Man ist niemals mit einem Portraet zufrieden von Personen, die man kennt.

Deswegen habe ich die Portraetmaler immer bedauert.

Man verlangt so selten von den Leuten das Unmoegliche, und gerade von diesen fordert mans.

Sie sollen einem jeden sein Verhaeltnis zu den Personen, seine Neigung und Abneigung mit in ihr Bild aufnehmen; sie sollen nicht bloss darstellen, wie sie einen Menschen fassen, sondern wie jeder ihn fassen wuerde.

Es nimmt mich nicht wunder, wenn solche Kuenstler nach und nach verstockt, gleichgueltig und eigensinnig werden.

Daraus moechte denn entstehen, was wollte, wenn man nur nicht gerade darueber die Abbildungen so mancher lieben und teuren Menschen entbehren muesste.

Es ist wohl wahr, die Sammlung des Architekten von Waffen und alten Geraetschaften, die nebst dem Koerper mit hohen Erdhuegeln und Felsenstuecken zugedeckt waren, bezeugt uns, wie unnuetz die Vorsorge des Menschen sei fuer die Erhaltung seiner Persoenlichkeit nach dem Tode.

Und so widersprechend sind wir!

Der Architekt gesteht, selbst solche Grabhuegel der Vorfahren geoeffnet zu haben, und faehrt dennoch fort, sich mit Denkmaelern fuer die Nachkommen zu beschaeftigen.

Warum soll man es aber so streng nehmen?

Ist denn alles, was wir tun, fuer die Ewigkeit getan?

Ziehen wir uns nicht morgens an, um uns abends wieder auszuziehen?

Verreisen wir nicht, um wiederzukehren?

Und warum sollten wir nicht wuenschen, neben den Unsrigen zu ruhen, und wenn es auch nur fuer ein Jahrhundert waere?

Wenn man die vielen versunkenen, die durch Kirchgaenger abgetretenen Grabsteine, die ueber ihren Grabmaelern selbst zusammengestuerzten Kirchen erblickt, so kann einem das Leben nach dem Tode doch immer wie ein zweites Leben vorkommen, in das man nun im Bilde, in der ueberschrift eintritt und laenger darin verweilt als in dem eigentlichen lebendigen Leben.

Aber auch dieses Bild, dieses zweite Dasein verlischt frueher oder spaeter.

Wie ueber die Menschen, so auch ueber die Denkmaeler laesst sich die Zeit ihr Recht nicht nehmen.

Es ist eine so angenehme Emfpindung, sich mit etwas zu beschaeftigen, was man nur halb kann, dass niemand den Dilettanten schelten sollte, wenn er sich mit einer Kunst abgibt, die er nie lernen wird, noch den Kuenstler tadeln duerfte, wenn er ueber die Grenze seiner Kunst hinaus in einem benachbarten Felde sich zu ergehen Lust hat.

Mit so billigen Gesinnungen betrachten wir die Anstalten des Architekten zum Ausmalen der Kapelle.

Die Farben waren bereitet, die Masse genommen, die Kartone gezeichnet; allen Anspruch auf Erfindung hatte er aufgegeben; er hielt sich an seine Umrisse: nur die sitzenden und schwebenden Figuren geschickt auszuteilen, den Raum damit geschmackvoll auszuzieren, war seine Sorge.

Das Gerueste stand, die Arbeit ging vorwaerts, und da schon einiges, was in die Augen fiel, erreicht war, konnte es ihm nicht zuwider sein, dass Charlotte mit Ottilien ihn besuchte.

Die lebendigen Engelsgesichter, die lebhaften Gewaender auf dem blauen Himmelsgrunde erfreuten das Auge, indem ihr stilles frommes Wesen das Gemuet zur Sammlung berief und eine sehr zarte Wirkung hervorbrachte.

Die Frauen waren zu ihm aufs Geruest gestiegen, und Ottilie bemerkte kaum, wie abgemessen leicht und bequem das alles zuging, als sich in ihr das durch fruehern Unterricht Empfangene mit einmal zu entwickeln schien, sie nach Farbe und Pinsel griff und auf erhaltene Anweisung ein faltenreiches Gewand mit soviel Reinlichkeit als Geschicklichkeit anlegte.

Charlotte, welche gern sah, wenn Ottilie sich auf irgendeine Weise beschaeftigte und zerstreute, liess die beiden gewaehren und ging, um ihren eigenen Gedanken nachzuhaengen, um ihre Betrachtungen und Sorgen, die sie niemanden mitteilen konnte, fuer sich durchzuarbeiten. Wenn gewoehnliche Menschen, durch gemeine Verlegenheiten des Tags zu einem leidenschaftlich aengstlichen Betragen aufgeregt, uns ein mitleidiges Laecheln abnoetigen, so betrachten wir dagegen mit Ehrfurcht ein Gemuet, in welchem die Saat eines grossen Schicksals ausgesaeet worden, das die Entwicklung dieser Empfaengnis abwarten muss und weder das Gute noch das Boese, weder das Glueckliche noch das Unglueckliche, was daraus entspringen soll, beschleunigen darf und kann.

Eduard hatte durch Charlottens Boten, den sie ihm in seine Einsamkeit gesendet, freundlich und teilnehmend, aber doch eher gefasst und ernst als zutraulich und liebevoll, geantwortet.

Kurz darauf war Eduard verschwunden, und seine Gattin konnte zu keiner Nachricht von ihm gelangen, bis sie endlich von ungefaehr seinen Namen in den Zeitungen fand, wo er unter denen, die sich bei einer bedeutenden Kriegsgelegenheit hervorgetan hatten, mit Auszeichnung genannt war.

Sie wusste nun, welchen Weg er genommen hatte, sie erfuhr, dass er grossen Gefahren entronnen war; allein sie ueberzeugte sich sogleich, dass er groessere aufsuchen wuerde, und sie konnte sich daraus nur allzusehr deuten, dass er in jedem Sinne schwerlich vom aeussersten wuerde zurueckzuhalten sein.

Sie trug diese Sorgen fuer sich allein immer in Gedanken und mochte sie hin und wider legen, wie sie wollte, so konnte sie doch bei keiner Ansicht Beruhigung finden.

Ottilie, von alledem nichts ahnend, hatte indessen zu jener Arbeit die groesste Neigung gefasst und von Charlotten gar leicht die Erlaubnis erhalten, regelmaessig darin fortfahren zu duerfen.

Nun ging es rasch weiter, und der azurne Himmel war bald mit wuerdigen Bewohnern bevoelkert.

Durch eine anhaltende uebung gewannen Ottilie und der Architekt bei den letzten Bildern mehr Freiheit; sie wurden zusehends besser.

Auch die Gesichter, welche dem Architekten zu malen allein ueberlassen war, zeigten nach und nach eine ganz besondere Eigenschaft; sie fingen saemtlich an, Ottilien zu gleichen.

Die Naehe des schoenen Kindes musste wohl in die Seele des jungen Mannes, der noch keine natuerliche oder kuenstlerische Physiognomie vorgefasst hatte, einen so lebhaften Eindruck machen, dass ihm nach und nach auf dem Wege vom Auge zur Hand nichts verlorenging, ja dass beide zuletzt ganz gleichstimmig arbeiteten.

Genug, eins der letzten Gesichtchen glueckte vollkommen, so dass es schien, als wenn Ottilie selbst aus den himmlischen Raeumen heruntersaehe.

An dem Gewoelbe war man fertig; die Waende hatte man sich vorgenommen einfach zu lassen und nur mit einer hellern braeunlichen Farbe zu ueberziehen; die zarten Saeulen und kuenstlichen bildhauerischen Zieraten sollten sich durch eine dunklere auszeichnen.

Aber wie in solchen Dingen immer eins zum andern fuehrt, so wurden noch Blumen und Fruchtgehaenge beschlossen, welche Himmel und Erde gleichsam zusammenknuepfen sollten.

Hier war nun Ottilie ganz in ihrem Felde.

Die Gaerten lieferten die schoensten Muster, und obschon die Kraenze sehr reich ausgestattet wurden, so kam man doch frueher, als man gedacht hatte, damit zustande.

Noch sah aber alles wueste und roh aus.

Die Gerueste waren durcheinander geschoben, die Bretter uebereinander geworfen, der ungleiche Fussboden durch mancherlei vergossene Farben noch mehr verunstaltet.

Der Architekt erbat sich nunmehr, dass die Frauenzimmer ihm acht Tage Zeit lassen und bis dahin die Kapelle nicht betreten moechten.

Endlich ersuchte er sie an einem schoenen Abende, sich beiderseits dahin zu verfuegen; doch wuenschte er, sie nicht begleiten zu duerfen, und empfahl sich sogleich.

"Was er uns auch fuer eine ueberraschung zugedacht haben mag", sagte Charlotte, als er weggegangen war, "so habe ich doch gegenwaertig keine Lust hinunterzugehen.

Du nimmst es wohl allein ueber dich und gibst mir Nachricht.

Gewiss hat er etwas Angenehmes zustande gebracht.

Ich werde es erst in deiner Beschreibung und dann gern in der Wirklichkeit geniessen".

Ottilie, die wohl wusste, dass Charlotte sich in manchen Stuecken in acht nahm, alle Gemuetsbewegungen vermied und besonders nicht ueberrascht sein wollte, begab sich sogleich allein auf den Weg und sah sich unwillkuerlich nach dem Architekten um, der aber nirgends erschien und sich mochte verborgen haben.

Sie trat in die Kirche, die sie offen fand.

Diese war schon frueher fertig, gereinigt und eingeweiht.

Sie trat zur Tuere der Kapelle, deren schwere, mit Erz beschlagene Last sich leicht vor ihr auftat und sie in einem bekannten Raume mit einem unerwarteten Anblick ueberraschte.

Durch das einzige hohe Fenster fiel ein ernstes, buntes Licht herein; denn es war von farbigen Glaesern anmutig zusammengesetzt.

Das Ganze erhielt dadurch einen fremden Ton und bereitete zu einer eigenen Stimmung.

Die Schoenheit des Gewoelbes und der Waende ward durch die Zierde des Fussbodens erhoeht, der aus besonders geformten, nach einem schoenen Muster gelegten, durch eine gegossene Gipsflaeche verbundenen Ziegelsteinen bestand.

Diese sowohl als die farbigen Scheiben hatte der Architekt heimlich bereiten lassen und konnte nun in kurzer Zeit alles zusammenfuegen. Auch fuer Ruheplaetze war gesorgt.

Es hatten sich unter jenen kirchlichen Altertuemern einige schoen geschnitzte Chorstuehle vorgefunden, die nun gar schicklich an den Waenden angebracht umherstanden.

Ottilie freute sich der bekannten, ihr als ein unbekanntes Ganze entgegentretenden Teile.

Sie stand, ging hin und wider, sah und besah; endlich setzte sie sich auf einen der Stuehle, und es schien ihr, indem sie auf—und umherblickte, als wenn sie waere und nicht waere, als wenn sie sich empfaende und nicht empfaende, als wenn dies alles vor ihr, sie vor sich selbst verschwinden sollte; und nur als die Sonne das bisher sehr lebhaft beschienene Fenster verliess, erwachte Ottilie vor sich selbst und eilte nach dem Schlosse.

Sie verbarg sich nicht, in welche sonderbare Epoche diese ueberraschung gefallen sei.

Es war der Abend vor Eduards Geburtstage.

Diesen hatte sie freilich ganz anders zu feiern gehofft.

Wie sollte nicht alles zu diesem Feste geschmueckt sein!

Aber nunmehr stand der ganze herbstliche Blumenreichtum ungepflueckt.

Diese Sonnenblumen wendeten noch immer ihr Angesicht gen Himmel, diese Astern sahen noch immer still bescheiden vor sich hin, und was allenfalls davon zu Kraenzen gebunden war, hatte zum Muster gedient, einen Ort auszuschmuecken, der, wenn er nicht bloss eine Kuenstlergrille bleiben, wenn er zu irgend etwas genutzt werden sollte, nur zu einer gemeinsamen Grabstaette geeignet schien.

Sie musste sich dabei der geraeuschvollen Geschaeftigkeit erinnern, mit welcher Eduard ihr Geburtsfest gefeiert; sie musste des neugerichteten Hauses gedenken, unter dessen Decke man sich soviel Freundliches versprach.

Ja das Feuerwerk rauschte ihr wieder vor Augen und Ohren, je einsamer sie war, desto mehr vor der Einbildungskraft; aber sie fuehlte sich auch nur um desto mehr allein.

Sie lehnte sich nicht mehr auf seinen Arm und hatte keine Hoffnung, an ihm jemals wieder eine Stuetze zu finden.

Eine Bemerkung des jungen Kuenstlers muss ich aufzeichnen: "wie am Handwerker so am bildenden Kuenstler kann man auf das deutlichste gewahr werden, dass der Mensch sich am wenigsten zuzueignen vermag, was ihm ganz eigens angehoert.

Seine Werke verlassen ihn so wie die Voegel das Nest, worin sie ausgebruetet worden".

Der Baukuenstler vor allen hat hierin das wunderlichste Schicksal.

Wie oft wendet er seinen ganzen Geist, seine ganze Neigung auf, um Raeume hervorzubringen, von denen er sich selbst ausschliessen muss! Die koeniglichen Saele sind ihm ihre Pracht schuldig, deren groesste Wirkung er nicht mitgeniesst.

In den Tempeln zieht er eine Grenze zwischen sich und dem Allerheiligsten; er darf die Stufen nicht mehr betreten, die er zur hrzerhebenden Feierlichkeit gruendete, so wie der Goldschmied die Monstranz nur von fern anbetet, deren Schmelz und Edelsteine er zusammengeordnet hat.

Dem Reichen uebergibt der Baumeister mit dem Schluessel des Palastes alle Bequemlichkeit und Behaebigkeit, ohne irgend etwas davon mitzugeniessen.

Muss sich nicht allgemach auf diese Weise die Kunst von dem Kuenstler entfernen, wenn das Werk wie ein ausgestattetes Kind nicht mehr auf den Vater zurueckwirkt?

Und wie sehr musste die Kunst sich selbst befoerdern, als sie fast allein mit dem oeffentlichen, mit dem, was allen und also auch dem Kuenstler gehoerte, sich zu beschaeftigen bestimmt war!

Eine Vorstellung der alten Voelker ist ernst und kann furchtbar scheinen.

Sie dachten sich ihre Vorfahren in grossen Hoehlen ringsumher auf Thronen sitzend in stummer Unterhaltung.

Dem Neuen, der hereintrat, wenn er wuerdig genug war, standen sie auf und neigten ihm einen Willkommen.

Gestern, als ich in der Kapelle sass und meinem geschnitzten Stuhle gegenueber noch mehrere umhergestellt sah, erschien mir jener Gedanke gar freundlich und anmutig.

"Warum kannst du nicht sitzenbleiben?" dachte ich bei mir selbst, "still und in dich gekehrt sitzenbleiben, lange, lange, bis endlich die Freunde kaemen, denen du aufstuendest und ihren Platz mit freundlichem Neigen anwiesest".

Die farbigen Scheiben machen den Tag zur ernsten Daemmerung, und jemand muesste eine ewige Lampe stiften, damit auch die Nacht nicht ganz finster bliebe.

Man mag sich stellen, wie man will, und man denkt sich immer sehend.

Ich glaube, der Mensch traeumt nur, damit er nicht aufhoere zu sehen.

Es koennte wohl sein, dass das innere Licht einmal aus uns heraustraete, sodass wir keines andern mehr beduerften.

Das Jahr klingt ab.

Der Wind geht ueber die Stoppeln und findet nichts mehr zu bewegen; nur die roten Beeren jener schlanken Baeume scheinen uns noch an etwas Munteres erinnern zu wollen, so wie uns der Taktschlag des Dreschers den Gedanken erweckt, dass in der abgesichelten aehre soviel Naehrendes und Lebendiges verborgen liegt.

Wie seltsam musste solchen Ereignissen, nach diesem aufgedrungenen Gefuehl von Vergaenglichkeit und Hinschwinden Ottilie durch die Nachricht getroffen werden, die ihr nicht laenger verborgen bleiben konnte, dass Eduard sich dem wechselnden Kriegsglueck ueberliefert habe.

Es entging ihr leider keine von den Betrachtungen, die sie dabei zu machen Ursache hatte.

Gluecklicherweise kann der Mensch nur einen gewissen Grad des Ungluecks fassen; was darueber hinausgeht, vernichtet ihn oder laesst ihn gleichgueltig.

Es gibt Lagen, in denen Furcht und Hoffnung eins werden, sich einander wechselseitig aufheben und in eine dunkle Fuehllosigkeit verlieren.

Wie koennten wir sonst die entfernten Geliebtesten in stuendlicher Gefahr wissen und dennoch unser taegliches, gewoehnliches Leben immer so forttreiben.

Es war daher, als wenn ein guter Geist fuer Ottilien gesorgt haette, indem er auf einmal in diese Stille, in der sie einsam und unbeschaeftigt zu versinken schien, ein wildes Heer hereinbrachte, das, indem es ihr von aussen genug zu schaffen gab und sie aus sich selbst fuehrte, zugleich in ihr das Gefuehl eigener Kraft anregte.

Charlottens Tochter, Luciane, war kaum aus der Pension in die grosse Welt getreten, hatte kaum in dem Hause ihrer Tante sich von zahlreicher Gesellschaft umgeben gesehen, als ihr Gefallenwollen wirklich Gefallen erregte und ein junger, sehr reicher Mann gar bald eine heftige Neigung empfand, sie zu besitzen.

Sein ansehnliches Vermoegen gab ihm ein Recht, das Beste jeder Art sein eigen zu nennen, und es schien ihm nichts weiter abzugehen als eine vollkommene Frau, um die ihn die Welt so wie um das uebrige zu beneiden haette.

Diese Familienangelegenheit war es, welche Charlotten bisher sehr viel zu tun gab, der sie ihre ganze ueberlegung, ihre Korrespondenz widmete, insofern diese nicht darauf gerichtet war, von Eduard naehere Nachricht zu erhalten; deswegen auch Ottilie mehr als sonst in der letzten Zeit allein blieb.

Diese wusste zwar um die Ankunft Lucianens; im Hause hatte sie deshalb die noetigsten Vorkehrungen getroffen; allein so nahe stellte man sich den Besuch nicht vor.

Man wollte vorher noch schreiben, abreden, naeher bestimmen, als der Sturm auf einmal ueber das Schloss und Ottilien hereinbrach.

Angefahren kamen nun Kammerjungfern und Bediente, Brancards mit Koffern und Kisten; man glaubte schon eine doppelte und dreifache Herrschaft im Hause zu haben; aber nun erschienen erst die Gaeste selbst: die Grosstante mit Lucianen und einigen Freundinnen, der Braeutigam gleichfalls nicht unbegleitet.

Da lag das Vorhaus voll Vachen, Mantelsaecke und anderer lederner Gehaeuse.

Mit Muehe sonderte man die vielen Kaestchen und Futterale auseinander.

Des Gepaeckes und Geschleppes war kein Ende.

Dazwischen regnete es mit Gewalt, woraus manche Unbequemlichkeit entstand.

Diesem ungestuemen Treiben begegnete Ottilie mit gleichmuetiger Taetigkeit, ja ihr heiteres Geschick erschien im schoensten Glanze; denn sie hatte in kurzer Zeit alles untergebracht und angeordnet.

Jedermann war logiert, jedermann nach seiner Art bequem, und glaubte gut bedient zu sein, weil er nicht gehindert war, sich selbst zu bedienen.

Nun haetten alle gern, nach einer hoechst beschwerlichen Reise, einige Ruhe genossen; der Braeutigam haette sich seiner Schwiegermutter gern genaehert, um ihr seine Liebe, seinen guten Willen zu beteuern; aber Luciane konnte nicht rasten.

Sie war nun einmal zu dem Gluecke gelangt, ein Pferd besteigen zu duerfen.

Der Braeutigam hatte schoene Pferde, und sogleich musste man aufsitzen.

Wetter und Wind, Regen und Sturm kamen nicht in Anschlag; es war, als wenn man nur lebte, um nass zu werden und sich wieder zu trocknen.

Fiel es ihr ein, zu Fusse auszugehen, so fragte sie nicht, was fuer Kleider sie anhatte und wie sie beschuht war: sie musste die Anlagen besichtigen, von denen sie vieles gehoert hatte.

Was nicht zu Pferde geschehen konnte, wurde zu Fuss durchrannt.

Bald hatte sie alles gesehen und abgeurteilt.

Bei der Schnelligkeit ihres Wesens war ihr nicht leicht zu widersprechen.

Die Gesellschaft hatte manches zu leiden, am meisten aber die Kammermaedchen, die mit Waschen und Buegeln, Auftrennen und Annaehen nicht fertig werden konnten.

Kaum hatte sie das Haus und die Gegend erschoepft, als sie sich verpflichtet fuehlte, rings in der Nachbarschaft Besuch abzulegen.

Weil man sehr schnell ritt und fuhr, so reichte die Nachbarschaft ziemlich fern umher.

Das Schloss ward mit Gegenbesuchen ueberschwemmt, und damit man sich ja nicht verfehlen moechte, wurden bald bestimmte Tage angesetzt. Indessen Charlotte mit der Tante und dem Geschaeftstraeger des Braeutigams die innern Verhaeltnisse festzustellen bemueht war und Ottilie mit ihren Untergebenen dafuer zu sorgen wusste, dass es an nichts bei so grossem Zugang fehlen moechte, da denn Jaeger und Gaertner, Fischer und Kraemer in Bewegung gesetzt wurden, zeigte sich Luciane immer wie ein brennender Kometenkern, der einen langen Schweif nach sich zieht.

Die gewoehnlichen Besuchsunterhaltungen duenkten ihr bald ganz unschmackhaft.

Kaum dass sie den aeltesten Personen eine Ruhe am Spieltisch goennte: wer noch einigermassen beweglich war—und wer liess sich nicht durch ihre reizenden Zudringlichkeiten in Bewegung setzen?

-, Musste herbei, wo nicht zum Tanze, doch zum lebhaften Pfand-, Straf—und Vexierspiel.

Und obgleich das alles, so wie hernach die Pfaenderloesung, auf sie selbst berechnet war, so ging doch von der andern Seite niemand, besonders kein Mann, er mochte von einer Art sein, von welcher er wollte, ganz leer aus; ja es glueckte ihr, einige aeltere Personen von Bedeutung ganz fuer sich zu gewinnen, indem sie ihre eben einfallenden Geburts—und Namenstage ausgeforscht hatte und besonders feierte.

Dabei kam ihr ein ganz eignes Geschick zustatten, sodass, indem alle sich beguenstigt sahen, jeder sich fuer den am meisten Beguenstigten hielt: eine Schwachheit, deren sich sogar der aelteste in der Gesellschaft am allermerklichsten schuldig machte.

Schien es bei ihr Plan zu sein, Maenner, die etwas vorstellten, Rang, Ansehen, Ruhm oder sonst etwas Bedeutendes fuer sich hatten, fuer sich zu gewinnen, Weisheit und Besonnenheit zuschanden zu machen und ihrem wilden, wunderlichen Wesen selbst bei der Bedaechtlichkeit Gust zu erwerben, so kam die Jugend doch dabei nicht zu kurz; jeder hatte sein Teil, seinen Tag, seine Stunde, in der sie ihn zu entzuecken und zu fesseln wusste.

So hatte sie den Architekten schon bald ins Auge gefasst, der jedoch aus seinem schwarzen, langlockigen Haar so unbefangen heraussah, so gerad und ruhig in der Entfernung stand, auf alle Fragen kurz und verstaendig antwortete, sich aber auf nichts weiter einzulassen geneigt schien, dass sie sich endlich einmal, halb unwillig halb listig, entschloss, ihn zum Helden des Tages zu machen und dadurch auch fuer ihren Hof zu gewinnen.

Nicht umsonst hatte sie so vieles Gepaeck mitgebracht, ja es war ihr noch manches gefolgt.

Sie hatte sich auf eine unendliche Abwechselung in Kleidern vorgesehen.

Wenn es ihr Vergnuegen machte, sich des Tages drei-, viermal umzuziehen und mit gewoehnlichen, in der Gesellschaft ueblichen Kleidern vom Morgen bis in die Nacht zu wechseln, so erschien sie dazwischen wohl auch einmal im wirklichen Maskenkleid, als Baeuerin und Fischerin, als Fee und Blumenmaedchen.

Sie verschmaehte nicht, sich als alte Frau zu verkleiden, um desto frischer ihr junges Gesicht aus der Kutte hervorzuzeigen; und wirklich verwirrte sie dadurch das Gegenwaertige und das Eingebildete dergestalt, dass man sich mit der Saalnixe verwandt und verschwaegert zu sein glaubte.

Wozu sie aber diese Verkleidungen hauptsaechlich benutzte, waren pantomimische Stellungen und Taenze, in denen sie verschiedene Charaktere auszudruecken gewandt war.

Ein Kavalier aus ihrem Gefolge hatte sich eingerichtet, auf dem Fluegel ihre Gebaerden mit der wenigen noetigen Musik zu begleiten; es bedurfte nur einer kurzen Abrede, und sie waren sogleich in Einstimmung.

Eines Tages, als man sie bei der Pause eines lebhaften Balls auf ihren eigenen heimlichen Antrieb gleichsam aus dem Stegereife zu einer solchen Darstellung aufgefordert hatte, schien sie verlegen und ueberrascht und liess sich wider ihre Gewohnheit lange bitten.

Sie zeigte sich unentschlossen, liess die Wahl, bat wie ein Imporvisator um einen Gegenstand, bis endlich jener Klavier spielende Gehuelfe, mit dem es abgeredet sein mochte, sich an den Fluegel setzte, einen Trauermarsch zu spielen anfing und sie aufforderte, jene Artemisia zu geben, welche sie so vortrefflich einstudiert habe.

Sie liess sich erbitten, und nach einer kurzen Abwesenheit erschien sie, bei den zaertlich traurigen Toenen des Totenmarsches, in Gestalt der koeniglichen Witwe, mit gemessenem Schritt, einen Aschenkrug vor sich hertragend.

Hinter ihr brachte man eine grosse schwarze Tafel und in einer goldenen Reissfeder ein wohlzugeschnitztes Stueck Kreide.

Einer ihrer Verehrer und Adjutanten, dem sie etwas ins Ohr sagte, ging sogleich den Architekten aufzufordern, zu noetigen und gewissermassen herbeizuschieben, dass er als Baumeister das Grab des mausolus zeichnen und also keineswegs einen Statisten, sondern einen ernstlich Mitspielenden vorstellen sollte.

Wie verlegen der Architekt auch aeusserlich erschien—denn er machte in seiner ganz schwarzen, knappen, modernen Zivilgestalt einen wunderlichen Kontrast mit jenen Floeren, Kreppen, Fransen, Schmelzen, Quasten und Kronen -, so fasste er sich doch gleich innerlich, allein um so wunderlicher war es anzusehen.

Mit dem groessten Ernst stellte er sich vor die grosse Tafel, die von ein paar Pagen gehalten wurde, und zeichnete mit viel Bedacht und Genauigkeit ein Grabmal, das zwar eher einem longobardischen als einem karischen Koenig waere gemaess gewesen, aber doch in so schoenen Verhaeltnissen, so ernst in seinen Teilen, so geistreich in seinen Zieraten, dass man es mit Vergnuegen entstehen sah und, als es fertig war, bewunderte.

Er hatte sich in diesem ganzen Zeitraum fast nicht gegen die Koenigin gewendet, sondern seinem Geschaeft alle Aufmerksamkeit gewidmet.

Endlich, als er sich vor ihr neigte und andeutete, dass er nun ihre Befehle vollzogen zu haben glaube, hielt sie ihm noch die Urne hin und bezeichnete das Verlangen, diese oben auf dem Gipfel abgebildet zu sehen.

Er tat es, obgleich ungern, weil sie zu dem Charakter seines uebrigen Entwurfs nicht passen wollte.

Was Lucianen betraf, so war sie endlich von ihrer Ungeduld erloest; denn ihre Absicht war keineswegs, eine gewissenhafte Zeichnung von ihm zu haben.

Haette er mit wenigen Strichen nur hinskizziert, was etwa einem Monument aehnlich gesehen, und sich die uebrige Zeit mit ihr abgegeben, so waere das wohl dem Endzweck und ihren Wuenschen gemaesser gewesen.

Bei seinem Benehmen dagegen kam sie in die groesste Verlegenheit; denn ob sie gleich in ihrem Schmerz, ihren Anordnungen und Andeutungen, ihrem Beifall ueber das nach und nach Entstehende ziemlich abzuwechseln suchte und sie ihn einigemal beinahe herumzerrte, um nur mit ihm in eine Art von Verhaeltnis zu kommen, so erwies er sich doch gar zu steif, dergestalt dass sie allzuoft ihre Zuflucht zur Urne nehmen, sie an ihr Herz druecken und zum Himmel schauen musste, ja zuletzt, weil sich doch dergleichen Situationen immer steigern, mehr einer Witwe von Ephesus als einer Koenigin von Karien aehnlich sah.

Die Vorstellung zog sich daher in die Lage; der Klavierspieler, der sonst Geduld genug hatte, wusste nicht mehr, in welchen Ton er ausweichen sollte.

Er dankte Gott, als er die Urne auf der Pyramide stehn sah, und fiel unwillkuerlich, als die Koenigin ihren Dank ausdruecken wollte, in ein lustiges Thema, wodurch die Vorstellung zwar ihren Charakter verlor, die Gesellschaft jedoch voellig aufgeheitert wurde, die sich denn solgeich teilte, der Dame fuer ihren vortrefflichen Ausdruck und dem Architekten fuer seine kuenstliche und zierliche Zeichnung eine freudige Bewunderung zu beweisen.

Besonders der Braeutigam unterhielt sich mit dem Achritekten.

"Es tut mir leid", sagte jener, "dass die Zeichnung so vergaenglich ist.

Sie erlauben wenigstens, dass ich sie mir auf mein Zimmer bringen lasse und mich mit Ihnen darueber unterhalte".

-"Wenn es Ihnen Vergnuegen macht", sagte der Architekt, "so kann ich Ihnen sorgfaeltige Zeichnungen von dergleichen Gebaeuden und Monumenten vorlegen, wovon dieses nur ein zufaelliger, fluechtiger Entwurf ist".

Ottilie stand nicht fern und trat zu den beiden.

"Versaeumen Sie nicht",sagte sie zum Architekten, "den Herrn Baron gelegentlich Ihre Sammlung sehen zu lassen; er ist ein Freund der Kunst und des Altertums; ich wuensche, dass Sie sich naeher kennenlernen".

Luciane kam herbeigefahren und fragte: "wovon ist die Rede?" "Von einer Sammlung Kunstwerke", antwortete der Baron, "welche dieser Herr besitzt und die er uns gelegentlich zeigen will".

"Er mag sie nur gleich bringen!" rief Luciane.

"Nicht wahr, Sie bringen sie gleich?" setzte sie schmeichelnd hinzu, indem sie ihn mit beiden Haenden freundlich anfasste.

"Es moechte jetzt der Zeitpunkt nicht sein", versetzte der Architekt.

"Was!" rief Luciane gebieterisch, "Sie wollen dem Befehl Ihrer Koenigin nicht gehorchen?" Dann legte sie sich auf ein neckisches Bitten.

"Sein Sie nicht eigensinnig!" sagte Ottilie halb leise.

Der Architekt entfernte sich mit einer Beugung; sie war weder bejahend noch verneinend.

Kaum war er fort, als Luciane sich mit einem Windspiel im Saale herumjagte.

"Ach!" rief sie aus, indem sie zufaellig an ihre Mutter stiess, "wie bin ich nicht ungluecklich!

Ich habe meinen Affen nicht mitgenommen; man hat es mir abgeraten; es ist aber nur die Bequemlichkeit meiner Leute, die mich um dieses Vergnuegen bringt.

Ich will ihn aber nachkommen lassen, es soll mir jemand hin, ihn zu holen.

Wenn ich nur sein Bildnis sehen koennte, so waere ich schon vergnuegt.

Ich will ihn aber gewiss auch malen lassen, und er soll mir nicht von der Seite kommen".

"Vielleicht kann ich dich troesten", versetzte Charlotte, "wenn ich dir aus der Bibliothek einen ganzen Band der wunderlichsten Affenbilder kommen lasse".

Luciane schrie vor Freuden laut auf, und der Folioband wurde gebracht.

Der Anblick dieser menschenaehnlichen und durch den Kuenstler noch mehr vermenschlichten abscheulichen Geschoepfe machte Lucianen die groesste Freude.

Ganz gluecklich aber fuehlte sie sich, bei einem jeden dieser Tiere die aehnlichkeit mit bekannten Menschen zu finden.

"Sieht der nicht aus wie die Onkel?" rief sie unbarmherzig, "der wie der Galanteriehaendler M-, der wie der Pfarrer S-, und dieser ist der Dings -, der—leibhaftig.

Im Grunde sind doch die Affen die eigentlichen Incroyables, und es ist unbegreiflich, wie man sie aus der besten Gesellschaft ausschliessen mag".

Sie sagte das in der besten Gesellschaft, doch niemand nahm es ihr uebel.

Man war so gewohnt, ihrer Anmut vieles zu erlauben, dass man zuletzt ihrer Unart alles erlaubte.

Ottilie unterhielt sich indessen mit dem Braeutigam.

Sie hoffte auf die Rueckkunft des Architekten, dessen ernstere, geschmackvollere Sammlungen die Gesellschaft von diesem Affenwesen befreien sollten.

In dieser Erwartung hatte sie sich mit dem Baron besprochen und ihn auf manches aufmerksam gemacht.

Allein der Architekt blieb aus, und als er endlich wiederkam, verlor er sich unter der Gesellschaft, ohne etwas mitzubringen und ohne zu tun, als ob von etwas die Frage gewesen waere.

Ottilie ward einen Augenblick—wie soll mans nennen?—Verdriesslich, ungehalten, betroffen; sie hatte ein gutes Wort an ihn gewendet, sie goennte dem Braeutigam eine vergnuegte Stunde nach seinem Sinne, der bei seiner unendlichen Liebe fuer Lucianen doch von ihrem Betragen zu leiden schien.

Die Affen mussten einer Kollation Platz machen.

Gesellige Spiele, ja sogar noch Taenze, zuletzt ein freudeloses Herumsitzen und Wiederaufjagen einer schon gesunkenen Lust dauerten diesmal, wie sonst auch, weit ueber Mitternacht.

Denn schon hatte sich Luciane gewoehnt, morgens nicht aus dem Bette und abends nicht ins Bette gelangen zu koennen.

Um diese Zeit finden sich in Ottiliens Tagebuch Ereignisse seltner angemerkt, dagegen haeufiger auf das Leben bezuegliche und vom Leben abgezogene Maximen und Sentenzen.

Weil aber die meisten derselben wohl nicht durch ihre eigene Reflexion entstanden sein koennen, so ist es wahrscheinlich, dass man ihr irgendeinen Heft mitgeteilt, aus dem sie sich, was ihr gemuetlich war, ausgeschrieben.

Manches Eigene von innigererem Bezug wird an dem roten Faden wohl zu erkennen sein.

Wir blicken so gern in die Zukunft, weil wir das Ungefaehre, was sich in ihr hin und her bewegt, durch stille Wuensche so gern zu unsern Gunsten heranleiten moechten.

Wir befinden uns nicht leicht in grosser Gesellschaft, ohne zu denken, der Zufall, der so viele zusammenbringt, solle uns auch unsre Freunde herbeifuehren.

Man mag noch so eingezogen leben, so wird man, ehe man sichs versieht, ein Schuldner oder ein Glaeubiger.

Begegnet uns jemand, der uns Dank schuldig ist, gleich faellt es uns ein.

Wie oft koennen wir jemand begegnen, dem wir Dank schuldig sind, ohne daran zu denken!

Sich mitzuteilen ist Natur; mitgeteiltes aufzunehmen, wie es gegeben wird, ist Bildung.

Niemand wuerde viel in Gesellschaften sprechen, wenn er sich bewusst waere, wie oft er die andern missversteht.

Man veraendert fremde Reden beim Wiederholen wohl nur darum so sehr, weil man sie nicht verstanden hat.

Wer vor andern lange allein spricht, ohne den Zuhoerern zu schmeicheln, erregt Widerwillen.

Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn.

Widerspruch und Scheichelei machen beide ein schlechtes Gespraech.

Die angenehmsten Gesellschaften sind die, in welchen eine heitere Ehrerbietung der Glieder gegeneinander obwaltet.

Durch nichts bezeichnen die Menschen mehr ihren Charakter als durch das, was sie laecherlich finden.

Das Laecherliche entspringt aus einem sittlichen Kontrast, der auf eine unschaedliche Weise fuer die Sinne in Verbindung gebracht wird. Der sinnliche Mensch lacht oft, wo nichts zu lachen ist.

Was ihn auch anregt, sein inneres Behagen kommt zum Vorschein.

Der Verstaendige findet fast alles laecherlich, der Vernuenftige fast nichts.

Einem bejahrten Manne verdachte man, dass er sich noch um junge Frauenzimmer bemuehte.

"Es ist das einzige Mittel", versetzte er, "sich zu verjuengen, und das will doch jedermann".

Man laesst sich seine Maengel vorhalten, man laesst sich strafen, man leidet manches um ihrer willen mit Geduld; aber ungeduldig wird man, wenn man sie ablegen soll.

Gewisse Maengel sind notwendig zum Dasein des einzelnen.

Es wuerde uns unangenehm sein, wenn alte Freunde gewisse Eigenheiten ablegten.

Man sagt: "es stirbt bald", wenn einer etwas gern seine Art und Weise tut.

Was fuer Maengel duerfen wir behalten, ja an uns kultivieren? Solche, die den andern eher schmeicheln als sie verletzen.

Die Leidenschaften sind Maengel oder Tugenden, nur gesteigerte.

Unsre Leidenschaften sind wahre Phoenixe.

Wie der alte verbrennt, steigt der neue sogleich wieder aus der Asche hervor.

Grosse Leidenschaften sind Krankheiten ohne Hoffnung.

Was sie heilen koennte, macht sie erst recht gefaehrlich.

Die Leidenschaft erhoeht und mildert sich durchs Bekennen.

In nichts waere die Mittelstrasse vielleicht wuenschenswerter als im Vertrauen und Verschweigen gegen die, die wir lieben.

So peitschte Luciane den Lebensrausch im geselligen Strudel immer vor sich her.

Ihr Hofstaat vermehrte sich taeglich, teils weil ihr Treiben so manchen erregte und anzog, teils weil sie sich andre durch Gefaelligkeit und Wohltun zu verbinden wusste.

Mittteilend war sie im hoechsten Grade; denn da ihr durch die Neigung der Tante und des Braeutigams soviel Schoenes und Koestliches auf einmal zugeflossen war, so schien sie nichts Eigenes zu besitzen und den Wert der Dinge nicht zu kennen, die sich um sie gehaeuft hatten.

So zauderte sie nicht einen Augenblick, einen kostbaren Schal abzunehmen und ihn einem Frauenzimmer umzuhaengen, das ihr gegen die uebrigen zu aermlich gekleidet schien, und sie tat das auf eine so neckische, geschickte Weise, dass niemand eine solche Gabe ablehnen konnte.

Einer von ihrem Hofstaat hatte stets eine Boerse und den Auftrag, in den Orten, wo sie einkehrten, sich nach den aeltesten und Kraenksten zu erkundigen und ihren Zustand wenigstens fuer den Augenblick zu erleichtern.

Dadurch entstand ihr in der ganzen Gegend ein Name von Vortrefflichkeit, der ihr doch auch manchmal unbequem ward, weil er allzuviel laestige Notleidende an sie heranzog.

Durch nichts aber vermehrte sie so sehr ihren Ruf als durch ein auffallendes, gutes, beharrliches Benehmen gegen einen ungluecklichen jungen Mann, der die Gesellschaft floh, weil er, uebrigens schoen und wohlgebildet, seine rechte Hand, obgleich ruehmlich, in der Schlacht verloren hatte.

Diese Verstuemmlung erregte ihm einen solchen Missmut, es war ihm so verdriesslich, dass jede neue Bekanntschaft sich auch immer mit seinem Unfall bekannt machen sollte, dass er sich lieber versteckte, sich dem Lesen und andern Studien ergab und ein fuer allemal mit der Gesellschaft nichts wollte zu schaffen haben.

Das Dasein dieses jungen Mannes blieb ihr nicht verborgen.

Er musste herbei, erst in kleiner Gesellschaft, dann in groesserer, dann in der groessten.

Sie benahm sich anmutiger gegen ihn als gegen irgendeinen andern; besonders wusste sie durch zudringliche Dienstfertigkeit ihm seinen Verlust wert zu machen, indem sie geschaeftig war, ihn zu ersetzen. Bei Tafel musste er neben ihr seinen Platz nehmen; sie schnitt ihm vor, sodass er nur die Gabel gebrauchen durfte.

Nahmen aeltere, Vornehmere ihm ihre Nachbarschaft weg, so erstreckte sie ihre Aufmerksamkeit ueber die ganze Tafel hin, und die eilenden Bedienten mussten das ersetzen, was ihm die Entfernung zu rauben drohte.

Zuletzt munterte sie ihn auf, mit der linken Hand zu schreiben; er musste alle seine Versuche an sie richten, und so stand sie, entfernt oder nah, immer mit ihm in Verhaeltnis.

Der junge Mann wusste nicht, wie ihm geworden war, und wirklich fing er von diesem Augenblick ein neues Leben an.

Vielleicht sollte man denken, ein solches Betragen waere dem Braeutigam missfaellig gewesen; allein es fand sich das Gegenteil.

Er rechnete ihr diese Bemuehungen zu grossem Verdienst an und war um so mehr darueber ganz ruhig, als er ihre fast uebertriebenen Eigenheiten kannte, wodurch sie alles, was im mindesten verfaenglich schien, von sich abzulehnen wusste.

Sie wollte mit jedermann nach Belieben umspringen, jeder war in Gefahr, von ihr einmal angestossen, gezerrt oder sonst geneckt zu werden; niemand aber durfte sich gegen sie ein Gleiches erlauben, niemand sie nach Willkuer beruehren, niemand auch nur im entferntesten Sinne eine Freiheit, die sie sich nahm, erwidern; und so hielt sie die andern in den strengsten Grenzen der Sittlichkeit gegen sich, die sie gegen andere jeden Augenblick zu uebertreten schien.

ueberhaupt haette man glauben koennen, es sei bei ihr Maxime gewesen, sich dem Lobe und dem Tadel, der Neigung und der Abneigung gleichmaessig auszusetzen.

Denn wenn sie die Menschen auf mancherlei Weise fuer sich zu gewinnen suchte, so verdarb sie es wieder mit ihnen gewoehnlich durch eine boese Zunge, die niemanden schonte.

So wurde kein Besuch in der Nachbarschaft abgelegt, nirgends sie und ihre Gesellschaft in Schloessern und Wohnungen freundlich aufgenommen, ohne dass sie bei der Rueckkehr auf das ausgelassenste merken liess, wie sie alle menschlichen Verhaeltnisse nur von der laecherlichen Seite zu nehmen geneigt sei.

Da waren drei Brueder, welche unter lauter Komplimenten, wer zuerst heiraten sollte, das Alter uebereilt hatte; hier eine kleine, junge Frau mit einem grossen, alten Manne; dort umgekehrt ein kleiner, munterer Mann und eine unbehuelfliche Riesin.

In dem einen Hause stolperte man bei jedem Schritt ueber ein Kind; das andre wollte ihr bei der groessten Gesellschaft nicht voll erscheinen, weil keine Kinder gegenwaertig waren.

Alte Gatten sollten sich nur schnell begraben lassen, damit doch wieder einmal jemand im Hause zum Lachen kaeme, da ihnen keine Noterben gegeben waren.

Junge Eheleute sollten reisen, weil das Haushalten sie gar nicht kleide.

Und wie mit den Personen, so machte sie es auch mit den Sachen, mit den Gebaeuden wie mit dem Haus—und Tischgeraete.

Besonders alle Wandverzierungen reizten sie zu lustigen Bemerkungen.

Von dem aeltesten Hautelisseteppich bis zu der neusten Papiertapete, vom ehrwuerdigsten Familienbilde bis zum frivolsten neuen Kupferstich, eins wie das andre musste leiden, eins wie das andre wurde durch ihre spoettischen Bemerkungen gleichsam aufgezehrt, so dass man sich haette verwundern sollen, wie fuenf Meilen umher irgend etwas nur noch existierte.

Eigentliche Bosheit war vielleicht nicht in diesem verneinenden Bestreben; ein selbstischer Mutwille mochte sie gewoehnlich anreizen; aber eine wahrhafte Bitterkeit hatte sich in ihrem Verhaeltnis zu Ottilien erzeugt.

Auf die ruhige, ununterbrochene Taetigkeit des lieben Kindes, die von jedermann bemerkt und gepriesen wurde, sah sie mit Verachtung herab; und als zur Sprache kam, wie sehr sich Ottilie der Gaerten und der Treibhaeuser annehme, spottete sie nicht allein darueber, indem sie uneingedenk des tiefen Winters, in dem man lebte, sich zu verwundern schien, dass man weder Blumen noch Fruechte gewahr werde, sondern sie liess auch von nun an so viel Gruenes, so viel Zweige und was nur irgend keimte, herbeiholen und zur taeglichen Zierde der Zimmer und des Tisches verschwenden, dass Ottilie und der Gaertner nicht wenig gekraenkt waren, ihre Hoffnungen fuer das naechste Jahr und vielleicht auf laengere Zeit zerstoert zu sehen.

Ebensowenig goennte sie Ottilien die Ruhe des haeuslichen Ganges, worin sie sich mit Bequemlichkeit fortbewegte.

Ottilie sollte mit auf die Lust—und Schlittenfahrten, sie sollte mit auf die Baelle, die in der Nachbarschaft veranstaltet wurden; sie sollte weder Schnee noch Kaelte noch gewaltsame Nachtstuerme scheuen, da ja soviel andre nicht davon stuerben.

Das zarte Kind litt nicht wenig darunter, aber Luciane gewann nichts dabei; denn obgleich Ottilie sehr einfach gekleidet ging, so war sie doch, oder so schien sie wenigstens immer den Maennern die Schoenste.

Ein sanftes Anziehen versammelte alle Maenner um sie her, sie mochte sich in den grossen Raeumen am ersten oder am letzten Platze befinden; ja der Braeutigam Lucianens selbst unterhielt sich oft mit ihr, und zwar um so mehr, las er in einer Angelegenheit, die ihn beschaeftigte, ihren Rat, ihre Mitwirkung verlangte.

Er hatte den Architekten naeher kennen lernen, bei Gelegenheit seiner Kunstsammlung viel ueber das Geschichtliche mit ihm gesprochen, in andern Faellen auch, besonders bei Betrachtung der Kapelle, sein Talent schaetzen gelernt.

Der Baron war jung, reich; er sammelte, er wollte bauen; seine Liebhaberei war lebhaft, seine Kenntnisse schwach; er glaubte in dem Architekten seinen Mann zu finden, mit dem er mehr als Einen Zweck zugleich erreichen koennte.

Er hatte seiner Braut von dieser Absicht gesprochen; sie lobte ihn darum und war hoechlich mit dem Vorschlag zufrieden, doch vielleicht mehr, um diesen jungen Mann Ottilien zu entziehen—denn sie glaubte so etwas von Neigung bei ihm zu bemerken -, als dass sie gedacht haette, sein Talent zu ihren Absichten zu benutzen.

Denn ob er gleich bei ihren extemporierten Festen sich sehr taetig erwiesen und manche Ressourcen bei dieser und jener Anstalt dargeboten, so glaubte sie es doch immer selbst besser zu verstehen; und da ihre Erfindungen gewoehnlich gemein waren, so reichte, um sie auszufuehren, die Geschicklichkeit eines gewandten Kammerdieners ebensogut hin als die des vorzueglichsten Kuenstlers.

Weiter als zu einem Altar, worauf geopfert ward, und zu einer Bekraenzung, es mochte nun ein gipsernes oder ein lebendes Haupt sein, konnte ihre Einbildungskraft sich nicht versteigen, wenn sie irgend jemand zum Geburts—und Ehrentage ein festliches Kompliment zu machen gedachte.

Ottilie konnte dem Braeutigam, der sich nach dem Verhaeltnis des Architekten zum Hause erkundigte, die beste Auskunft geben.

Sie wusste, dass Charlotte sich schon frueher nach einer Stelle fuer ihn umgetan hatte; denn waere die Gesellschaft nicht gekommen, so haette sich der junge Mann gleich nach Vollendung der Kapelle entfernt, weil alle Bauten den Winter ueber stillstehn sollten und mussten; und es war daher sehr erwuenscht, wenn der geschickte Kuenstler durch einen neuen Goenner wieder genutzt und befoerdert wurde.

Das persoenliche Verhaeltnis Ottiliens zum Architekten war ganz rein und unbefangen.

Seine angenehme und taetige Gegenwart hatte sie wie die Naehe eines aeltern Bruders unterhalten und erfreut.

Ihre Empfindungen fuer ihn blieben auf der ruhigen, leidenschaftslosen Oberflaeche der Blutsverwandtschaft; denn in ihrem Herzen war kein Raum mehr; es war von der Liebe zu Eduard ganz gedraengt ausgefuellt, und nur die Gottheit, die alles durchdringt, konnte dieses Herz zugleich mit ihm besitzen.

Indessen je tiefer der Winter sich senkte, je wilderes Wetter, je unzugaenglicher die Wege, desto anziehender schien es, in so guter Gesellschaft die abnehmenden Tage zuzubringen.

Nach kurzen Ebben ueberflutete die Menge von Zeit zu Zeit das Haus.

Offiziere von entfernteren Garnisonen, die gebildeten zu ihrem grossen Vorteil, die roheren zur Unbequemlichkeit der Gesellschaft, zogen sich herbei; am Zivilstande fehlte es auch nicht, und ganz unerwartet kamen eines Tages der Graf und die Baronesse zusammen angefahren.

Ihre Gegenwart schien erst einen wahren Hof zu bilden.

Die Maenner von Stand und Sitten umgaben den Grafen, und die Frauen liessen der Baronesse Gerechtigkeit widerfahren.

Man verwunderte sich nicht lange, sie beide zusammen und so heiter zu sehen; denn man vernahm, des Grafen Gemahlin sei gestorben, und eine neue Verbindung werde geschlossen sein, sobald es die Schicklichkeit nur erlaube.

Ottilie erinnerte sich jenes ersten Besuchs, jedes Worts, was ueber Ehestand und Scheidung, ueber Verbindung und und Trennung, ueber Hoffnung, Erwartung, Entbehren und Entsagen gesprochen ward.

Beide Personen, damals noch ganz ohne Aussichten, standen nun vor ihr, dem gehofften Glueck so nahe, und ein unwillkuerlicher Seufzer drang aus ihrem Herzen.

Luciane hoerte kaum, dass der Graf ein Liebhaber von Musik sei, so wusste sie ein Konzert zu veranstalten; sie wollte sich dabei mit Gesang zur Gitarre hoeren lassen.

Es geschah.

Das Instrument spielte sie nicht ungeschickt, ihre Stimme war angenehm; was aber die Worte betraf, so verstand man sie so wenig, als wenn sonst eine deutsche Schoene zur Gitarre singt.

Indes versicherte jedermann, sie habe mit viel Ausdruck gesungen, und sie konnte mit dem lauten Beifall zufrieden sein.

Nur ein wunderliches Unglueck begegnete bei dieser Gelegenheit. In der Gesellschaft befand sich ein Dichter, den sie auch besonders zu verbinden hoffte, weil sie einige Lieder von ihm an sie gerichtet wuenschte, und deshalb diesen Abend meist nur von seinen Liedern vortrug.

Er war ueberhaupt, wie alle, hoeflich gegen sie, aber sie hatte mehr erwartet.

Sie legte es ihm einigemal nahe, konnte aber weiter nichts von ihm vernehmen, bis sie endlich aus Ungeduld einen ihrer Hofleute an ihn schickte und sondieren liess, ob er denn nicht entzueckt gewesen sei, seine vortrefflichen Gedichte so vortrefflich vortragen zu hoeren.

"Meine Gedichte?" versetzte dieser mit Erstaunen.

"Verzeihen Sie, mein Herr", fuegte er hinzu; "ich habe nichts als Vokale gehoert und die nicht einmal alle.

Unterdessen ist es meine Schuldigkeit, mich fuer eine so liebenswuerdige Intention dankbar zu erweisen".

Der Hofmann schwieg und verschwieg.

Der andre suchte sich durch einige wohltoenende Komplimente aus der Sache zu ziehen.

Sie liess ihre Absicht nicht undeutlich merken, auch etwas eigens fuer sie Gedichtetes zu besitzen.

Wenn es nicht allzu unfreundlich gewesen waere, so haette er ihr das Alphabet ueberreichen koennen, um sich daraus ein beliebiges Lobgedicht zu irgendeiner vorkommenden Melodie selbst einzubilden.

Doch sollte sie nicht ohne Kraenkung aus dieser Begebenheit scheiden.

Kurze Zeit darauf erfuhr sie, er habe noch selbigen Abend einer von Ottiliens Lieblingsmelodien ein allerliebstes Gedicht untergelegt, das noch mehr als verbindlich sei.

Luciane, wie alle Menschen ihrer Art, die immer durcheinander mischen, was ihnen vorteilhaft und was ihnen nachteilig ist, wollte nun ihr Glueck im Rezitieren versuchen.

Ihr Gedaechtnis war gut, aber, wenn man aufrichtig reden sollte, ihr Vortrag geistlos und heftig, ohne leidenschaftlich zu sein.

Sie rezitierte Balladen, Erzaehlungen und was sonst in Deklamatorien vorzukommen pflegt.

Dabei hatte sie die unglueckliche Gewohnheit angenommen, das, was sie vortrug, mit Gesten zu begleiten, wodurch man das, was eigentlich episch und lyrisch ist, auf eine unangenehme Weise mit dem Dramatischen mehr verwirrt als verbindet.

Der Graf, ein einsichtsvoller Mann, der gar bald die Gesellschaft, ihre Neigungen, Leidenschaften und Unterhaltungen uebersah, brachte Lucianen gluecklicher—oder ungluecklicherweise auf eine neue Art von Darstellung, die ihrer Persoenlichkeit sehr gemaess war.

"Ich finde", sagte er, "hier so manche wohlgestaltete Personen, denen es gewiss nicht fehlt, malerische Bewegungen und Stellungen nachzuahmen.

Sollten sie es noch nicht versucht haben, wirkliche, bekannte Gemaelde vorzustellen?

Eine solche Nachbildung, wenn sie auch manche muehsame Anordnung erfordert, bringt dagegen auch einen unglaublichen Reiz hervor".

Schnell ward Luciane gewahr, dass sie hier ganz in ihrem Fach sein wuerde.

Ihr schoener Wuchs, ihre volle Gestalt, ihr regelmaessiges und doch bedeutendes Gesicht, ihre lichtbraunen Haarflechten, ihr schlanker Hals, alles war schon wie aufs Gemaelde berechnet; und haette sie nun gar gewusst, dass sie schoener aussah, wenn sie still stand, als wenn sie sich bewegte, indem ihr im letzten Falle manchmal etwas stoerendes Ungrazioeses entschluepfte, so haette sie sich mit noch mehrerem Eifer dieser natuerlichen Bildnerei ergeben.

Man suchte nun Kupferstiche nach beruehmten Gemaelden, man waehlte zuerst den Belisar nach van Dyck.

Ein grosser und wohlgebauter Mann von gewissen Jahren sollte den sitzenden blinden General, der Architekt den vor ihm teilnehmend traurig stehenden Krieger nachbilden, dem er wirklich etwas aehnlich sah.

Luciane hatte sich, halb bescheiden, das junge Weibchen im Hintergrunde gewaehlt, das reichliche Almosen aus einem Beutel in die flache Hand zaehlt, indes eine Alte sie abzumahnen und ihr vorzustellen scheint, dass sie zuviel tue.

Eine andre, ihm wirklich Almosen reichende Frauensperson war nicht vergessen.

Mit diesen und andern Bildern beschaeftigte man sich sehr ernstlich.

Der Graf gab dem Architekten ueber die Art der Einrichtung einige Winke, der sogleich ein Theater dazu aufstellte und wegen der Beleuchtung die noetige Sorge trug.

Man war schon tief in die Anstalten verwickelt, als man erst bemerkte, dass ein solches Unternehmen einen ansehnlichen Aufwand verlangte und dass auf dem Lande mitten im Winter gar manches Erfordernis abging.

Deshalb liess, damit ja nichts stocken moege.

Luciane beinah ihre saemtliche Garderobe zerschneiden, um die verschiedenen Kostueme zu liefern, die jene Kuenstler willkuerlich genug angegeben hatten.

Der Abend kam herbei, und die Darstellung wurde vor einer grossen Gesellschaft und zu allgemeinem Beifall ausgefuehrt.

Eine bedeutende Musik spannte die Erwartung.

Jener Belisar eroeffnete die Buehne.

Die Gestalten waren so passend, die Farben so gluecklich ausgeteilt, die Beleuchtung so kunstreich, dass man fuerwahr in einer andern Welt zu sein glaubte, nur dass die Gegenwart des Wirklichen statt des Scheins eine Art von aengstlicher Empfindung hervorbrachte.

Der Vorhang fiel und ward auf Verlangen mehr als einmal wieder aufgezogen.

Ein musikalisches Zwischenspiel unterhielt die Gesellschaft, die man durch ein Bild hoeherer Art ueberraschen wollte.

Es war die bekannte Vorstellung von Poussin: Ahasverus und Esther.

Diesmal hatte sich Luciane besser bedacht.

Sie entwickelte in der ohnmaechtig hingesunkenen Koenigin alle ihre Reize und hatte sich klugerweise zu den umgebenden, unterstuetzenden Maedchen lauter huebsche, wohlgebildete Figuren ausgesucht, worunter sich jedoch keine mit ihr auch nur im mindesten messen konnte.

Ottilie blieb von diesem Bilde wie von den uebrigen ausgeschlossen.

Auf den goldnen Thron hatten sie, um den Zeus gleichen Koenig vorzustellen, den ruestigsten und schoensten Mann der Gesellschaft gewaehlt, sodass dieses Bild wirklich eine unvergleichliche Vollkommenheit gewann.

Als drittes hatte man die sogenannte "vaeterliche Ermahnung" von Terburg gewaehlt, und wer kennt nicht den herrlichen Kupferstich unseres Wille von diesem Gemaelde!

Einen Fuss ueber den andern geschlagen, sitzt ein edler, ritterlicher Vater und scheint seiner vor ihm stehenden Tochter ins Gewissen zu reden.

Diese, eine herrliche Gestalt im faltenreichen, weissen Atlaskleide, wird zwar nur von hinten gesehen, aber ihr ganzes Wesen scheint anzudeuten, dass sie sich zusammennimmt.

Dass jedoch die Ermahnung nicht heftig und beschaemend sei, sieht man aus der Miene und Gebaerde des Vaters; und was die Mutter betrifft, so scheint diese eine kleine Verlegenheit zu verbergen, indem sie in ein Glas Wein blickt, das sie eben auszuschluerfen im Begriff ist.

bei dieser Gelegenheit nun sollte Luciane in ihrem hoechsten Glanze erscheinen.

Ihre Zoepfe, die Form ihres Kopfes, Hals und Nacken waren ueber alle Begriffe schoen, und die Taille, von der bei den modernen antikisierenden Bekleidungen der Frauenzimmer wenig sichtbar wird, hoechst zierlich, schlank und leicht, zeigte sich an ihr in dem aelteren Kostuem aeusserst vorteilhaft; und der Architekt hatte gesorgt, die reichen Falten des weissen Atlasses mit der kuenstlichsten Natur zu legen, sodass ganz ohne Frage diese lebendige Nachbildung weit ueber jenes Originalbildnis hinausreichte und ein allgemeines Entzuecken erregte.

Man konnte mit dem Wiederverlangen nicht endigen, und der ganz natuerliche Wunsch, einem so schoenen Wesen, das man genugsam von der Rueckseite gesehen, auch ins Angesicht zu schauen, nahm dergestalt ueberhand, dass ein lustiger, ungeduldiger Vogel die Worte, die man manchmal an das Ende einer Seite zu schreiben pflegt: "tournez s’il vous plait", laut ausrief und eine allgemeine Beistimmung erregte.

Die Darstellenden aber kannten ihren Vorteil zu gut und hatten den Sinn dieser Kunststuecke zu wohl gefasst, als dass sie dem allgemeinen Ruf haetten nachgeben sollen.

Die beschaemt scheinende Tochter blieb ruhig stehen, ohne den Zuschauern den Ausdruck ihres Angesichts zu goennen; der Vater blieb in seiner ermahnenden Stellung sitzen, und die Mutter brachte Nase und Augen nicht aus dem durchsichtigen Glase, worin sich, ob sie gleich zu trinken schien, der Wein nicht verminderte.—Was sollen wir noch viel von kleinen Nachstuecken sagen, wozu man niederlaendische Wirtshaus—und Jahrmarktsszenen gewaehlt hatte!

Der Graf und die Baronesse reisten ab und versprachen, in den ersten gluecklichen Wochen ihrer nahen Verbindung wiederzukehren, und Charlotte hoffte nunmehr, nach zwei muehsam ueberstandenen Monaten, die uebrige Gesellschaft gleichfalls loszuwerden.

Sie war des Gluecks ihrer Tochter gewiss, wenn bei dieser der erste Braut—und Jugendtaumel sich wuerde gelegt haben; denn der Braeutigam hielt sich fuer den gluecklichsten Menschen von der Welt.

Bei grossem Vermoegen und gemaessigter Sinnesart schien er auf eine wunderbare Weise von dem Vorzuge geschmeichelt, ein Frauenzimmer zu besitzen, das der ganzen Welt gefallen musste.

Er hatte einen so ganz eigenen Sinn, alles auf sie und erst durch sie auf sich zu beziehen, dass es ihm eine unangenehme Empfindung machte, wenn sich nicht gleich ein Neuankommender mit aller Aufmerksamkeit auf sie richtete und mit ihm, wie es wegen seiner guten Eigenschaften besonders von aelteren Personen oft geschah, eine naehere Verbindung suchte, ohne sich sonderlich um sie zu kuemmern.

Wegen des Architekten kam es bald zur Richtigkeit.

Aufs Neujahr sollte ihm dieser folgen und das Karneval mit ihm in der Stadt zubringen, wo Luciane sich von der Wiederholung der so schoen eingerichteten Gemaelde sowie von hundert andern Dingen die groesste Glueckseligkeit versprach, um so mehr, als Tante und Braeutigam jeden Aufwand fuer gering zu achten schienen, der zu ihrem Vergnuegen erfordert wurde.

Nun sollte man scheiden, aber das konnte nicht auf eine gewoehnliche Weise geschehen.

Man scherzte einmal ziemlich laut, dass Charlottens Wintervorraete nun bald aufgezehrt seien, als der Ehrenmann, der den Belisar vorgestellt hatte und freilich reich genug war, von Lucianens Vorzuegen hingerissen, denen er nun schon so lange huldigte, unbedachtsam ausrief: "so lassen Sie es uns auf politische Art halten!

Kommen Sie nun und zehren mich auch auf!

Und so geht es dann weiter in der Runde herum".

Gesagt, getan: Luciane schlug ein.

Den andern Tag war gepackt, und der Schwarm warf sich auf ein anderes Besitztum.

Dort hatte man auch Raum genug, aber weniger Bequemlichkeit und Einrichtung.

Daraus entstand manches Unschickliche, das erst Lucianen recht gluecklich machte.

Das Leben wurde immer wuester und wilder.

Treibjagen im tiefsten Schnee, und was man sonst nur Unbequemes auffinden konnte, wurde veranstaltet.

Frauen so wenig als Maenner durften sich ausschliessen, und so zog man jagend und reitend, schlittenfahrend und laermend von einem Gute zum andern, bis man sich endlich der Residenz naeherte; da denn die Nachrichten und Erzaehlungen, wie man sich bei Hofe und in der Stadt vergnuege, der Einbildungskraft eine andere Wendung gaben und Lucianen mit ihrer saemtlichen Begleitung, indem die Tante schon vorausgegangen war, unaufhaltsam in einen andern Lebenskreis hineinzogen.

Man nimmt in der Welt jeden, wofuer er sich gibt; aber er muss sich auch fuer etwas geben.

Man ertraegt die Unbequemen lieber, als man die Unbedeutenden duldet.

Man kann der Gesellschaft alles aufdringen, nur nicht, was eine Folge hat.

Wir lernen die Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns kommen; wir muessen zu ihnen gehen, um zu erfahren, wie es mit ihnen steht.

Ich finde es beinahe natuerlich, dass wir an Besuchenden mancherlei auszusetzen haben, dass wir sogleich, wenn sie weg sind, ueber sie nicht zum liebevollsten urteilen; denn wir haben sozusagen ein Recht, sie nach unserm Massstabe zu messen.

Selbst verstaendige und billige Menschen enthalten sich in solchen Faellen kaum einer scharfen Zensur.

Wenn man dagegen bei andern gewesen ist und hat sie mit ihren Umgebungen, Gewohnheiten, in ihren notwendigen, unausweichlichen Zustaenden gesehen, wie sie um sich wirken oder wie sie sich fuegen, so gehoert schon Unverstand und boeser Wille dazu, um das laecherlich zu finden, was uns in mehr als einem Sinne ehrwuerdig scheinen muesste.

Durch das, was wir Betragen und gute Sitten mennen, soll das erreicht werden, was ausserdem nur durch Gewalt oder auch nicht einmal durch Gewalt zu erreichen ist.

Der Umgang mit Frauen ist das Element guter Sitten.

Wie kann der Charakter, die Eigentuemlichkeit des Menschen, mit der Lebensart bestehen?

Das Eigentuemliche muesste durch die Lebensart erst recht hervorgehoben werden.

Das Bedeutende will jedermann, nur soll es nicht unbequem sein.

Die groessten Vorteile im Leben ueberhaupt wie in der Gesellschaft hat ein gebildeter Soldat.

Rohe Kriegsleute gehen wenigstens nicht aus ihrem Charakter, und weil doch meist hinter der Staerke eine Gutmuetigkeit verborgen liegt, so ist im Notfall auch mit ihnen auszukommen.

Niemand ist laestiger als ein taeppischer Mensch vom Zivilstande.

Von ihm koennte man die Feinheit fordern, da er sich mit nichts Rohem zu beschaeftigen hat.

Wenn wir mit Menschen leben, die ein zartes Gefuehl fuer das Schickliche haben, so wird es uns angst um ihretwillen, wenn etwas Ungeschicktes begegnet.

So fuehle ich immer fuer und mit Charlotten, wenn jemand mit dem Stuhle schaukelt, weil sie das in den Tod nicht leiden kann.

Es kaeme niemand mit der Brille auf der Nase in ein vertrauliches Gemach, wenn er wuesste, dass uns Frauen sogleich die Lust vergeht, ihn anzusehen und uns mit ihm zu unterhalten.

Zutraulichkeit an der Stelle der Ehrfurcht ist immer laecherlich.

Es wuerde niemand den Hut ablegen, nachdem er kaum das Kompliment gemacht hat, wenn er wuesste, wie komisch das aussieht.

Es gibt kein aeusseres Zeichen der Hoeflichkeit, das nicht einen tiefen sittlichen Grund haette.

Die rechte Erziehung waere, welche dieses Zeichen und den Grund zugleich ueberlieferte.

Das Betragen ist ein Spiegel, in welchem jeder sein Bild zeigt.

Es gibt eine Hoeflichkeit des Herzens; sie ist der Liebe verwandt.

Aus ihr entspringt die bequemste Hoeflichkeit des aeussern Betragens.

Freiwillige Abhaenglichkeit ist der schoenste Zustand, und wie waere der moeglich ohne Liebe.

Wir sind nie entfernter von unsern Wuenschen, als wenn wir uns einbilden, das Gewuenschte zu besitzen.

Niemand ist mehr Sklave, als der sich fuer frei haelt, ohne es zu sein.

Es darf sich einer nur fuer frei erklaeren, so fuehlt er sich den Augenblick als bedingt.

Wagt er es, sich fuer bedingt zu erklaeren, so fuehlt er sich frei.

Gegen grosse Vorzuege eines andern gibt es kein Rettungsmittel als die Liebe.

Es ist was Schreckliches um einen vorzueglichen Mann, auf den sich die Dummen was zugute tun.

Es gibt, sagt man, fuer den Kammerdiener keinen Helden.

Das kommt aber bloss daher, weil der Held nur vom Helden anerkannt werden kann.

Der Kammerdiener wird aber wahrscheinlich seinesgleichen zu schaetzen wissen.

Es gibt keinen groessern Trost fuer die Mittelmaessigkeit, als dass das Genie nicht unsterblich sei.

Die groessten Menschen haengen immer mit ihrem Jahrhundert durch eine Schwachheit zusammen.

Man haelt die Menschen gewoehnlich fuer gefaehrlicher, als sie sind.

Toren und gescheite Leute sind gleich unschaedlich.

Nur die Halbnarren und Halbweisen, das sind die Gefaehrlichsten.

Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknuepft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.

Selbst im Augenblick des hoechsten Gluecks und der hoechsten Not beduerfen wir des Kuenstlers.

Die Kunst beschaeftigt sich mit dem Schweren und Guten.

Das Schwierige leicht behandelt zu sehen, gibt uns das Anschauen des Unmoeglichen.

Die Schwierigkeiten wachsen, je naeher man dem Ziele kommt.

Saeen ist nicht so beschwerlich als ernten.

Die grosse Unruhe, welche Charlotten durch diesen Besuch erwuchs, ward ihr dadurch verguetet, dass sie ihre Tochter voellig begreifen lernte, worin ihr die Bekanntschaft mit der Welt sehr zu Huelfe kam.

Es war nicht zum erstenmal, dass ihr ein so seltsamer Charakter begegnete, ob er ihr gleich noch niemals auf dieser Hoehe erschien.

Und doch hatte sie aus der Erfahrung, dass solche Personen, durchs Leben, durch mancherlei Ereignisse, durch elterliche Verhaeltnisse gebildet, eine sehr angenehme und liebenswuerdige Reife erlangen koennen, indem die Selbstigkeit gemildert wird und die schwaermende Taetigkeit eine entschiedene Richtung erhaelt.

Charlotte liess als Mutter sich um desto eher eine fuer andere vielleicht unangenehme Erscheinung gefallen, als es Eltern wohl geziemt, da zu hoffen, wo Fremde nur zu geniessen wuenschen oder wenigstens nicht belaestigt sein wollen.

Auf eine eigne und unerwartete Weise jedoch sollte Charlotte nach ihrer Tochter Abreise getroffen werden, indem diese nicht sowohl durch das Tadelnswerte in ihrem Betragen als durch das, was man daran lobenswuerdig haette finden koennen, eine ueble Nachrede hinter sich gelassen hatte.

Luciane schien sichs zum Gesetz gemacht zu haben, nicht allein mit den Froehlichen froehlich, sondern auch mit den Traurigen traurig zu sein und, um den Geist des Widerspruchs recht zu ueben, manchmal die Froehlichen verdriesslich und die Traurigen heiter zu machen.

In allen Familien, wo sie hinkam, erkundigte sie sich nach den Kranken und Schwachen, die nicht in Gesellschaft erscheinen konnten.

Sie besuchte sie auf ihren Zimmern, machte den Arzt und drang einem jeden aus ihrer Reiseapotheke, die sie bestaendig im Wagen mit sich fuehrte, energische Mittel auf; da denn eine solche Kur, wie sich vermuten laesst, gelang oder misslang, wie es der Zufall herbeifuehrte.

In dieser Art von Wohltaetigkeit war sie ganz grausam und liess sich gar nicht einreden, weil sie fest ueberzeugt war, dass sie vortrefflich handle.

Allein es missriet ihr auch ein Versuch von der sittlichen Seite, und dieser war es, der Charlotten viel zu schaffen machte, weil er Folgen hatte und jedermann darueber sprach.

Erst nach Lucianens Abreise hoerte sie davon; Ottilie, die gerade jene Partie mitgemacht hatte, musste ihr umstaendlich davon Rechenschaft geben.

Eine der Toechter eines angesehenen Hauses hatte das Unglueck gehabt, an dem Tode eines ihrer juengeren Geschwister schuld zu sein, und sich darueber nicht beruhigen noch wiederfinden koennen.

Sie lebte auf ihrem Zimmer beschaeftigt und still und ertrug selbst den Anblick der Ihrigen nur, wenn sie einzeln kamen; denn sie argwohnte sogleich, wenn mehrere beisammen waren, dass man untereinander ueber sie und ihren Zustand reflektiere.

Gegen jedes allein aeusserte sie sich vernuenftig und unterhielt sich stundenlang mit ihm.

Luciane hatte davon gehoert und sich sogleich im stillen vorgenommen, wenn sie in das Haus kaeme, gleichsam ein Wunder zu tun und das Frauenzimmer der Gesellschaft wiederzugeben.

Sie betrug sich dabei vorsichtiger als sonst, wusste sich allein bei der Seelenkranken einzufuehren und, soviel man merken konnte, durch Musik ihr Vertrauen zu gewinnen.

Nur zuletzt versah sie es; denn eben weil sie Aufsehn erregen wollte, so brachte sie das schoene, blasse Kind, das sie genug vorbereitet waehnte, eines Abends ploetzlich in die bunte, glaenzende Gesellschaft; und vielleicht waere auch das noch gelungen, wenn nicht die Sozietaet selbst aus Neugierde und Apprehension sich ungeschickt benommen, sich um die Kranke versammelt, sie wieder gemieden, sie durch Fluestern, Koepfezusammenstecken irregemacht und aufgeregt haette.

Die zart Empfindende ertrug das nicht.

Sie entwich unter fuerchterlichem Schreien, das gleichsam ein Entsetzen vor einem eindringenden Umgeheuren auszudruecken schien.

Erschreckt fuhr die Gesellschaft nach allen Seiten auseinander, und Ottilie war unter denen, welche die voellig Ohnmaechtige wieder auf ihr Zimmer begleiteten.

Indessen hatte Luciane eine starke Strafrede nach ihrer Weise an die Gesellschaft gehalten, ohne im mindesten daran zu denken, dass sie allein alle Schuld habe, und ohne sich durch dieses und andres Misslingen von ihrem Tun und Treiben abhalten zu lassen.

Der Zustand der Kranken war seit jener Zeit bedenklicher geworden, ja das uebel hatte sich so gesteigert, dass die Eltern das arme Kind nicht im Hause behalten konnten, sondern einer oeffentlichen Anstalt ueberantworten mussten.

Charlotten blieb nichts uebrig, als durch ein besonder zartes Benehmen gegen jene Familie den von ihrer Tochter verursachten Schmerz einigermassen zu lindern.

Auf Ottilien hatte die Sache einen tiefen Eindruck gemacht; sie bedauerte das arme Maedchen um so mehr, als sie ueberzeugt war, wie sie auch gegen Charlotten nicht leugnete, dass bei einer konsequenten Behandlung die Kranke gewiss herzustellen gewesen waere.

So kam auch, weil man sich gewoehnlich vom vergangenen Unangenehmen mehr als vom Angenehmen unterhaelt, ein kleines Missverstaendnis zur Sprache, das Ottilien an dem Architekten irregemacht hatte, als er jenen Abend seine Sammlung nicht vorzeigen wollte, ob sie ihn gleich so freundlich darum ersuchte.

Es war ihr dieses abschlaegige Betragen immer in der Seele geblieben, und sie wusste selbst nicht warum.

Ihre Empfindungen waren sehr richtig; denn was ein Maedchen wie Ottilie verlangen kann, sollte ein Juengling wie der Architekt nicht versagen.

Dieser brachte jedoch auf ihre gelegentlichen leisen Vorwuerfe ziemlich gueltige Entschuldigungen zur Sprache.

"Wenn Sie wuessten", sagte er, "wie roh selbst gebildete Menschen sich gegen die schaetzbarsten Kunstwerke verhalten, Sie wuerden mir verzeihen, wenn ich die meinigen nicht unter die Menge bringen mag.

Niemand weiss eine Medaille am Rand anzufassen; sie betasten das schoenste Gepraege, den reinsten Grund, lassen die koestlichsten Stuecke zwischen dem Daumen und Zeigefinger hin und her gehen, als wenn man Kunstformen auf diese Weise pruefte.

Ohne daran zu denken, dass man ein grosses Blatt mit zwei Haenden anfassen muesse, greifen sie mit einer Hand nach einem unschaetzbaren Kupferstich, einer unersetzlichen Zeichnung, wie ein anmasslicher Politiker eine Zeitung fasst und durch das Zerknittern des Papiers schon im voraus sein Urteil ueber die Weltbegebenheiten zu erkennen gibt.

Niemand denkt daran, dass, wenn nur zwanzig Menschen mit einem Kunstwerke hintereinander ebenso verfuehren, der einundzwanzigste nicht mehr viel daran zu sehen haette".

"Habe ich Sie nicht auch manchmal", fragte Ottilie, "in solche Verlegenheit gesetzt?

Habe ich nicht etwan Ihre Schaetze, ohne es zu ahnen, gelegentlich einmal beschaedigt?" "Niemals", versetzte der Architekt, "niemals!

Ihnen waere es unmoeglich; das Schickliche ist mit Ihnen geboren".

"Auf alle Faelle", versetzte Ottilie, "waere es nicht uebel, wenn man kuenftig in das Buechlein von guten Sitten nach den Kapiteln, wie man sich in Gesellschaft beim Essen und Trinken benehmen soll, ein recht umstaendliches einschoebe, wie man sich in Kunstsammlungen und Museen zu betragen habe".

"Gewiss", versetzte der Architekt, "wuerden alsdann Kustoden und Liebhaber ihre Seltenheiten froehlicher mitteilen".

Ottilie hatte ihm schon lange verziehen; als er sich aber den Vorwurf sehr zu Herzen zu nehmen schien und immer aufs neue beteuerte, dass er gewiss gerne mitteile, gern fuer Freunde taetig sei, so empfand sie, dass sie sein zartes Gemuet verletzt habe, und fuehlte sich als seine Schuldnerin.

Nicht wohl konnte sie ihm daher eine Bitte rund abschlagen, die er in Gefolg dieses Gespraechs an sie tat, ob sie gleich, indem sie schnell ihr Gefuehl zu Rate zog, nicht einsah, wie sie ihm seine Wuensche gewaehren koenne.

Die Sache verhielt sich also.

Dass Ottilie durch Lucianens Eifersucht von den Gemaeldedarstellungen ausgeschlossen worden, war ihm hoechst empfindlich gewesen; dass Charlotte diesem glaenzenden Teil der geselligen Unterhaltung nur unterbrochen beiwohnen koennen, weil sie sich nicht wohl befand, hatte er gleichfalls mit Bedauern bemerkt.

Nun wollte er sich nicht entfernen, ohne seine Dankbarkeit auch dadurch zu beweisen, dass er zur Ehre der einen und zur Unterhaltung der andern eine weit schoenere Darstellung veranstaltete, als die bisherigen gewesen waren.

Vielleicht kam hierzu, ihm selbst unbewusst, ein andrer geheimer Antrieb: es ward ihm so schwer, dieses Haus, diese Familie zu verlassen, ja es schien ihm unmoeglich, von Ottiliens Augen zu scheiden, von deren ruhig freundlich gewogenen Blicken er die letzte Zeit fast ganz allein gelebt hatte.

Die Weihnachtsfeiertage nahten sich, und es wurde ihm auf einmal klar, dass eigentlich jene Gemaeldedarstellungen durch runde Figuren von dem sogenannten Praesepe ausgegangen, von der frommen Vorstellung, die man in dieser heiligen Zeit der goettlichen Mutter und dem Kinde widmete, wie sie in ihrer scheinbaren Niedrigkeit erst von Hirten, bald darauf von Koenigen verehrt werden.

Er hatte sich die Moeglichkeit eines solchen Bildes vollkommen vergegenwaertigt.

Ein schoener, frischer Knabe war gefunden; an Hirten und Hirtinnen konnte es auch nicht fehlen; aber ohne Ottilien war die Sache nicht auszufuehren.

Der junge Mann hatte sie in seinem Sinne zur Mutter Gottes erhoben, und wenn sie es abschlug, so war bei ihm keine Frage, dass das Unternehmen fallen muesse.

Ottilie, halb verlegen ueber seinen Antrag, wies ihn mit seiner Bitte an Charlotten.

Diese erteilte ihm gern die Erlaubnis, und auch durch sie ward die Scheu Ottiliens, sich jener heiligen Gestalt anzumassen, auf eine freundliche Weise ueberwunden.

Der Architekt arbeitete Tag und Nacht, damit am Weihnachtsabend nichts fehlen moege.

Und zwar Tag und Nacht im eigentlichen Sinne.

Er hatte ohnehin wenig Beduerfnisse, und Ottiliens Gegenwart schien ihm statt alles Labsals zu sein; indem er um ihretwillen arbeitete, war es, als wenn er keines Schlafs, indem er sich um sie beschaeftigte, keiner Speise beduerfte.

Zur feierlichen Abendstunde war deshalb alles fertig und bereit.

Es war ihm moeglich gewesen, wohltoenende Blasinstrumente zu versammeln, welche die Einleitung machten und die gewuenschte Stimmung hervorzubringen wussten.

Als der Vorhang sich hob, war Charlotte wirklich ueberrascht. Das Bild, das sich ihr vorstellte, war so oft in der Welt wiederholt, dass man kaum einen neuen Eindruck davon erwarten sollte.

Aber hier hatte die Wirklichkeit als Bild ihre besonderen Vorzuege.

Der ganze Raum war eher naechtlich als daemmernd und doch nichts undeutlich im Einzelnen der Umgebung.

Den unuebertrefflichen Gedanken, dass alles Licht vom Kinde ausgeht, hatte der Kuenstler durch einen klugen Mechanismus der Beleuchtung auszufuehren gewusst, der durch die beschatteten, nur von Streiflichtern erleuchteten Figuren im Vordergrunde zugedeckt wurde.

Frohe Maedchen und Knaben standen umher, die frischen Gesichter scharf von unten beleuchtet.

Auch an Engeln fehlte es nicht, deren eigener Schein von dem goettlichen verdunkelt, deren aetherischer Leib vor dem goettlich-menschlichen verdichtet und lichtsbeduerftig schien.

Gluecklicherweise war das Kind in der anmutigsten Stellung eingeschlafen, sodass nichts die Betrachtung stoerte, wenn der Blick auf der scheinbaren Mutter verweilte, die mit unendlicher Anmut einen Schleier aufgehoben hatte, um den verborgenen Schatz zu offenbaren.

In diesem Augenblick schien das Bild festgehalten und erstarrt zu sein.

Physisch geblendet, geistig ueberrascht, schien das umgebende Volk sich eben bewegt zu haben, um die getroffenen Augen wegzuwenden, neugierig erfreut wieder hinzublinzen und mehr Verwunderung und Lust als Bewunderung und Verehrung anzuzeigen, obgleich diese auch nicht vergessen und einigen aeltern Figuren der Ausdruck derselben uebertragen war.

Ottiliens Gestalt, Gebaerde, Miene, Blick uebertraf aber alles, was je ein Maler dargestellt hat.

Der gefuehlvolle Kenner, der diese Erscheinung gesehen haette, waere in Furcht geraten, es moege sich nur irgend etwas bewegen; er waere in Sorge gestanden, ob ihm jemals etwas wieder so gefallen koenne.

Ungluecklicherweise war niemand da, der diese ganze Wirkung aufzufassen vermocht haette.

Der Architekt allein, der als langer, schlanker Hirt von der Seite ueber die Knieenden hereinsah, hatte, obgleich nicht in dem genauesten Standpunkt, noch den groessten Genuss.

Und wer beschreibt auch die Miene der neugeschaffenen Himmelskoenigin?

Die reinste Demut, das liebenswuerdigste Gefuehl von Bescheindenheit bei einer grossen, unverdient erhaltenden Ehre, einem unbegreiflich unermesslichen Glueck bildete sich in ihren Zuegen, sowohl indem sich ihre eigene Empfindung, als indem sich die Vorstellung ausdrueckte, die sie sich von dem machen konnte, was sie spielte.

Charlotten erfreute das schoene Gebilde, doch wirkte hauptsaechlich das Kind auf sie.

Ihre Augen stroemten von Traenen, und sie stellte sich auf das lebhafteste vor, dass sie ein aehnliches liebes Geschoepf bald auf ihrem Schosse zu hoffen habe.

Man hatte den Vorhang niedergelassen, teils um den Vorstellenden einige Erleichterung zu geben, teils eine Veraenderung in dem Dargestellten anzubringen.

Der Kuenstler hatte sich vorgenommen, das erste Nacht—und Niedrigkeitsbild in ein Tag—und Glorienbild zu verwandeln, und deswegen von allen Seiten eine unmaessige Erleuchtung vorbereitet, die in der Zwischenzeit angezuendet wurde.

Ottilien war in ihrer halb theatralischen Lage bisher die groesste Beruhigung gewesen, dass ausser Charlotten und wenigen Hausgenossen niemand dieser frommen Kunstmummerei zugesehen.

Sie wurde daher einigermassen betroffen, als sie in der Zwischenzeit vernahm, es sei ein Fremder angekommen, im Saale von Charlotten freundlich begruesst.

Wer es war, konnte man ihr nicht sagen.

Sie ergab sich darein, um keine Stoerung zu verursachen.

Lichter und Lampen brannten, und eine ganz unendliche Hellung umgab sie.

Der Vorhang ging auf, fuer die Zuschauenden ein ueberraschender Anblick: das ganze Bild war alles Licht, und statt des voellig aufgehobenen Schattens blieben nur die Farben uebrig, die bei der klugen Auswahl eine liebliche Maessigung hervorbrachten.

Unter ihren langen Augenwimmpern hervorblickend, bemerkte Ottilie eine Mannsperson neben Charlotten sitzend.

Sie erkannte ihn nicht, aber sie glaubte die Stimme des Gehuelfen aus der Pension zu hoeren.

Eine wunderbare Empfindung ergriff sie.

Wie vieles war begegnet, seitdem sie die Stimme dieses treuen Lehrers nicht vernommen!

Wie im zackigen Blitz fuhr die Reihe ihrer Freuden und Leiden schnell vor ihrer Seele vorbei und regte die Frage auf: ’darfst du ihm alles bekennen und gestehen?

Und wie wenig wert bist du, unter dieser heiligen Gestalt vor ihm zu erscheinen, und wie seltsam muss es ihm vorkommen, dich, die er nur natuerlich gesehen, als Maske zu erblicken?’

Mit einer Schnelligkeit, die keinesgleichen hat, wirkten Gefuehl und Betrachtung in ihr gegeneinander.

Ihr Herz war befangen, ihre Augen fuellten sich mit Traenen, indem sie sich zwang, immerfort als ein starres Bild zu erscheinen; und wie froh war sie, als der Knabe sich zu regen anfing und der Kuenstler sich genoetiget sah, das Zeichen zu geben, dass der Vorhang wieder fallen sollte!

Hatte das peinliche Gefuehl, einem werten Freunde nicht entgegeneilen zu koennen, sich schon die letzten Augenblicke zu den uebrigen Empfindungen Ottiliens gesellt, so war sie jetzt in noch groesserer Verlegenheit.

Sollte sie in diesem fremden Anzug und Schmuck ihm entgegengehn?

Sollte sie sich umkleiden?

Sie waehlte nicht, sie tat das letzte und suchte sich in der Zwischenzeit zusammenzunehmen, sich zu beruhigen, und war nur erst wieder mit sich selbst in Einstimmung, als sie endlich im gewohnten Kleide den Angekommenen begruesste.

Insofern der Architekt seinen Goennerinnen das Beste wuenschte, war es ihm angenehm, da er doch endlich scheiden musste, sie in der guten Gesellschaft des schaetzbaren Gehuelfen zu wissen; indem er jedoch ihre Gunst auf sich selbst bezog, empfand er es einigermassen schmerzhaft, sich so bald und, wie es seiner Bescheidenheit duenken mochte, so gut, ja vollkommen ersetzt zu sehen.

Er hatte noch immer gezaudert, nun aber draengte es ihn hinweg; denn was er wollte sich nach seiner Entfernung musste gefallen lassen, das wollte er wenigstens gegenwaertig nicht erleben.

Zu grosser Erheiterung dieser halb traurigen Gefuehle machten ihm die Damen beim Abschiede noch ein Geschenk mit einer Weste, an der er sie beide lange Zeit hatte stricken sehen, mit einem stillen Neid ueber den unbekannten Gluecklichen, dem sie dereinst werden koennte.

Eine solcher Gabe ist die angenehmste, die ein liebender, verehrender Mann erhalten mag; denn wenn er dabei des unermuedeten Spiels der schoenen Finger gedenkt, so kann er nicht umhin, sich zu schmeicheln, das Herz werde bei einer so anhaltenden Arbeit doch auch nicht ganz ohne Teilnahme geblieben sein.

Die Frauen hatten nun einen neuen Mann zu bewirrten, dem sie wohlwollten und dem es bei ihnen wohl werden sollte.

Das weibliche Geschlecht hegt ein eignes, inneres, unwandelbares Interesse, von dem sie nichts in der Welt abtruennig macht; im aeussern, geselligen Verhaeltnis hingegen lassen sie sich gern und leicht durch den Mann bestimmen, der sie eben beschaeftigt; und so durch Abweisen wie durch Empfaenglichkeit, durch Beharren und Nachgiebigkeit fuehren sie eigentlich das Regiment, dem sich in der gesitteten Welt kein Mann zu entziehen wagt.

Hatte der Architekt, gleichsam nach eigener Lust und Belieben, seine Talente vor den Freundinnen zum Vergnuegen und zu den Zwecken derselben geuebt und bewiesen, war Beschaeftigung und Unterhaltung in diesem Sinne und nach solchen Absichten eingerichtet, so machte sich in kurzer Zeit durch die Gegenwart des Gehuelfen eine andere Lebensweise.

Seine grosse Gabe war, gut zu sprechen und menschliche Verhaeltnisse, besonders in bezug auf Bildung der Jugend, in der Unterredung zu behandeln.

Und so entstand gegen die bisherige Art zu leben ein ziemlich fuehlbarer Gegensatz, um so mehr, als der Gehuelfe nicht ganz dasjenige billigte, womit man sich die Zeit ueber ausschliesslich beschaeftigt hatte.

Von dem lebendigen Gemaelde, das ihn bei seiner Ankunft empfing, sprach er gar nicht.

Als man ihm hingegen Kirche, Kapelle und was sich darauf bezog, mit Zufriedenheit sehen liess, konnte er seine Meinung, seine Gesinnungen darueber nicht zurueckhalten.

"Was mich betrifft", sagte er, "so will mir diese Annaeherung, diese Vermischung des Heiligen zu und mit dem Sinnlichen keineswegs gefallen, nicht gefallen, dass man sich gewisse besondere Raeume widmet, weihet und aufschmueckt, um erst dabei ein Gefuehl der Froemmigkeit zu hegen und zu unterhalten.

Keine Umgebung, selbst die gemeinste nicht, soll in uns das Gefuehl des Goettlichen stoeren, das uns ueberallhin begleiten und jede Staette zu einem Tempel einweihen kann.

Ich mag gern einen Hausgottesdienst in dem Saale gehalten sehen, wo man zu speisen, sich gesellig zu versammeln, mit Spiel und Tanz zu ergoetzen pflegt.

Das Hoechste, das Vorzueglichste am Menschen ist gestaltlos, und man soll sich hueten, es anders als in edler Tat zu gestalten".

Charlotte, die seine Gesinnungen schon im ganzen kannte und sie noch mehr in kurzer Zeit erforschte, brachte ihn gleich in seinem Fache zur Taetigkeit, indem sie ihre Gartenknaben, welche der Architekt vor seiner Abreise eben gemustert hatte, in dem grossen Saal aufmarschieren liess, da sie sich denn in ihren heitern, reinlichen Uniformen, mit gesetzlichen Bewegungen und einem natuerlichen, lebhaften Wesen sehr gut ausnahmen.

Der Gehuelfe pruefte sie nach seiner Weise und hatte durch mancherlei Fragen und Wendungen gar bald die Gemuetsarten und Faehigkeiten der Kinder zutage gebracht und, ohne dass es so schien, in Zeit von weniger als einer Stunde sie wirklich bedeutend unterrichtet und gefoerdert. "Wie machen Sie das nur?" sagte Charlotte, indem die Knaben wegzogen.

"Ich habe sehr aufmerksam zugehoert; es sind nichts als ganz bekannte Dinge vorgekommen, und doch wuesste ich nicht, wie ich es anfangen sollte, sie in so kurzer Zeit, bei so vielem Hin—und Widerreden, in solcher Folge zur Sprache zu bringen".

"Vielleicht sollte man", versetzte der Gehuelfe, "aus den Vorteilen seines Handwerks ein Geheimnis machen.

Doch kann ich Ihnen die ganz einfache Maxime nicht verbergen, nach der man dieses und noch viel mehr zu leisten vermag.

Fassen Sie einen Gegenstand, eine Materie, einen Begriff, wie man es nennen will; halten Sie ihn recht fest; machen Sie sich ihn in allen seinen Teilen recht deutlich, und dann wird es Ihnen leicht sein, gespraechsweise an einer Masse Kinder zu erfahren, was sich davon schon in ihnen entwickelt hat, was noch anzuregen, zu ueberliefern ist.

Die Antworten auf Ihre Fragen moegen noch so ungehoerig sein, moegen noch so sehr ins Weite gehen, wenn nur sodann Ihre Gegenfrage Geist und Sinn wieder hereinwaerts zieht, wenn Sie sich nicht von Ihrem Standpunkte verruecken lassen, so muessen die Kinder zuletzt denken, begreifen, sich ueberzeugen, nur von dem, was und wie es der Lehrende will.

Sein groesster Fehler ist der, wenn er sich von den Lernenden mit in die Weite reissen laesst, wenn er sie nicht auf dem Punkte festzuhalten weiss, den er eben jetzt behandelt.

Machen Sie naechstens einen Versuch, und es wird zu Ihrer grossen Unterhaltung dienen".

"Das ist artig", sagte Charlotte; "die gute Paedagogik ist also gerade das Umgekehrte von der guten Lebensart.

In der Gesellschaft soll man auf nichts verweilen, und bei dem Unterricht waere das hoechste Gebot, gegen alle Zerstreuung zu arbeiten".

"Abwechselung ohne Zerstreuung waere fuer Lehre und Leben der schoenste Wahlspruch, wenn dieses loebliche Gleichgewicht nur so leicht zu erhalten waere!" sagte der Gehuelfe und wollte weiter fortfahren, als ihn Charlotte aufrief, die Knaben nochmals zu betrachten, deren munterer Zug sich soeben ueber den Hof bewegte.

Er bezeigte seine Zufriedenheit, dass man die Kinder in Uniform zu gehen anhalte.

"Maenner", so sagte er, "sollten von Jugend auf Uniform tragen, weil sie sich gewoehnen muessen, zusammen zu handeln, sich unter ihresgleichen zu verlieren, in Masse zu gehorchen und ins Ganze zu arbeiten.

Auch befoerdert jede Art von Uniform einen militaerischen Sinn sowie ein knapperes, strackeres Betragen, und alle Knaben sind ja ohnehin geborne Soldaten; man sehe nur ihre Kampf—und Streitspiele, ihr Erstuermen und Erklettern".

"So werden Sie mich dagegen nicht tadeln", versetzte Ottilie, "dass ich meine Maedchen nicht ueberein kleide.

Wenn ich sie Ihnen vorfuehre, hoffe ich Sie durch ein buntes Gemisch zu ergoetzen".

"Ich billige das sehr", versetzte jener.

"Frauen sollten durchaus mannigfaltig gekleidet gehen, jede nach eigner Art und Weise, damit eine jede fuehlen lernte, was ihr eigentlich gut stehe und wohl zieme.

Eine wichtigere Ursache ist noch die, weil sie bestimmt sind, ihr ganzes Leben allein zu stehen und allein zu handeln".

"Das scheint mir sehr paradox", versetzte Charlotte; "sind wir doch fast niemals fuer uns".

"O ja!" versetzte der Gehuelfe, "in Absicht auf andere Frauen ganz gewiss.

Man betrachte ein Frauenzimmer als Liebende, als Braut, als Frau, Hausfrau und Mutter, immer steht sie isoliert, immer ist sie allein und will allein sein.

Ja die Eitle selbst ist in dem Falle.

Jede Frau schliesst die andre aus, ihrer Natur nach; denn von jeder wird alles gefordert, was dem ganzen Geschlechte zu leisten obliegt.

Nicht so verhaelt es sich mit den Maennern.

Der Mann verlangt den Mann; er wuerde sich einen zweiten erschaffen, wenn es keinen gaebe; eine Frau koennte eine Ewigkeit leben, ohne daran zu denken, sich ihresgleichen hervorzubringen".

"Man darf", sagte Charlotte, "das Wahre nur wunderlich sagen, so scheint zuletzt das Wunderliche auch wahr.

Wir wollen uns aus ihren Bemerkungen das Beste herausnehmen und doch als Frauen mit Frauen zusammenhalten und auch gemeinsam wirken, um den Maennern nicht allzu grosse Vorzuege ueber uns einzuraeumen.

Ja, Sie werden uns eine kleine Schadenfreude nicht uebelnehmen, die wir kuenftig um desto lebhafter empfinden muessen, wenn sich die Herren untereinander auch nicht sonderlich vertragen".

Mit vieler Sorgfalt untersuchte der verstaendige Mann nunmehr die Art, wie Ottilie ihre kleinen Zoeglinge behandelte, und bezeigte darueber seinen entschiedenen Beifall.

"Sehr richtig heben Sie", sagte er, "Ihre Untergebenen nur zur naechsten Brauchbarkeit heran.

Reinlichkeit veranlasst die Kinder, mit Frauen etwas auf sich selbst zu halten, und alles ist gewonnen, wenn sie das, was sie tun, mit Munterkeit und Selbstgefuehl zu leisten angeregt sind".

uebrigens fand er zu seiner grossen Befriedigung nichts auf den Schein und nach aussen getan, sondern alles nach innen und fuer die unerlaesslichen Beduerfnisse.

"Mit wie wenig Worten", rief er aus, "liesse sich das ganze Erziehungsgeschaeft aussprechen, wenn jemand Ohren haette zu hoeren!" "Moegen Sie es nicht mit mir versuchen?" sagte freundlich Ottilie.

"Recht gern", versetzte jener; "nur muessen Sie mich nicht verraten.

Man erziehe die Knaben zu Dienern und die Maedchen zu Muettern, so wird es ueberall wohlstehn".

"Zu Muettern", versetzte Ottilie, "das koennten die Frauen noch hingehen lassen, da sie sich, ohne Muetter zu sein, doch immer einrichten muessen, Waerterinnen zu werden; aber freilich zu Dienern wuerden sich unsre jungen Maenner viel zu gut halten, da man jedem leicht ansehen kann, dass er sich zum Gebieten faehiger duenkt".

"Deswegen wollen wir es ihnen verschweigen", sagte der Gehuelfe.

"Man schmeichelt sich ins Leben hinein, aber das Leben schmeichelt uns nicht.

Wieviel Menschen moegen denn das freiwillig zugestehen, was sie am Ende doch muessen?

Lassen wir aber diese Betrachtungen, die uns hier nicht beruehren!

Ich preise Sie gluecklich, dass Sie bei Ihren Zoeglingen ein richtiges Verfahren anwenden koennen.

Wenn Ihre kleinsten Maedchen sich mit Puppen herumtragen und einige Laeppchen fuer sie zusammenflicken, wenn aeltere Geschwister alsdann fuer die juengern sorgen und das Haus sich in sich selbst bedient und aufhilft, dann ist der weitere Schritt ins Leben nicht gross, und ein solches Maedchen findet bei ihrem Gatten, was sie bei ihren Eltern verliess. Aber in den gebildeten Staenden ist die Aufgabe sehr verwickelt.

Wir haben auf hoehere, zartere, feinere, besonders auf gesellschaftliche Verhaeltnisse Ruecksicht zu nehmen.

Wir andern sollen daher unsre Zoeglinge nach aussen bilden; es ist notwendig, es ist unerlaesslich und moechte recht gut sein, wenn man dabei nicht das Mass ueberschritte; denn indem man die Kinder fuer einen weiteren Kreis zu bilden gedenkt, treibt man sie leicht ins Grenzenlose, ohne im Auge zu behalten, was denn eigentlich die innere Natur fordert.

Hier liegt die Aufgabe, welche mehr oder weniger von den Erziehern geloest oder verfehlt wird.

Bei manchem, womit wir unsere Schuelerinnen in der Pension ausstatten, wird mir bange, weil die Erfahrung mir sagt, von wie geringem Gebrauch es kuenftig sein werde.

Was wird nicht gleich abgestreift, was nicht gleich der Vergessenheit ueberantwortet, sobald ein Frauenzimmer sich im Stande der Hausfrau, der Mutter befindet!

Indessen kann ich mir den frommen Wunsch nicht versagen, da ich mich einmal diesem Geschaeft gewidmet habe, dass es mir dereinst in Gesellschaft einer treuen Gehuelfin gelingen moege, an meinen Zoeglingen dasjenige rein auszubilden, was sie beduerfen, wenn sie in das Feld eigener Taetigkeit und Selbstaendigkeit hinueberschreiten; dass ich mir sagen koennte: in diesem Sinne ist an ihnen die Erziehung vollendet.

Freilich schliesst sich eine andere immer wieder an, die beinahe mit jedem Jahre unsers Lebens, wo nicht von uns selbst, doch von den Umstaenden veranlasst wird".

Wie wahr fand Ottilie diese Bemerkung!

Was hatte nicht eine ungeahnte Leidenschaft im vergangenen Jahr an ihr erzogen!

Was sah sie nicht alles fuer Pruefungen vor sich schweben, wenn sie nur aufs Naechste, aufs Naechstkuenftige hinblickte!

Der junge Mann hatte nicht ohne Vorbedacht einer Gehuelfin, einer Gattin erwaehnt; denn bei aller seiner Bescheidenheit konnte er nicht unterlassen, seine Absichten auf eine entfernte Weise anzudeuten; ja er war durch mancherlei Umstaende und Vorfaelle aufgeregt worden, bei diesem Besuch einige Schritte seinem Ziele naeher zu tun.

Die Vorsteherin der Pension war bereits in Jahren; sie hatte sich unter ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen schon lange nach einer Person umgesehen, die eigentlich mit ihr in Gesellschaft traete, und zuletzt dem Gehuelfen, dem sie zu vertrauen hoechlich Ursache hatte, den Antrag getan, er solle mit ihr die Lehranstalt fortfuehren, darin als in dem Seinigen mitwirken und nach ihrem Tode als Erbe und einziger Besitzer eintreten.

Die Hauptsache schien hiebei, dass er eine einstimmende Gattin finden muesse.

Er hatte im stillen Ottilien vor Augen und im Herzen; allein es regten sich mancherlei Zweifel, die wieder durch guenstige Ereignisse einiges Gegengewicht erhielten.

Luciane hatte die Pension verlassen, Ottilie konnte freier zurueckkehren; von dem Verhaeltnisse zu Eduard hatte zwar etwas verlautet, allein man nahm die Sache, wie aehnliche Vorfaelle mehr, gleichgueltig auf, und selbst dieses Ereignis konnte zu Ottiliens Rueckkehr beitragen.

Doch waere man zu keinem Entschluss gekommen, kein Schritt waere geschehen, haette nicht ein unvermuteter Besuch auch hier eine besondere Anregung gegeben, wie denn die Erscheinung von bedeutenden Menschen in irgendeinem Kreise niemals ohne Folge bleiben kann.

Der Graf und die Baronesse, welche so oft in den Fall kamen, ueber den Wert verschiedener Pensionen befragt zu werden, weil fast jedermann um die Erziehung seiner Kinder verlegen ist, hatten sich vorgenommen, diese besonders kennenzulernen, von der soviel Gutes gesagt wurde, und konnten nunmehr in ihren neuen Verhaeltnissen zusammen eine solche Untersuchung anstellen.

Allein die Baronesse beabsichtigte noch etwas anderes.

Waehrend ihres letzten Aufenthalts bei Charlotten hatte sie mit dieser alles umstaendlich durchgesprochen, was sich auf Eduarden und Ottilien bezog.

Sie bestand aber—und abermals darauf: Ottilie muesse entfernt werden.

Sie suchte Charlotten hiezu Mut einzusprechen, welche sich vor Eduards Drohungen noch immer fuerchtete.

Man sprach ueber die verschiedenen Auswege, und bei Gelegenheit der Pension war auch von der Neigung des Gehuelfen die Rede, und die Baronesse entschloss sich um so mehr zu dem gedachten Besuch.

Sie kommt an, lernt den Gehuelfen kennen, man beobachtet die Anstalt und spricht von Ottilien.

Der Graf selbst unterhaelt sich gern ueber sie, indem er sie bei dem neulichen Besuch genauer kennengelernt.

Sie hatte sich ihm genaehert, ja sie ward von ihm angezogen, weil sie durch sein gehaltvolles Gespraech dasjenige zu sehen und zu kennen glaubte, was ihr bisher ganz unbekannt geblieben war.

Und wie sie in dem Umgange mit Eduard die Welt vergass, so schien ihr in der Gegenwart des Grafen die Welt erst recht wuenschenswert zu sein.

Jede Anziehung ist wechselseitig.

Der Graf empfand eine Neigung fuer Ottilien, dass er sie gern als seine Tochter betrachtete.

Auch hier war sie der Baronesse zum zweitenmal und mehr als das erstemal im Wege.

Wer weiss, was diese in Zeiten lebhafterer Leidenschaft gegen sie angestiftet haette!

Jetzt war es ihr genug, sie durch eine Verheiratung den Ehefrauen unschaedlicher zu machen.

Sie regte daher den Gehuelfen auf eine leise, doch wirksame Art klueglich an, dass er sich zu einer kleinen Exkursion auf das Schloss einrichten und seinen Planen und Wuenschen, von denen er der Dame kein Geheimnis gemacht, sich ungesaeumt naehern solle.

Mit vollkommener Beistimmung der Vorsteherin trat er daher seine Reise an und hegte in seinem Gemuete die besten Hoffnungen.

Er weiss, Ottilie ist ihm nicht unguenstig; und wenn zwischen ihnen einiges Missverstaendnis des Standes war, so glich sich dieses gar leicht durch die Denkart der Zeit aus.

Auch hatte die Baronesse ihn wohl fuehlen lassen, dass Ottilie immer ein armes Maedchen bleibe.

Mit einem reichen Hause verwandt zu sein, hiess es, kann niemanden helfen; denn man wuerde sich selbst bei dem groessten Vermoegen ein Gewissen daraus machen, denjenigen eine ansehnliche Summe zu entziehen, die dem naeheren Grade nach ein vollkommeneres Recht auf ein Besitztum zu haben scheinen.

Und gewiss bleibt es wunderbar, dass der Mensch das grosse Vorrecht, nach seinem Tode noch ueber seine Habe zu disponieren, sehr selten zugunsten seiner Lieblinge gebraucht und, wie es scheint, aus Achtung fuer das Herkommen nur diejenigen beguenstigt, die nach ihm sein Vermoegen besitzen wuerden, wenn er auch selbst keinen Willen haette.

Sein Gefuehl setzte ihn auf der Reise Ottilien voellig gleich.

Eine gute Aufnahme erhoehte seine Hoffnungen.

Zwar fand er gegen sich Ottilien nicht ganz so offen wie sonst; aber sie war auch erwachsener, gebildeter und, wenn man will, im allgemeinen mitteilender, als er sie gekannt hatte.

Vertraulich liess man ihn in manches Einsicht nehmen, was sich besonders auf sein Fach bezog.

Doch wenn er seinem Zwecke sich naehern wollte, so hielt ihn immer eine gewisse innere Scheu zurueck.

Einst gab ihm jedoch Charlotte hierzu Gelegenheit, indem sie in Beisein Ottiliens zu ihm sagte:" nun, Sie haben alles, was in meinem Kreise heranwaechst, so ziemlich geprueft; wie finden Sie denn Ottilien?

Sie duerfen es wohl in ihrer Gegenwart aussprechen".

Der Gehuelfe bezeichnete hierauf mit sehr viel Einsicht und ruhigem Ausdruck, wie er Ottilien in Absicht eines freieren Betragens, einer bequemeren Mitteilung, eines hoeheren Blicks in die weltlichen Dinge, der sich mehr in ihren Handlungen als in ihren Worten betaetige, sehr zu ihrem Vorteil veraendert finde, dass er aber doch glaube, es koenne ihr sehr zum Nutzen gereichen, wenn sie auf einige Zeit in die Pension zurueckkehre, um das in einer gewissen Folge gruendlich und fuer immer sich zuzueignen, was die Welt nur stueckweise und eher zur Verwirrung als zur Befriedigung, ja manchmal nur allzuspaet ueberliefere.

Er wolle darueber nicht weitlaeufig sein; Ottilie wisse selbst am besten, aus was fuer zusammenhaengenden Lehrvortraegen sie damals herausgerissen worden.

Ottilie konnte das nicht leugnen; aber sie konnte nicht gestehen, was sie bei diesen Worten empfand, weil sie sich es kaum selbst auszulegen wusste.

Es schien ihr in der Welt nichts mehr unzusammenhaengend, wenn sie an den geliebten Mann dachte, und sie begriff nicht, wie ohne ihn noch irgend etwas zusammenhaengen koenne.

Charlotte beantwortete den Antrag mit kluger Freundlichkeit.

Sie sagte, dass sowohl sie als Ottilie eine Rueckkehr nach der Pension laengst gewuenscht haetten.

In dieser Zeit nur sei ihr die Gegenwart einer so lieben Freundin und Helferin unentbehrlich gewesen; doch wolle sie in der Folge nicht hinderlich sein, wenn es Ottiliens Wunsch bliebe, wieder auf so lange dorthin zurueckzukehren, bis sie das Angefangene geendet und das Unterbrochene sich vollstaendig zugeeignet.

Der Gehuelfe nahm diese Anerbietung freudig auf; Ottilie durfte nichts dagegen sagen, ob es ihr gleich vor dem Gedanken schauderte. Charlotte hingegen dachte Zeit zu gewinnen; sie hoffte, Eduard sollte sich erst als gluecklicher Vater wiederfinden und einfinden, dann, war sie ueberzeugt, wuerde sich alles geben und auch fuer Ottilien auf eine oder die andere Weise gesorgt werden.

Nach einem bedeutenden Gespraech, ueber welches alle Teilnehmenden nachzudenken haben, pflegt ein gewisser Stillstand einzutreten, der einer allgemeinen Verlegenheit aehnlich sieht.

Man ging im Saale auf und ab, der Gehuelfe blaetterte in einigen Buechern und kam endlich an den Folioband, der noch von Lucianens Zeiten her liegengeblieben war.

Als er sah, dass darin nur Affen enthalten waren, schlug er ihn gleich wieder zu.

Dieser Vorfall mag jedoch zu einem Gespraech Anlass gegeben haben, wovon wir die Spuren in Ottiliens Tagebuch finden.

Wie man es nur ueber das Herz bringen kann, die garstigen Affen so sorgfaeltig abzubilden!

Man erniedrigt sich schon, wenn man sie nur als Tiere betrachtet; man wird aber wirklich boesartiger, wenn man dem Reize folgt, bekannte Menschen unter dieser Maske aufzusuchen.

Es gehoert durchaus eine gewisse Verschrobenheit dazu, um sich gern mit Karikaturen und Zerrbildern abzugeben.

Unserm guten Gehuelfen danke ichs, dass ich nicht mit der Naturgeschichte gequaelt worden bin; ich konnte mich mit den Wuermern und Kaefern niemals befreunden.

Diesmal gestand er mir, dass es ihm ebenso gehe.

"Von der Natur", sagte er, "sollten wir nichts kennen, als was uns unmittelbar lebendig umgibt.

Mit den Baeumen, die um uns bluehen, gruenen, Frucht tragen, mit jeder Staude, an der wir vorbeigehen, mit jedem Grashalm, ueber den wir hinwandeln, haben wir ein wahres Verhaeltnis; sie sind unsre echten Kompatrioten.

Die Voegel, die auf unsern Zweigen hin und wider huepfen, die in unserm Laube singen, gehoeren uns an, sie sprechen zu uns von Jugend auf, und wir lernen ihre Sprache verstehen.

Man frage sich, ob nicht ein jedes fremde, aus seiner Umgebung gerissene Geschoepf einen gewissen aengstlichen Eindruck auf uns macht, der nur durch Gewohnheit abgestumpft wird.

Es gehoert schon ein buntes, geraeuschvolles Leben dazu, um Affen, Papageien und Mohren um sich zu ertragen".

Manchmal, wenn mich ein neugieriges Verlangen nach solchen abenteuerlichen Dingen anwandelte, habe ich den Reisenden beneidet, der solche Wunder mit andern Wundern in lebendiger, alltaeglicher Verbindung sieht.

Aber auch er wird ein anderer Mensch.

Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen aendern sich gewiss in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind.

Nur der Naturforscher ist verehrungswert, der uns das Fremdeste, Seltsamste mit seiner Lokalitaet, mit aller Nachbarschaft jedesmal in dem eigensten Elemente zu schildern und darzustellen weiss.

Wie gern moechte ich nur einmal Humboldten erzaehlen hoeren!

Ein Naturalienkabinett kann uns vorkommen wie eine aegyptische Grabstaette, wo die verschiedenen Tier—und Pflanzengoetzen balsamiert umherstehen.

Einer Priesterkaste geziemt es wohl, sich damit in geheimnisvollem Halbdunkel abzugeben; aber in den allgemeinen Unterricht sollte dergleichen nicht einfliessen, um so weniger, als etwas Naeheres und Wuerdigeres sich dadurch leicht verdraengt sieht.

Ein Lehrer, der das Gefuehl an einer einzigen guten Tat, an einem einzigen guten Gedicht erwecken kann, leistet mehr als einer, der uns ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der Gestalt und dem Namen nach ueberliefert; denn das ganze Resultat davon ist, was wir ohnedies wissen koennen, dass das Menschengebild am vorzueglichsten und einzigsten das Gleichnis der Gottheit an sich traegt.

Dem einzelnen bleibe die Freiheit, sich mit dem zu beschaeftigen, was ihn anzieht, was ihm Freude macht, was ihm nuetzlich deucht; aber das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch.

Es gibt wenig Menschen, die sich mit dem Naechstvergangenen zu beschaeftigen wissen.

Entweder das Gegenwaertige haelt uns mit Gewalt an sich, oder wir verlieren uns in die Vergangenheit und suchen das voellig Verlorene, wie es nur moeglich sein will, wieder hervorzurufen und herzustellen.

Selbst in grossen und reichen Familien, die ihren Vorfahren vieles schuldig sind, pflegt es so zu gehen, dass man des Grossvaters mehr als des Vaters gedenkt.

Zu solchen Betrachtungen ward unser Gehuelfe aufgefordert, als er an einem der schoenen Tage, an welchen der scheidende Winter den Fruehling zu luegen pflegt, durch den grossen, alten Schlossgarten gegangen war und die hohen Lindenalleen, die regelmaessigen Anlagen, die sich von Eduards Vater herschrieben, bewundert hatte.

Sie waren vortrefflich gediehen in dem Sinne desjenigen, der sie pflanzte, und nun, da sie erst anerkannt und genossen werden sollten, sprach niemand mehr von ihnen; man besuchte sie kaum und hatte Liebhaberei und Aufwand gegen eine andere Seite hin ins Freie und Weite gerichtet.

Er machte bei seiner Rueckkehr Charlotten die Bemerkung, die sie nicht unguenstig aufnahm.

"Indem uns das Leben fortzieht", versetzte sie, "glauben wir aus uns selbst zu handeln, unsre Taetigkeit, unsre Vergnuegungen zu waehlen, aber freilich, wenn wir es genau ansehen, so sind es nur die Plane, die Neigungen der Zeit, die wir mit auszufuehren genoetigt sind".

"Gewiss", sagte der Gehuelfe; "und wer widersteht dem Strome seiner Umgebungen?

Die Zeit rueckt fort und in ihr Gesinnungen, Meinungen, Vorurteile und Liebhabereien.

Faellt die Jugend eines Sohnes gerade in die Zeit der Umwendung, so kann man versichert sein, dass er mit seinem Vater nichts gemein haben wird.

Wenn dieser in einer Periode lebte, wo man Lust hatte, sich manches zuzueignen, dieses Eigentum zu sichern, zu beschraenken, einzuengen und in der Absonderung von der Welt seinen Genuss zu befestigen, so wird jener sodann sich auszudehnen suchen, mitteilen, verbreiten und das Verschlossene eroeffnen".

"Ganze Zeitraeume", versetzte Charlotte, "gleichen diesem Vater und Sohn, den Sie schildern.

Von jenen Zustaenden, da jede kleine Stadt ihre Mauern und Graeben haben musste, da man jeden Edelhof noch in einen Sumpf baute und die geringsten Schloesser nur durch eine Zugbruecke zugaenglich waren, davon koennen wir uns kaum einen Begriff machen.

Sogar groessere Staedte tragen jetzt ihre Waelle ab, die Graeben selbst fuerstlicher Schloesser werden ausgefuellt, die Staedte bilden nur grosse Flecken, und wenn man so auf Reisen das ansieht, sollte man glauben, der allgemeine Friede sei befestigt und das goldne Zeitalter vor der Tuer.

Niemand glaubt sich in einem Garten behaglich, der nicht einem freien Lande aehnlich sieht; an Kunst, an Zwang soll nichts erinnern; wir wollen voellig frei und unbedingt Atem schoepfen.

Haben Sie wohl einen Begriff, mein Freund, dass man aus diesem in einen andern, in den vorigen Zustand zurueckkehren koenne?" "Warum nicht?" versetzte der Gehuelfe; "jeder Zustand hat seine Beschwerlichkeit, der beschraenkte sowohl als der losgebundene.

Der letztere setzt ueberfluss voraus und fuehrt zur Verschwendung.

Lassen Sie uns bei Ihrem Beispiel bleiben, das auffallend genug ist.

Sobald der Mangel eintritt, sogleich ist die Selbstbeschraenkung wiedergegeben.

Menschen, die ihren Grund und Boden zu nutzen genoetigt sind, fuehren schon wieder Mauern um ihre Gaerten auf, damit sie ihrer Erzeugnisse sicher seien.

Daraus entsteht nach und nach eine neue Ansicht der Dinge.

Das Nuetzliche erhaelt wieder die Oberhand, und selbst der Vielbesitzende meint zuletzt auch das alles nutzen zu muessen.

Glauben Sie mir: es ist moeglich, dass Ihr Sohn die saemtlichen Parkanlagen vernachlaessigt und sich wieder hinter die ernsten Mauern und unter die hohen Linden seines Grossvaters zurueckzieht".

Charlotte war im stillen erfreut, sich einen Sohn verkuendigt zu hoeren, und verzieh dem Gehuelfen deshalb die etwas unfreundliche Prophezeiung, wie es dereinst ihrem lieben, schoenen Park ergehen koenne.

Sie versetzte deshalb ganz freundlich: "wir sind beide noch nicht alt genug, um dergleichen Widersprueche mehrmals erlebt zu haben; allein wenn man sich in seine fruehe Jugend zurueckdenkt, sich erinnert, worueber man von aelteren Personen klagen gehoert, Laender und Staedte mit in die Betrachtung aufnimmt, so moechte wohl gegen die Bemerkung nichts einzuwenden sein.

Sollte man denn aber einem solchen Naturgang nichts entgegensetzen, sollte man Vater und Sohn, Eltern und Kinder nicht in uebereinstimmung bringen koennen?

Sie haben mir freundlich einen Knaben geweissagt; muesste denn der gerade mit seinem Vater im Widerspruch stehen?

Zerstoeren, was seine Eltern erbaut haben, anstatt es zu vollenden und zu erheben, wenn er in demselben Sinne fortfaehrt?" "Dazu gibt es auch wohl ein vernuenftiges Mittel", versetzte der Gehuelfe, "das aber von den Menschen selten angewandt wird.

Der Vater erhebe seinen Sohn zum Mitbesitzer, er lasse ihn mitbauen, -pflanzen und erlaube ihm, wie sich selbst, eine unschaedliche Willkuer.

Eine Taetigkeit laesst sich in die andre verweben, keine an die andre anstueckeln.

Ein junger Zweig verbindet sich mit einem alten Stamme gar leicht und gern, an den kein erwachsener Ast mehr anzufuegen ist".

Es freute den Gehuelfen, in dem Augenblick, da er Abschied zu nehmen sich genoetigt sah, Charlotten zufaelligerweise etwas Angenehmes gesagt und ihre Gunst aufs neue dadurch befestigt zu haben.

Schon allzulange war er von Hause weg; doch konnte er zur Rueckreise sich nicht eher entschliessen als nach voelliger ueberzeugung, er muesse die herannahende Epoche von Charlottens Niederkunft erst vorbeigehen lassen, bevor er wegen Ottiliens irgendeine Entscheidung hoffen koenne.

Er fuegte sich deshalb in die Umstaende und kehrte mit diesen Aussichten und Hoffnungen wieder zur Vorsteherin zurueck.

Charlottens Niederkunft nahte heran.

Sie hielt sich mehr in ihren Zimmern.

Die Frauen, die sich um sie versammelt hatten, waren ihre geschlossenere Gesellschaft.

Ottilie besorgte das Hauswesen, indem sie kaum daran denken durfte, was sie tat.

Sie hatte sich zwar voellig ergeben; sie wuenschte fuer Charlotten, fuer das Kind, fuer Eduarden sich auch noch ferner auf das dienstlichste zu bemuehen; aber sie sah nicht ein, wie es moeglich werden wollte.

Nichts konnte sie vor voelliger Verworrenheit retten, als dass sie jeden Tag ihre Pflicht tat.

Ein Sohn war gluecklich zur Welt gekommen, und die Frauen versicherten saemtlich, es sei der ganze leibhafte Vater.

Nur Ottilie konnte es im stillen nicht finden, als sie der Woechnerin Glueck wuenschte und das Kind auf das herzlichste begruesste.

Schon bei den Anstalten zur Verheiratung ihrer Tochter war Charlotten die Abwesenheit ihres Gemahls hoechst fuehlbar gewesen; nun sollte der Vater auch bei der Geburt des Sohnes nicht gegenwaertig sein; er sollte den Namen nicht bestimmen, bei dem man ihn kuenftig rufen wuerde. Der erste von allen Freunden, die sich beglueckwuenschend sehen liessen, war Mittler, der seine Kundschafter ausgestellt hatte, um von diesem Ereignis sogleich Nachricht zu erhalten.

Er fand sich ein, und zwar sehr behaglich.

Kaum dass er seinen Triumph in Gegenwart Ottiliens verbarg, so sprach er sich gegen Charlotten laut aus und war der Mann, alle Sorgen zu heben und alle augenblicklichen Hindernisse beiseitezubringen.

Die Taufe sollte nicht lange aufgeschoben werden.

Der alte Geistliche, mit einem Fuss schon im Grabe, sollte durch seinen Segen das Vergangene mit dem Zukuenftigen zusammenknuepfen; Otto sollte das Kind heissen; es konnte keinen andern Namen fuehren als den Namen des Vaters und des Freundes.

Es bedurfte der entschiedenen Zudringlichkeit dieses Mannes, um die hunderterlei Bedenklichkeiten, das Widerreden, Zaudern, Stocken, Besser—oder Anderswissen, das Schwanken, Meinen, Um—und Wiedermeinen zu beseitigen, da gewoehnlich bei solchen Gelegenheiten aus einer gehobenen Bedenklichkeit immer wieder neue entstehen und, indem man alle Verhaeltnisse schonen will, immer der Fall eintritt, einige zu verletzten.

Alle Meldungsschreiben und Gevatterbriefe uebernahm Mittler; sie sollten gleich ausgefertigt sein, denn ihm war selbst hoechlich daran gelegen, ein Glueck, das er fuer die Familie so bedeutend hielt, auch der uebrigen mitunter misswollenden und missredenden Welt bekanntzumachen.

Und freilich waren die bisherigen leidenschaftlichen Vorfaelle dem Publikum nicht entgangen, das ohnehin in der ueberzeugung steht, alles, was geschieht, geschehe nur dazu, damit es etwas zu reden habe.

Die Feier des Taufaktes sollte wuerdig, aber beschraenkt und kurz sein.

Man kam zusammen, Ottilie und Mittler sollten das Kind als Taufzeugen halten.

Der alte Geistliche, unterstuetzt vom Kirchdiener, trat mit langsamen Schritten heran.

Das Gebet war verrichtet, Ottilien das Kind auf die Arme gelegt, und als sie mit Neigung auf dasselbe heruntersah, erschrak sie nicht wenig an seinen offenen Augen; denn sie glaubte in ihre eigenen zu sehen; eine solche uebereinstimmung haette jeden ueberraschen muessen.

Mittler, der zunaechst das Kind empfing, stutzte gleichfalls, indem er in der Bildung desselben eine so auffallende aehnlichkeit, und zwar mit dem Hauptmann, erblickte, dergleichen ihm sonst noch nie vorgekommen war.

Die Schwaeche des guten alten Geistichen hatte ihn gehindert, die Taufhandlung mit mehrerem als der gewoehnlichen Liturgie zu begleiten.

Mittler indessen, voll von dem Gegenstande, gedachte seiner fruehern Amtsverrichtungen und hatte ueberhaupt die Art, sich sogleich in jedem Falle zu denken, wie er nun reden, wie er sich aeussern wuerde.

Diesmal konnte er sich um so weniger zurueckhalten, als es nur eine kleine Gesellschaft von lauter Freunden war, die ihn umgab.

Er fing daher an, gegen das Ende des Akts mit Behaglichkeit sich an die Stelle des Geistlichen zu versetzen, in einer muntern Rede seine Patenpflichten und Hoffnungen zu aeussern und um so mehr dabei zu verweilen, als er Charlottens Beifall in ihrer zufriedenen Miene zu erkennen glaubte.

Dass der gute alte Mann sich gern gesetzt haette, entging dem ruestigen Redner, der noch viel weniger dachte, dass er ein groesseres uebel hervorzubringen auf dem Wege war; denn nachdem er das Verhaeltnis eines jeden Anwesenden zum Kinde mit Nachdruck geschildert und Ottiliens Fassung dabei ziemlich auf die Probe gestellt hatte, so wandte er sich zuletzt gegen den Greis mit diesen Worten:" und Sie, mein wuerdiger Altvater, koennen nunmehr mit Simeon sprechen; ’Herr, lass deinen Diener in Frieden fahren; denn meine Augen haben den Heiland dieses Hauses gesehen’".

Nun war er im Zuge, recht glaenzend zu schliessen, aber er bemerkte bald, dass der Alte, dem er das Kind hinhielt, sich zwar erst gegen dasselbe zu neigen schien, nachher aber schnell zuruecksank.

Vom Fall kaum abgehalten, ward er in einen Sessel gebracht, und man musste ihn ungeachtet aller augenblicklichen Beihuelfe fuer tot ansprechen.

So unmittelbar Geburt und Tod, Sarg und Wiege nebeneinander zu sehen und zu denken, nicht bloss mit der Einbildungskraft, sondern mit den Augen diese ungeheuern Gegensaetze zusammenzufassen, war fuer die Umstehenden eine schwere Aufgabe, je ueberraschender sie vorgelegt wurde.

Ottilie allein betrachtete den Eingeschlummerten, der noch immer seine freundliche, einnehmende Miene behalten hatte, mit einer Art von Neid.

Das Leben ihrer Seele war getoetet; warum sollte der Koerper noch erhalten werden?

Fuehrten sie auf diese Weise gar manchmal die unerfreulichen Begebenheiten des Tags auf die Betrachtung der Vergaenglichkeit, des Scheidens, des Verlierens, so waren ihr dagegen wundersame naechtliche Erscheinungen zum Trost gegeben, die ihr das Dasein des Geliebten versicherten und ihr eigenes befestigten und belebten.

Wenn sie sich abends zur Ruhe gelegt und im suessen Gefuehl noch zwischen Schlaf und Wachen schwebte, schien es ihr, als wenn sie in einen ganz hellen, doch mild erleuchteten Raum hineinblickte.

In diesem sah sie Eduarden ganz deutlich, und zwar nicht gekleidet, wie sie ihn sonst gesehen, sondern im kriegerischen Anzug, jedesmal in einer andern Stellung, die aber vollkommen natuerlich war und nichts Phantastisches an sich hatte: stehend, gehend, liegend, reitend. Die Gestalt, bis aufs kleinste ausgemalt, bewegte sich willig vor ihr, ohne dass sie das mindeste dazu tat, ohne dass sie wollte oder die Einbildungskraft anstrengte.

Manchmal sah sie ihn auch umgeben, besonders von etwas Beweglichem, das dunkler war als der helle Grund; aber sie unterschied kaum Schattenbilder, die ihr zuweilen als Menschen, als Pferde, als Baeume und Gebirge vorkommen konnten.

Gewoehnlich schlief sie ueber der Erscheinung ein, und wenn sie nach einer ruhigen Nacht morgens wieder erwachte, so war sie erquickt, getroestet; sie fuehlte sich ueberzeugt, Eduard lebe noch, sie stehe mit ihm noch in dem innigsten Verhaeltnis.

Der Fruehling war gekommen, spaeter, aber auch rascher und freudiger als gewoehnlich.

Ottilie fand nun im Garten die Frucht ihres Vorsehens; alles keimte, gruente und bluehte zur rechten Zeit; manches, was hinter wohlangelegten Glashaeusern und Beeten vorbereitet worden, trat nun sogleich der endlich von aussen wirkenden Natur entgegen, und alles, was zu tun und zu besorgen war, blieb nicht bloss hoffnungsvolle Muehe wie bisher, sondern ward zum heitern Genusse.

An dem Gaertner aber hatte sie zu troesten ueber manche durch Lucianens Wildheit entstandene Luecke unter den Topfgewaechsen, ueber die zerstoerte Symmetrie mancher Baumkrone.

Sie machte ihm Mut, dass sich das alles bald wieder herstellen werde; aber er hatte zu ein tiefes Gefuehl, zu einen reinen Begriff von seinem Handwerk, als dass diese Trostgruende viel bei ihm haetten fruchten sollen.

So wenig der Gaertner sich durch andere Liebhabereien und Neigungen zerstreuen darf, so wenig darf er ruhige Gang unterbrochen werden, den die Pflanze zur dauernden oder zur voruebergehenden Vollendung nimmt.

Die Pflanze gleicht den eigensinnigen Menschen, von denen man alles erhalten kann, wenn man sie nach ihrer Art behandelt.

Ein ruhiger Blick, eine stille Konsequenz, in jeder Jahrszeit, in jeder Stunde das ganz Gehoerige zu tun, wird vielleicht von niemand mehr als vom Gaertner verlangt.

Diese Eigenschaften besass der gute Mann in einem hohen Grade, deswegen auch Ottilie so gern mit ihm wirkte; aber sein eigentliches Talent konnte er schon einige Zeit nicht mehr mit Behaglichkeit ausueben.

Denn ob er gleich alles, was die Baum—und Kuechengaertnerei betraf, auch die Erfordernisse eines aeltern Ziergartens, vollkommen zu leisten verstand, wie denn ueberhaupt einem vor dem andern dieses oder jenes gelingt, ob er schon in Behandlung der Orangerie, der Blumenzwiebeln, der Nelken—und Aurikelnstoecke die Natur selbst haette herausfordern koennen, so waren ihm doch die neuen Zierbaeume ud Modeblumen einigermassen fremd geblieben, und er hatte vor dem unendlichen Felde der Botanik, das sich nach der Zeit auftat, und den darin herumsummenden fremden Namen eine Art von Scheu, die ihn verdriesslich machte.

Was die Herrschaft voriges Jahr zu verschreiben angefangen, hielt er um so mehr fuer unnuetzen Aufwand und Verschwendung, als er gar manche kostbare Pflanze ausgehen sah und mit den Handelsgaertnern, die ihn, wie er glaubte, nicht redlich genug bedienten, in keinem sonderlichen Verhaeltnisse stand.

Er hatte sich darueber nach mancherlei Versuchen eine Art von Plan gemacht, in welchem ihn Ottilie um so mehr bestaerkte, als er auf die Wiederkehr Eduards eigentlich gegruendet war, dessen Abwesenheit man in diesem wie in manchem andern Falle taeglich nachteiliger empfinden musste. Indem nun die Pflanzen immer mehr Wurzel schlugen und Zweige trieben, fuehlte sich auch Ottilie immer mehr an diese Raeume gefesselt.

Gerade vor einem Jahre trat sie als Fremdling, als ein unbedeutendes Wesen hier ein; wieviel hatte sie sich seit jener Zeit nicht erworben!

Aber leider wieviel hatte sie nicht auch seit jener Zeit wieder verloren!

Sie war nie so reich und nie so arm gewesen.

Das Gefuehl von beidem wechselte augenblicklich miteinander ab, ja durchkreuzte sich aufs innigste, sodass sie sich nicht anders zu helfen wusste, als dass sie immer wieder das Naechste mit Anteil, ja mit Leidenschaft ergriff.

Dass alles, was Eduarden besonders lieb war, auch ihre Sorgfalt am staerksten an sich zog, laesst sich denken; ja warum sollte sie nicht hoffen, dass er selbst nun bald wiederkommen, dass er die fuersorgliche Dienstlichkeit, die sie dem Abwesenden geleistet, dankbar gegenwaertig bemerken werde?

Aber noch auf eine viel andre Weise war sie veranlasst, fuer ihn zu wirken.

Sie hatte vorzueglich die Sorge fuer das Kind uebernommen, dessen unmittelbare Pflererin sie um so mehr werden konnte, als man es keiner Amme uebergeben, sondern mit Milch und Wasser aufzuziehen sich entschieden hatte.

Es sollte in jener schoenen Zeit der freien Luft geniessen; und so trug sie es am liebsten selbst heraus, trug das schlafende, unbewusste zwischen Blumen und Blueten her, die dereinst seiner Kindheit so freundlich entgegenlachen sollten, zwischen jungen Straeuchen und Pflanzen, die mit ihm in die Hoehe zu wachsen durch ihre Jugend bestimmt schienen.

Wenn sie um sich her sah, so verbarg sie sich nicht, zu welchem grossen, reichen Zustande das Kind geboren sei; denn fast alles, wohin das Auge blickte, sollte dereinst ihm gehoeren.

Wie wuenschenswert war es zu diesem allen, dass es vor den Augen des Vaters, der Mutter aufwaechse und eine erneute, frohe Verbindung bestaetigte!

Ottilie fuehlte dies alles so rein, dass sie sichs als entschieden wirklich dachte und sich selbst dabei gar nicht empfand.

Unter diesem klaren Himmel, bei diesem hellen Sonnenschein ward es ihr auf einmal klar, dass ihre Liebe, um sich zu vollenden, voellig uneigennuetzig werden muesse; ja in manchen Augenblicken glaubte sie diese Hoehe schon erreicht zu haben.

Sie wuenschte nur das Wohl ihres Freundes, sie glaubte sich faehig, ihm zu entsagen, sogar ihn niemals wiederzusehen, wenn sie ihn nur gluecklich wisse.

Aber ganz entschieden war sie fuer sich, niemals einem andern anzugehoeren.

Dass der Herbst ebenso herrlich wuerde wie der Fruehling, dafuer war gesorgt.

Alle sogenannten Sommergewaechse, alles, was im Herbst mit Bluehen nicht enden kann und sich der Kaelte noch keck entgegenentwickelt, Astern besonders, waren in der groessten Mannigfaltigkeit gesaeet und sollten nun, ueberallhin verpflanzt, einen Sternhimmel ueber die Erde bilden.

Einen guten Gedanken, den wir gelegen, etwas Auffallendes, das wir gehoert, tragen wir wohl in unser Tagebuch.

Naehmen wir uns aber zugleich die Muehe, aus den Briefen unserer Freunde eigentuemliche Bemerkungen, originelle Ansichten, fluechtige geistreiche Worte auszuzeichnen, so wuerden wir sehr reich werden.

Briefe hebt man auf, um sie nie wieder zu lesen; man zerstoert sie zuletzt einmal aus Diskretion, und so verschwindet der schoenste, unmittelbarste Lebenshauch unwiederbringlich fuer uns und andre. Ich nehme mir vor, dieses Versaeumnis wiedergutzumachen.

So wiederholt sich denn abermals das Jahresmaerchen von vorn.

Wir sind nun wieder, Gott sei Dank!

An seinem artigsten Kapitel.

Veilchen und Maiblumen sind wie ueberschriften oder Vignetten dazu.

Es macht uns immer einen angenehmen Eindruck, wenn wir sie in dem Buche des Lebens wieder aufschlagen.

Wir schelten die Armen, besonders die Unmuendigen, wenn sie sich an den Strassen herumlegen und betteln.

Bemerken wir nicht, dass sie gleich taetig sind, sobald es was zu tun gibt?

Kaum entfaltet die Natur ihre freundlichen Schaetze, so sind die Kinder dahinterher, um ein Gewerbe zu eroeffnen; keines bettelt mehr, jedes reicht dir einen Strauss; es hat ihn gepflueckt, ehe du vom Schlaf erwachtest, und das Bittende sieht dich so freundlich an wie die Gabe.

Niemand sieht erbaermlich aus, der sich einiges Recht fuehlt, fordern zu duerfen.

Warum nur das Jahr manchmal so kurz, manchmal so lang ist, warum es so kurz scheint und so lang in der Erinnerung!

Mir ist es mit dem vergangenen so, und nirgends auffallender als im Garten, wie Vergaengliches und Dauerndes ineinandergreift.

Und doch ist nichts so fluechtig, das nicht eine Spur, das nicht seinesgleichen zuruecklasse.

Man laesst sich den Winter auch gefallen.

Man glaubt sich freier auszubreiten, wenn die Baeme so geisterhaft, so durchsichtig vor uns stehen.

Sie sind nichts, aber sie denken auch nichts zu.

Wie aber einmal Knospen und Blueten kommen, dann wird man ungeduldig, bis das volle Laub hervortritt, bis die Landschaft sich verkoerpert und der Baum sich als eine Gestalt uns entgegendraengt.

Alles Vollkommene in seiner Art muss ueber seine Art hinausgehen, es muss etwas anderes, Unvergleichbares werden.

In manchen Toenen ist die Nachtigall noch Vogel; dann steigt sie ueber ihre Klasse hinueber und scheint jedem Gefiederten andeuten zu wollen, was eigentlich singen heisse.

Ein Leben ohne Liebe, ohne die Naehe des Geliebten ist nur eine "comedie a tiroir", ein schlechtes Schubladenstueck.

Man schiebt eine nach der andern heraus und wieder hinein und und eilt zur folgenden.

Alles, was auch Gutes und Bedeutendes vorkommt, haengt nur kuemmerlich zusammen.

Man muss ueberall von vorn anfangen und moechte ueberall enden.

Charlotte von ihrer Seite befindet sich munter und wohl.

Sie freut sich an dem tuechtigen Knaben, dessen vielversprechende Gestalt ihr Auge und Gemuet stuendlich beschaeftigt.

Sie erhaelt durch ihn einen neuen Bezug auf die Welt und auf den Besitz.

Ihre alte Taetigkeit regt sich wieder; sie erblickt, wo sie auch hinsieht, im vrgangenen Jahre vieles getan und empfindet Freude am Getanen.

Von einem eigenen Gefuehl belebt, steigt sie zur Mooshuette mit Ottilien und dem Kinde; und indem sie dieses auf den kleinen Tisch als auf einen haeuslichen Altar niederlegt und noch zwei Plaetze leer sieht, gedenkt sie der vorigen Zeiten, und eine neue Hoffnung fuer sie und Ottilien dringt hervor.

Junge Frauenzimmer sehen sich bescheiden vielleicht nach diesem oder jenem Juengling um, mit stiller Pruefung, ob sie ihn wohl zum Gatten wuenschten; wer aber fuer eine Tochter oder einen weiblichen Zoegling zu sorgen hat, schaut in einem weitern Kreis umher.

So ging es auch in diesem Augenblick Charlotten, der eine Verbindung des Hauptmanns mit Ottilien nicht unmoeglich schien, wie sie doch auch schon ehemals in dieser Huette nebeneinander gesessen hatten.

Ihr war nicht unbekannt geblieben, dass jene Aussicht auf eine vorteilhafte Heirat wieder verschwunden sei.

Charlotte stieg weiter, und Ottilie trug das Kind.

Jene ueberliess sich mancherlei Betrachtungen.

Auch auf dem festen Lande gibt es wohl Schiffbruch; sich davon auf das schnellste zu erholen und herzustellen, ist schoen und preiswuerdig.

Ist doch das Leben nur auf Gewinn und Verlust berechnet!

Wer macht nicht irgendeine Anlage und wird darin gestoert!

Wie oft schlaegt man einen Weg ein und wird davon abgeleitet! Wie oft werden wir von einem scharf ins Auge gefassten Ziel abgelenkt, um ein hoeheres zu erreichen!

Der Reisende bricht unterwegs zu seinem hoechsten Verdruss ein Rad und gelangt durch diesen unangenehmen Zufall zu den erfreulichsten Bekanntschaften und Verbindungen, die auf sein ganzes Leben Einfluss haben. Das Schicksal gewaehrt uns unsre Wuensche, aber auf seine Weise, um uns etwas ueber unsere Wuensche geben zu koennen.

Diese und aehnliche Betrachtungen waren es, unter denen Charlotte zum neuen Gebaeude auf der Hoehe gelangte, wo sie vollkommen bestaetigt wurden.

Denn die Umgebung war viel schoener, als man sichs hatte denken koennen.

Alles stoerende Kleinliche war ringsumher entfernt, alles Gute der Landschaft, was die Natur, was die Zeit daran getan hatte, trat reinlich hervor und fiel ins Auge, und schon gruenten die jungen Pflanzungen, die bestimmt waren, einige Luecken auszufuellen und die abgesonderten Teile angenehm zu verbinden.

Das Haus selbst war nahezu bewohnbar, die Aussicht, besonders aus den obern Zimmern, hoechst mannigfaltig.

Je laenger man sich umsah, desto mehr Schoenes entdeckte man.

Was mussten nicht hier die verschiedenen Tagszeiten, was Mond und Sonne fuer Wirkungen hervorbringen!

Hier zu verweilen war hoechst wuenschenswert, und wie schnell ward die Lust zu bauen und zu schaffen in Charlotten wieder erweckt, da sie alle grobe Arbeit getan fand!

Ein Tischer, ein Tapezier, ein Maler, der mit Patronen und leichter Vergoldung sich zu helfen wusste, nur dieser bedurfte man, und in kurzer Zeit war das Gebaeude im Stande.

Keller und Kueche wurden schnell eingerichtet; denn in der Entfernung vom Schlosse musste man alle Beduerfnisse um sich versammeln.

So wohnten die Frauenzimmer mit dem Kinde nun oben, und von diesem Aufenthalt, als von einem neuen Mittelpunkt, eroeffneten sich ihnen unerwartete Spaziergaenge.

Sie genossen vergnueglich in einer hoeheren Region der freien, frischen Luft bei dem schoensten Wetter.

Ottiliens liebster Weg, teils allein, teils mit dem Kinde, ging herunter nach den Platanen auf einem bequemen Fusssteig, der sodann zu dem Punkte leitete, wo einer der Kaehne angewunden war, mit denen man ueberzufahren pflegte.

Sie erfreute sich manchmal einer Wasserfahrt, allein ohne das Kind, weil Charlotte deshalb einige Besorgnis zeigte.

Doch verfehlte sie nicht, taeglich den Gaertner im Schlossgarten zu besuchen und an seiner Sorgfalt fuer die vielen Pflanzenzoeglinge, die nun alle der freien Luft genossen, freundlich teilzunehmen.

In dieser schoenen Zeit kam Charlotten der Besuch eines Englaenders sehr gelegen, der Eduarden auf Reisen kennengelernt, einigemal getroffen hatte und nunmehr neugierig war, die schoenen Anlagen zu sehen, von denen er soviel Gutes erzaehlen hoerte.

Er brachte ein Empfehlungsschreiben vom Grafen mit und stellte zugleich einen stillen, aber sehr gefaelligen Mann als seinen Begleiter vor.

Indem er nun bald mit Charlotten und Ottilien, bald mit Gaertnern und Jaegern, oefters mit seinem Begleiter und manchmal allein die Gegend durchstrich, so konnte man seinen Bemerkungen wohl ansehen, dass er ein Liebhaber und Kenner solcher Anlagen war, der wohl auch manche dergleichen selbst ausgefuehrt hatte.

Obgleich in Jahren, nahm er auf eine heitere Weise an allem teil, was dem Leben zur Zierde gereichen und es bedeutend machen kann.

In seiner Gegenwart genossen die Frauenzimmer erst vollkommen ihrer Umgebung.

Sein geuebtes Auge empfing jeden Effekt ganz frisch, und er hatte um so mehr Freude an dem Entstandenen, als er die Gegend vorher nicht gekannt und, was man daran getan, von dem, was die Natur geliefert, kaum zu unterscheiden wusste.

Man kann wohl sagen, dass durch seine Bemerkungen der Park wuchs und sich bereicherte.

Schon zum voraus erkannte er, was die neuen, heranstrebenden Pflanzungen versprachen.

Keine Stelle blieb ihm unbemerkt, wo noch irgendeine Schoenheit hervorzuheben oder anzubringen war.

Hier deutete er auf eine Quelle, welche, gereinigt, die Zierde einer ganzen Buschpartie zu werden versprach, hier auf eine Hoehle, die, ausgeraeumt und erweitert, einen erwuenschten Ruheplatz geben konnte, indessen man nur wenige Baeume zu faellen brauchte, um von ihr aus herrliche Felsenmassen aufgetuermt zu erblicken.

Er wuenschte den Bewohnern Glueck, dass ihnen so manches nachzuarbeiten uebrigblieb, und ersuchte sie, damit nicht zu eilen, sondern fuer folgende Jahre sich das Vergnuegen des Schaffens und Einrichtens vorzubehalten.

uebrigens war er ausser den geselligen Stunden keineswegs laestig; denn er beschaeftigte sich die groesste Zeit des Tags, die malerischen Aussichten des Parks in einer tragbaren dunklen Kammer aufzufangen und zu reichnen, um dadurch sich und andern von seinen Reisen eine schoene Frucht zu gewinnen.

Er hatte dieses schon seit mehreren Jahren in allen bedeutenden Gegenden getan und sich dadurch die angenehmste und interessanteste Sammlung verschafft.

Ein grosses Portefeuille, das er mit sich fuehrte, zeigte er den Damen vor und unterhielt sie teils durch das Bild, teils durch die Auslegung.

Sie freuten sich, hier in ihrer Einsamkeit die Welt so bequem zu durchreisen, Ufer und Haefen, Berge, Seen und Fluesse, Staedte, Kastelle und manches andre Lokal, das in der Geschichte einen Namen hat, vor sich vorbeiziehen zu sehen.

Jede von beiden Frauen hatte ein besonderes Interesse, Charlotte das allgemeinere, gerade an dem, wo sich etwas historisch Merkwuerdiges fand, waehrend Ottilie sich vorzueglich bei den Gegenden aufhielt, wovon Eduard viel zu erzaehlen pflegte, wo er gern verweilt, wohin er oefters zurueckgekehrt; denn jeder Mensch hat in der Naehe und in der Ferne gewisse oertliche Einzelheiten, die ihn anziehen, die ihm seinem Charakter nach, um des ersten Eindrucks, gewisser Umstaende, der Gewohnheit willen besonders lieb und aufregend sind.

Sie fragte daher den Lord, wo es ihm denn am besten gefalle und wo er nun seine Wohnung aufschlagen wuerde, wenn er zu waehlen haette.

Da wusste er denn mehr als eine schoene Gegend vorzuzeigen und, was ihm dort widerfahren, um sie ihm lieb und wert zu machen, in seinem eigens akzentuierten Franzoesisch gar behaglich mitzuteilen.

Auf die Frage hingegen, wo er sich denn jetzt gewoehnlich aufhalte, wohin er am liebsten zurueckkehre, liess er sich ganz unbewunden, doch den Frauen unerwartet, also vernehmen: "ich habe mir nun angewoehnt, ueberall zu Hause zu sein, und finde zuletzt nichts bequemer, als dass andre fuer mich bauen, pflanzen und sich haeuslich bemuehen.

Nach meinen eigenen Besitzungen sehne ich mich nicht zurueck, teils aus politischen Ursachen, vorzueglich aber, weil mein Sohn, fuer den ich alles eigentlich getan und eingerichtet, dem ich es zu uebergeben, mit dem ich es noch zu geniessen hoffte, an allem keinen Teil nimmt, sondern nach Indien gegangen ist, um sein Leben dort, wie mancher andere, hoeher zu nutzen oder gar zu vergeuden.

Gewiss, wir machen viel zu viel vorarbeitenden Aufwand aufs Leben.

Anstatt dass wir gleich anfingen, uns in einem maessigen Zustand behaglich zu finden, so gehen wir immer mehr ins Breite, um es uns immer unbequemer zu machen.

Wer geniesst jetzt meine Gebaeude, meinen Park, meine Gaerten?

Nicht ich, nicht einmal die Meinigen: fremde Gaeste, Neugierige, unruhige Reisende.

Selbst bei vielen Mitteln sind wir immer nur halb und halb zu Hause, besonders auf dem Lande, wo us manches Gewohnte der Stadt fehlt.

Das Buch, das wir am eifrigsten wuenschten, ist nicht zur Hand, und gerade, was wir am meisten beduerften, ist vergessen.

Wir richten uns immer haeuslich ein, um wieder auszuziehen, und wenn wir es nicht mit Willen und Willkuer tun, so wirken Verhaeltnisse, Leidenschaften, Zufaelle, Notwendigkeit und was nicht alles".

Der Lord ahnete nicht, wie tief durch seine Betrachtungen die Freundinnen getroffen wurden.

Und wie oft kommt nicht jeder in diese Gefahr, der eine allgemeine Betrachtung selbst in einer Gesellschaft, deren Verhaeltnisse ihm sonst bekannt sind, ausspricht!

Charlotten war eine solche zufaellige Verletzung auch durch Wohlwollende und Gutmeinende nichts Neues; und die Welt lag ohnehin so deutlich vor ihren Augen, dass sie keinen besondern Schmerz empfand, wenngleich jemand sie unbedachtsam und ungvorsichtig noetigte, ihren Blick da—oder dorthin auf eine unerfreuliche Stelle zu richten.

Ottilie hingegen, die in halbbewusster Jugend mehr ahnete als sah und ihren Blick wegwenden durfte, ja musste von dem, was sie nicht sehen mochte und sollte, Ottilie ward durch diese traulichen Reden in den schrecklichsten Zustand versetzt; denn es zerriss mit Gewalt vor ihr der anmutige Schleier, und es schien ihr, als wenn alles, was bisher fuer Haus und Hof, fuer Garten, Park und die ganze Umgebung geschehen war, ganz eigentlich umsonst sei, weil der, dem es alles gehoerte, es nicht genoesse, weil auch der, wie der gegenwaertige Gast, zum Herumschweifen in der Welt, und zwar zu dem gefaehrlichsten, durch die Liebsten und Naechsten gedraengt worden.

Sie hatte sich an Hoeren und Schweigen gewoehnt aber sie sass diesmal in der peinlichsten Lage, die durch des Fremden weiteres Gespraech eher vermehrt als vermindert wurde, das er mit heiterer Eigenheit und Bedaechtlichkeit fortsetzte.

"Nun glaub ich", sagte er, "auf dem rechten Wege zu sein, da ich mich immerfort als einen Reisenden betrachte, der vielem entsagt, um vieles zu geniessen.

Ich bin an den Wechsel gewoehnt, ja er wird mir Beduerfnis, wie man in der Oper immer wieder auf eine neue Dekoration wartet, gerade weil schon so viele dagewesen.

Was ich mir von dem besten und dem schlechtesten Wirtshause versprechen darf, ist mir bekannt; es mag so gut oder so schlimm sein, als es will, nirgends find ich das Gewohnte, und am Ende laeuft es auf eins hinaus, ganz von einer notwendigen Gewohnheit oder ganz von der willkuerlichsten Zufaelligkeit abzuhangen.

Wenigstens habe ich jetzt nicht den Verdruss, dass etwas verlegt oder verloren ist, dass mir ein taegliches Wohnzimmer unbrauchbar wird, weil ich es muss reparieren lassen, dass man mir eine liebe Tasse zerbricht und es mir eine ganze Zeit aus keiner andern schmecken will.

Alles dessen bin ich ueberhoben, und wenn mir das Haus ueber dem Kopf zu brennen anfaengt, so packen meine Leute gelassen ein und auf, und wir fahren zu Hofraum und Stadt hinaus.

Und bei allen diesen Vorteilen, wenn ich es genau berechne, habe ich am Ende des Jahres nicht mehr ausgegeben, als es mich zu Hause gekostet haette".

Bei dieser Schilderung sah Ottilie nur Eduarden vor sich, wie er nun auch mit Entbehren und Beschwerde auf ungebahnten Strassen hinziehe, mit Gefahr und Not zu Felde liege und bei soviel Unbestand und Wagnis sich gewoehne, heimatlos und freundlos zu sein, alles wegzuwerfen, nur um nicht verlieren zu koennen.

Gluecklicherweise trennte sich die Gesellschaft fuer einige Zeit.

Ottilie fand Raum, sich in der Einsamkeit auszuweinen.

Gewaltsamer hatte sie kein dumpfer Schmerz ergriffen als diese Klarheit, die sie sich noch klarer zu machen strebte, wie man es zu tun pflegt, dass man sich selbst peinigt, wenn man einmal auf dem Wege ist, gepeinigt zu werden.

Der Zustand Eduards kam ihr so kuemmerlich, so jaemmerlich vor, dass sie sich entschloss, es koste, was es wolle, zu seiner Wiedervereinigung mit Charlotten alles beizutragen, ihren Schmerz und ihre Liebe an irgendeinem stillen Orte zu verbergen und durch irgendeine Art von Taetigkeit zu betriegen.

Indessen hatte der Begleiter des Lords, ein verstaendiger, ruhiger Mann und guter Beobachter, den Missgriff in der Unterhaltung bemerkt und die aehnlichkeit der Zustaende seinem Freunde offenbart.

Dieser wusste nichts von den Verhaeltnissen der Familie; allein jener, den eigentlich auf der Reise nichts mehr interessierte als die sonderbaren Ereignisse, welche durch natuerliche und kuenstliche Verhaeltnisse, durch den Konflikt des Gesetzlichen und des Ungebaendigten, des Verstandes und der Vernunft, der Leidenschaft und des Vorurteils hervorgebracht werden, jener hatte sich schon frueher und mehr noch im Hause selbst mit allem bekannt gemacht, was vorgegangen war und noch vorging.

Dem Lord tat es leid, ohne dass er darueber verlegen gewesen waere.

Man muesste ganz in Gesellschaft schweigen, wenn man nicht manchmal in den Fall kommen sollte; denn nicht allein bedeutende Bemerkungen, sondern die trivialsten aeusserungen koennen auf eine so missklingende Weise mit dem Interesse der Gegenwaertigen zusammentreffen.

"Wir wollen es heute abend wiedergutmachen", sagte der Lord, "und uns aller allgemeinen Gespraeche enthalten.

Geben Sie der Gesellschaft etwas von den vielen angenehmen und bedeutenden Anekdoten und Geschichten zu hoeren, womit Sie Ihr Portefeuille und Ihr Gedaechtnis auf unserer Reise bereichert haben!" Allein auch mit dem besten Vorsatze gelang es den Fremden nicht, die Freunde diesmal mit einer unverfaenglichen Unterhaltung zu erfreuen.

Denn nachdem der Begleiter durch manche sonderbare, bedeutende, heitere, ruehrende, furchtbare Geschichten die Aufmerksamkeit erregt und die Teilnahme aufs hoechste gespannt hatte, so dachte er mit einer zwar sonderbaren, aber sanfteren Begebenheit zu schliessen und ahnete nicht, wie nahe diese seinen Zuhoerern verwandt war.

Zwei Nachbarskinder von bedeutenden Haeusern, Knabe und Maedchen, in verhaeltnismaessigem Alter, um dereinst Gatten zu werden, liess man in dieser angenehmen Aussicht miteinander aufwachsen, und die beiderseitigen Eltern freuten sich einer kuenftigen Verbindung.

Doch man bemerkte gar bald, dass die Absicht zu misslingen schien, indem sich zwischen den beiden trefflichen Naturen ein sonderbarer Widerwille hervortrat.

Vielleicht waren sie einander zu aehnlich.

Beide in sich selbst gewendet, deutlich in ihrem Wollen, fest in ihren Vorsaetzen; jedes einzeln geliebt und geehrt von seinen Gespielen; immer Widersacher, wenn sie zusammen waren, immer aufbauend fuer sich allein, immer wechselsweise zerstoerend, wo sie sich begegneten, nicht wetteifernd nach einem Ziel, aber immer kaempfend um einen Zweck; gutartig durchaus und liebenswuerdig und nur hassend, ja boesartig, indem sie sich aufeinander bezogen.

Diese wunderliche Verhaeltnis zeigte sich schon bei kindischen Spielen, es zeigte sich bei zunehmenden Jahren.

Und wie die Knaben Krieg zu spielen, sich in Parteien zu sondern, einander Schlachten zu liefern pflegen, so stellte sich das trozig mutige Maedchen einst an die Spitze des einen Heers und focht gegen das andre mit solcher Gewalt und Erbitterung, dass dieses schimpflich waere in die Flucht geschlagen worden, wenn ihr einzelner Widersacher sich nicht sehr brav gehalten und seine Gegnerin doch noch zuletzt entwaffnet und gefangengenommen haette.

Aber auch da noch wehrte sie sich so gewaltsam, dass er, um seine Augen zu erhalten und die Feindin doch nicht zu beschaeftigen, sein seidenes Halstuch abreissen und ihr die Haende damit auf den Ruecken binden musste.

Dies verzieh sie ihm nie, ja sie machte so heimliche Anstalten und Versuche, ihn zu beschaedigen, dass die Eltern, die auf diese seltsamen Leidenschaften schon laengst achtgehabt, sich miteinander verstaendigen und beschlossen, die beiden feindlichen Wesen zu trennen und jene lieblichen Hoffnungen aufzugeben.

Der Knabe tat sich in seinen neuen Verhaeltnissen bald hervor. Jede Art von Unterricht schlug bei ihm an.

Goenner und eigene Neigung bestimmten ihn zum Soldatenstande.

ueberall, wo er sich fand, war er geliebt und geehrt.

Seine tuechtige Natur schien nur zum Wohlsein, zum Behagen anderer zu wirken, und er war in sich, ohne deutliches Bewusstsein, recht gluecklich, den einzigen Widersacher verloren zu haben, den die Natur ihm zugedacht hatte.

Das Maedchen dagegen trat auf einmal in einen veraenderten Zustand.

Ihre Jahre, eine zunehmende Bildung und mehr noch ein gewisses inneres Gefuehl zogen sie von den heftigen Spielen hinweg, die sie bisher in Gesellschaft der Knaben auszuueben pflegte.

Im ganzen schien ihr etwas zu fehlen, nichts war um sie herum, das wert gewesen waere, ihren Hass zu erregen.

Liebenswuerdig hatte sie noch niemanden gefunden.

Ein junger Mann, aelter als ihr ehemaliger nachbarlicher Widersacher, von Stand, Vermoegen und Bedeutung, beliebt in der Gesellschaft, gesucht von Frauen, wendete ihr seine ganze Neigung zu.

Es war das erstemal, dass sich ein Freund, ein Liebhaber, ein Diener um sie bemuehte.

Der Vorzug, den er ihr vor vielen gab, die aelter, gebildeter, glaenzender und anspruchsreicher waren als sie, tat ihr gar zu wohl.

Seine fortgesetzte Aufmerksamkeit, ohne dass er zudringlich gewesen waere, sein treuer Beistand bei verschiedenen unangenehmen Zufaellen, sein gegen ihre Eltern zwar ausgesprochnes, doch ruhiges und nur hoffnungsvolles Werben, da sie freilich noch sehr jung war: das alles nahm sie fuer ihn ein, wozu die Gewohnheit, die aeussern, nun von der Welt als bekannt angenommenen Verhaeltnisse das Ihrige beitrugen.

Sie war so oft Braut genannt worden, dass sie sich endlich selbst dafuer hielt, und weder sie noch irgend jemand dachte daran, dass noch eine Pruefung noetig sei, als sie den Ring mit demjenigen wechselte, der so lange Zeit fuer ihren Braeutigam galt.

Der ruhige Gang, den die ganze Sache genommen hatte, war auch durch das Verloebnis nicht beschleunigt worden.

Man liess eben von beiden Seiten alles so fortgewaehren, man freute sich des Zusammenlebens und wollte die gute Jahreszeit durchaus noch als einen Fruehling des kuenftigen ernsteren Lebens geniessen.

Indessen hatte der Entfernte sich zum schoensten ausgebildet, eine verdiente Stufe seiner Lebensbestimmung erstiegen und kam mit Urlaub, die Seinigen zu besuchen.

Auf eine ganz natuerliche, aber doch sonderbare Weise stand er seiner schoenen Nachbarin abermals entgegen.

Sie hatte in der letzten Zeit nur freundliche, braeutliche Familienempfindungen bei sich genaehrt, sie war mit allem, was sie umgab, in uebereinstimmung; sie glaubte gluecklich zu sein und war es auch auf gewisse Weise.

Aber nun stand ihr zum erstenmal seit langer Zeit wieder etwas entgegen: es war nicht hassenswert; sie war des Hasses unfaehig geworden, ja der kindische Hass, der eigentlich nur ein dunkles Anerkennen des inneren Wertes gewesen, aeusserte sich nun in frohem Erstaunen, erfreulichem Betrachten, gefaelligem Eingesthen, halb willigem halb unwilligem und doch notwendigem Annahen, und das alles war wechselseitig.

Eine lange Entfernung gab zu laengeren Unterhaltungen Anlass.

Selbst jene kindische Unvernunft diente den Aufgeklaerteren zu scherzhafter Erinnerung, und es war, als wenn man sich jenen neckischen Hass wenigstens durch eine freundschaftliche, aufmerksame Behandlung vergueten muesse, als wenn jenes gewaltsame Verkennen nunmehr nicht ohne ein ausgesprochenes Anerkennen bleiben duerfe.

Von seiner Seite blieb alles in einem verstaendigen, wuenschenswerten Mass.

Sein Stand, seine Verhaeltnisse, sein Streben, sein Ehrgeiz beschaeftigten ihn so reichlich, dass er die Freundlichkeit der schoenen Braut als eine dankenswerte Zugabe mit Behaglichkeit aufnahm, ohne sie deshalb in irgendeinem Bezug auf sich zu betrachten oder sie ihrem Braeutigam zu missgoennen, mit dem er uebrigens in den besten Verhaeltnissen stand.

Bei ihr hingegen sah es ganz anders aus.

Sie schien sich wie aus einem Traum erwacht.

Der Kampf gegen ihren jungen Nachbar war die erste Leidenschaft gewesen, und dieser heftige Kampf war doch nur, unter der Form des Widerstrebens, eine heftige, gleichsam angeborne Neigung.

Auch kam es ihr in der Erinnerung nicht anders vor, als dass sie ihn immer geliebt habe.

Sie laechelte ueber jenes feindliche Suchen mit den Waffen in der Hand; sie wollte sich des angenehmsten Gefuehls erinnern, als er sie entwaffnete; sie bildete sich ein, die groesste Seligkeit empfunden zu haben, da er sie band, und alles, was sie zu seinem Schaden und Verdruss unternommen hatte, kam ihr nur als unschuldiges Mittel vor, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Sie verwuenschte jene Trennung, sie bejammerte den Schlaf, in den sie verfallen, sie verfluchte die schleppende, traeumerische Gewohnheit, durch die ihr ein so unbedeutender Braeutigam hatte werden koennen; sie war verwandelt, doppelt verwandelt, vorwaerts und rueckwaerts, wie man es nehmen will.

Haette jemand ihre Empfindungen, die sie ganz geheimhielt, entwickeln und mit ihr teilen koennen, so wuerde er sie nicht gescholten haben; denn freilich konnte der Braeutigam die Vergleichung mit dem Nachbar nicht aushalten, sobald man sie nebeneinander sah.

Wenn man dem einen ein gewisses Zutrauen nicht versagen konnte, so erregte der andere das vollste Vertrauen; wenn man den einen gern zur Gesellschaft mochte, so wuenschte man sich den andern zum Gefaehrten; und dachte man gar an hoehere Teilnahme, an ausserordentliche Faelle, so haette man wohl an dem einen gezweifelt, wenn einem der andere vollkommene Gewissheit gab.

Fuer solche Verhaeltnisse ist den Weibern ein besonderer Takt angeboren, und sie haben Ursache sowie Gelegenheit, ihn auszubilden.

Je mehr die schoene Braut solche Gesinnungen bei sich ganz heimlich naehrte, je weniger nur irgend jemand dasjenige auszusprechen im Fall war, was zugunsten des Braeutigams gelten konnte, was Verhaeltnisse, was Pflicht anzuraten und zu gebieten, ja was eine unabaenderliche Notwendigkeit unwiderruflich zu fordern schien, desto mehr beguenstigte das schoene Herz seine Einseitigkeit; und indem sie von der einen Seite durch Welt und Familie, Braeutigam und eigne Zusage unaufloeslich gebunden war, von der andern der emporstrebende Juengling gar kein Geheimnis von seinen Gesinnungen, Planen und Aussichten machte, sich nur als ein treuer und nicht einmal zaertlicher Bruder gegen sie bewies und nun gar von seiner unmittelbaren Abreise die Rede war, so schien es, als ob ihr frueher kindischer Geist mit allen seinen Tuecken und Gewaltsamkeiten wiedererwachte und sich nun auf einer hoeheren Lebensstufe mit Unwillen ruestete, bedeutender und verderblicher zu wirken.

Sie beschloss zu sterben, um den ehemals Gehassten und nun so heftig Geliebten fuer seine Unteilnahme zu strafen und sich, indem sie ihn nicht besitzen sollte, wenigstens mit seiner Einbildungskraft, seiner Reue auf ewig zu vermaehlen.

Er sollte ihr totes Bild nicht loswerden, er sollte nicht aufhoeren, sich Vorwuerfe zu machen, dass er ihre Gesinnungen nicht erkannt, nicht erforscht, nicht geschaetzt habe.

Dieser seltsame Wahnsinn begleitete sie ueberallhin.

Sie verbarg ihn unter allerlei Formen; und ob sie den Menschen gleich wunderlich vorkam, so war niemand aufmerksam oder klug genug, die innere, wahre Ursache zu entdecken.

Indessen hatten sich Freunde, Verwandte, Bekannte in Anordnungen von Mancherlei Festen erschoepft.

Kaum verging ein Tag, dass nicht irgend etwas Neues und Unerwartetes angestellt worden waere.

Kaum war ein schoener Platz der Landschaft, den man nicht ausgeschmueckt und zum Empfang vieler froher Gaeste bereitet haette.

Auch wollte unser junger Ankoemmling noch vor seiner Abreise das Seinige tun und lud das junge Paar mit einem engeren Familienkreise zu einer Wasserlustfahrt.

Man bestieg ein grosses, schoenes, wohlausgeschmuecktes Schiff, eine der Jachten, die einen kleinen Saal und einige Zimmer anbieten und auf das Wasser die Bequemlichkeit des Landes ueberzutragen suchen.

Man fuhr auf dem grossen Strome mit Musik dahin; die Gesellschaft hatte sich bei heisser Tageszeit in den untern Raeumen versammelt, um sich an Geistes—und Gluecksspielen zu ergoetzen.

Der junge Wirt, der niemals untaetig bleiben konnte, hatte sich ans Steuer gesetzt, den alten Schiffsmeister abzuloesen, der an seiner Seite eingeschlafen war; und eben brauchte der Wachende alle seine Vorsicht, da er sich einer Stelle nahte, wo zwei Inseln das Flussbette verengten und, indem sie ihre flachen Kiesufer bald an der einen, bald an der andern Seite hereinstreckten, ein gefaehrliches Fahrwasser zubereiteten.

Fast war der sorgsame und scharfblickende Steurer in Versuchung, den Meister zu wecken, aber er getraute sichs zu und fuhr gegen die Enge.

In dem Augenblick erschien auf dem Verdeck seine schoene Feindin mit einem Blumenkranz in den Haaren.

Sie nahm ihn ab und warf ihn auf den Steuernden.

"Nimm dies zum Andenken!" rief sie aus.

"Stoere mich nicht!" rief er ihr entgegen, indem er den Kranz auffing; "ich bedarf aller meiner Kraefte und meiner Aufmerksamkeit".

-"Ich stoere dich nicht weiter", rief sie; "du siehst mich nicht wieder!" Sie sprachs und eilte nach dem Vorderteil des Schiffs, von da sie ins Wasser sprang.

Einige Stimmen riefen: "rettet!

Rettet!

Sie ertrinkt".

Er war in der entsetzlichsten Verlegenheit.

ueber dem Laerm erwacht der alte Schiffsmeister, will das Ruder ergreifen, der juengere es ihm uebergeben, aber es ist keine Zeit, die Herrschaft zu wechseln: das Schiff strandet, und in eben dem Augenblick, die laestigsten Kleidungsstuecke wegwerfend, stuerzte er sich ins Wasser und schwamm der schoenen Feinden nach.

Das Wasser ist ein freundliches Element fuer den, der damit bekannt ist und es zu behandeln weiss.

Es trug ihn, und der geschickte Schwimmer beherrschte es.

Bald hatte er die vor ihm fortgerissene Schoene erreicht; er fasste sie, wusste sie zu heben und zu tragen; beide wurden vom Strom gewaltsam fortgerissen, bis sie die Inseln, die Werder weit hinter sich hatten und der Fluss wieder breit und gemaechlich zu fliessen anfing.

Nun erst ermannte, nun erholte er sich aus der ersten zudringenden Not, in der er ohne Besinnung nur mechanisch gehandelt; er blickte mit emporstrebendem Haupt umher und ruderte nach Vermoegen einer flachen, buschichten Stelle zu, die sich angenehm und gelegen in den Fluss verlief.

Dort brachte er seine schoene Beute aufs Trockne; aber kein Lebenshauch war in ihr zu spueren.

Er war in Verzweiflung, als ihm ein betretener Pfad, der durchs Gebuesch lief, in die Augen leuchtete.

Er belud sich aufs neue mit der teuren Last, er erblickte bald eine einsame Wohnung und erreichte sie.

Dort fand er gute Leute, ein junges Ehepaar.

Das Unglueck, die Not sprach sich geschwind aus.

Was er nach einiger Besinnung forderte, ward geleistet.

Ein lichtes Feuer brannte, wollne Decken wurden ueber ein Lager gebreitet, Pelze, Felle und was Erwaermendes vorraetig war, schnell herbeigetragen.

Hier ueberwand die Begierde zu retten jede andre Betrachtung.

Nichts ward versaeumt, den schoenen, halbstarren, nackten Koerper wieder ins Leben zu rufen.

Es gelang.

Sie schlug die Augen auf, sie erblickte den Freund, umschlang seinen Hals mit ihren himmlischen Armen.

So blieb sie lange; ein Traenenstrom stuerzte aus ihren Augen und vollendete ihre Genesung.

"Willst du mich verlassen", rief sie aus, "da ich dich so wiederfinde?"—"Niemals", rief er, "niemals!" und wusste nicht, was er sagte noch was er tat.

"Nur schone dich", rief er hinzu, "schone dich!

Denke an dich um deinet—und meinetwillen".

Sie dachte nun an sich und bemerkte jetzt erst den Zustand, in dem sie war.

Sie konnte sich vor ihrem Liebling, ihrem Retter nicht schaemen; aber sie entliess ihn gern, damit er fuer sich sorgen moege; denn noch war, was ihn umgab, nass und triefend.

Die jungen Eheleute beredeten sich; er bot dem Juengling und sie der Schoenen das Hochzeitskleid an, das noch vollstaendig dahing, um ein Paar von Kopf zu Fuss und von innen heraus zu bekleiden.

In kurzer Zeit waren die beiden Abenteurer nicht nur angezogen, sondern geputzt.

Sie sahen allerliebst aus, staunten einander an, als sie zusammentraten, und fielen sich mit unmaessiger Leidenschaft, und doch halb laechelnd ueber die Vermummung, gewaltsam in die Arme.

Die Kraft der Jugend und die Regsamkeit der Liebe stellten sie in wenigen Augenblicken voellig wieder her, und es fehlte nur die Musik, um sie zum Tanz aufzufordern.

Sich vom Wasser zur Erde, vom Tode zum Leben, aus dem Familienkreise in eine Wildnis, aus der Verzweiflung zum Entzuecken, aus der Gleichgueltigkeit zur Neigung, zur Leidenschaft gefunden zu haben, alles in einem Augenblick—der Kopf waere nicht hinreichend, das zu fassen; er wuerde zerspringen oder sich verwirren.

Hiebei muss das Herz das Beste tun, wenn eine solche ueberraschung ertragen werden soll.

Ganz verloren eins ins andere, konnten sie erst nach einiger Zeit an die Angst, an die Sorgen der Zurueckgelassenen denken, und fast konnten sie selbst nicht ohne Angst, ohne Sorge daran denken, wie sie jenen wiederbegegnen wollten.

"Sollen wir fliehen?

Sollen wir uns verbergen?" sagte der Juengling.

"Wir wollen zusammenbleiben", sagte sie, indem sie an seinem Hals hing.

Der Landmann, der von ihnen die Geschichte des gestrandeten Schiffs vernommen hatte, eilte, ohne weiter zu fragen, nach dem Ufer.

Das Fahrzeug kam gluecklich einhergeschwommen; es war mit vieler Muehe losgebracht worden.

Man fuhr aufs ungewisse fort, in Hoffnung, die Verlornen wiederzufinden.

Als daher der Landmann mit Rufen und Winken die Schiffenden aufmerksam machte, an eine Stelle lief, wo ein vorteilhafter Landungsplatz sich zeigte, und mit Winken und Rufen nicht aufhoerte, wandte sich das Schiff nach dem Ufer, und welch ein Schauspiel ward es, da sie landeten!

Die Eltern der beiden Verlobten draengten sich zuerst ans Ufer; den liebenden Braeutigam hatte fast die Besinnung verlassen.

Kaum hatten sie vernommen, dass die lieben Kinder gerettet seien, so traten diese in ihrer sonderbaren Verkleidung aus dem Busch hervor.

Man erkannte sie nicht eher, als bis sie ganz herangetreten waren.

"Wenn seh ich?" riefen die Muetter.

"Was seh ich?" riefen die Vaeter.

Die Geretteten warfen sich vor ihnen nieder.

"Eure Kinder!" riefen sie aus, "ein Paar".

-"Verzeiht!" rief das Maedchen.

"Gebt uns Euren Segen!" rief der Juengling.

"Gebt uns Euren Segen!" riefen beide, da alle Welt staunend verstummte.

"Euren Segen!" ertoente es zum drittenmal, und wer haette den versagen koennen!

Der Erzaehlende machte eine Pause oder hatte vielmehr schon geendigt, als er bemerken musste, dass Charlotte hoechst bewegt sei; ja sie stand auf und verliess mit einer stummen Entschuldigung das Zimmer; denn die Geschichte war ihr bekannt.

Diese Begebenheit hatte sich mit dem Hauptmann und einer Nachbarin wirklich zugetragen, zwar nicht ganz wie sie der Englaender erzaehlte, doch war sie in den Hauptzuegen nicht entstellt, nur im einzelnen mehr ausgebildet und ausgeschmueckt, wie es dergleichen Geschichten zu gehen pflegt, wenn sie erst durch den Mund der Menge und sodann durch die Phantasie eines geist—und geschmackreichen Erzaehlers durchgehen.

Es bleibt zuletzt meist alles und nichts, wie es war.

Ottilie folgte Charlotten, wie es die beiden Fremden selbst verlangten, und nun kam der Lord an die Reihe zu bemerken, dass vielleicht abermals ein Fehler begangen, etwas dem Hause Bekanntes oder gar Verwandtes erzaehlt worden.

"Wir muessen uns hueten", fuhr er fort, "dass wir nicht noch mehr uebles stiften.

Fuer das viele Gute und Angenehme, das wir hier genossen, scheinen wir den Bewohnerinnen wenig Glueck zu bringen; wir wollen uns auf eine schickliche Weise zu empfehlen suchen".

"Ich muss gestehen", versetzte der Begleiter, "dass mich hier noch etwas anderes festhaelt, ohne dessen Aufklaerung und naehere Kenntnis ich dieses Haus nicht gern verlassen moechte.

Sie waren gestern, Mylord, als wir mit der tragbaren dunklen Kammer durch den Park zogen, viel zu beschaeftigt, sich einen wahrhaft malerischen Standpunkt auszuwaehlen, als dass Sie haetten bemerken sollen, was nebenher vorging.

Sie lenkten vom Hauptwege ab, um zu einem wenig besuchten Platze am See zu gelangen, der Ihnen ein reizendes Gegenueber anbot.

Ottilie, die uns begleitete, stand an zu folgen und bat, sich auf dem Kahne dorthin begeben zu duerfen.

Ich setzte mich mit ihr ein und hatte meine Freude an der Gewandtheit der schoenen Schifferin.

Ich versicherte ihr, dass ich seit der Schweiz, wo auch die reizendsten Maedchen die Stelle des Faehrmanns vertreten, nicht so angenehm sei ueber die Wellen geschaukelt worden, konnte mich aber nicht enthalten, sie zu fragen, warum sie eigentlich abgelehnt, jenen Seitenweg zu machen; denn wirklich war in ihrem Ausweichen eine Art von aengstlicher Verlegenheit.

’Wenn Sie mich nicht auslachen wollen’, versetzte sie freundlich, ’so kann ich Ihnen darueber wohl einige Auskunft geben, obgleich selbst fuer mich dabei ein Geheimnis obwaltet.

Ich habe jenen Nebenweg niemals betreten, ohne dass mich ein ganz eigener Schauer ueberfallen haette, den ich sonst nirgends empfinde und den ich mir nicht zu erklaeren weiss.

Ich vermeide daher lieber, mich einer solchen Empfindung auszusetzen, um so mehr, als sich gleich darauf ein Kopfweh an der linken Seite einstellt, woran ich sonst auch manchmal leide’.

Wir landeten, Ottilie unterhielt sich mit Ihnen, und ich untersuchte indes die Stelle, die sie mir aus der Ferne deutlich angegeben hatte.

Aber wie gross war meine Verwunderung, als ich eine sehr deutliche Spur von Steinkohlen entdeckte, die mich ueberzeugt, man wuerde bei einigem Nachgraben vielleicht ein ergiebiges Lager in der Tiefe finden. Verzeihen Sie, Mylord, ich sehe Sie laecheln und weiss recht gut, dass Sie mir eine leidenschaftliche Aufmerksamkeit auf diese Dinge, an die Sie keinen Glauben haben, nur als weiser Mann und als Freund nachsehen; aber es ist mir unmoeglich, von hier zu scheiden, ohne das schoene Kind auch die Pendelschwingungen versuchen zu lassen".

Es konnte niemals fehlen, wenn die Sache zur Sprache kam, dass der Lord nicht seine Gruende dagegen abermals wiederholte, welche der Begleiter bescheiden und geduldig aufnahm, aber doch zuletzt bei seiner Meinung, bei seinen Wuenschen verharrte.

Auch er gab wiederholt zu erkennen, dass man deswegen, weil solche Versuche nicht jedermann gelaengen, die Sache nicht aufgeben, ja vielmehr nur desto ernsthafter und gruendlicher untersuchen muesste, da sich gewiss noch manche Bezuege und Verwandtschaften unorganischer Wesen untereinander, organischer gegen sie und abermals untereinander offenbaren wuerden, die uns gegenwaertig verborgen seien.

Er hatte seinen Apparat von goldnen Ringen, Markasiten und andern metallischen Substanzen, den er in einem schoenen Kaestchen immer bei sich fuehrte, schon ausgebreitet und liess nun Metalle, an Faeden schwebend, ueber liegende Metalle zum Versuche nieder.

"Ich goenne Ihnen die Schadenfreude, Mylord", sagte er dabei, "die ich auf Ihrem Gesichte lese, dass sich bei mir und fuer mich nichts bewegen will.

Meine Operation ist aber auch nur ein Vorwand.

Wenn die Damen zurueckkehren, sollen sie neugierig werden, was wir Wunderliches hier beginnen".

Die Frauenzimmer kamen zurueck.

Charlotte verstand sogleich, was vorging.

"Ich habe manches von diesen Dingen gehoert", sagte sie, "aber niemals eine Wirkung gesehen.

Da Sie alles so huebsch bereit haben, lassen Sie mich versuchen, ob es mir nicht auch anschlaegt".

Sie nahm den Faden in die Hand, und da es ihr Ernst war, hielt sie ihn stet und ohne Gemuetsbewegung; allein auch nicht das mindeste Schwanken war zu bemerken.

Darauf ward Ottilie veranlasst.

Sie hielt den Pendel noch ruhiger, unbefangener, unbewusster ueber die unterliegenden Metalle.

Aber in dem Augenblicke ward das Schwebende wie in einem entschiedenen Wirbel fortgerissen und drehte sich, je nachdem man die Unterlage wechselte, bald nach der einen, bald nach der andern Seite, jetzt in Kreisen, jetzt in Ellipsen, oder nahm seinen Schwung in graden Linien, wie es der Begleiter nur erwarten konnte, ja ueber alle seine Erwartung.

Der Lord selbst stutzte einigermassen, aber der andere konnte vor Lust und Begierde gar nicht enden und bat immer um Wiederholung und Vermannigfaltigung der Versuche.

Ottilie war gefaellig genug, sich in sein Verlangen zu finden, bis sie ihn zuletzt freundlich ersuchte, er moege sie entlassen, weil ihr Kopfweh sich wieder einstelle.

Er, daueber verwundert, ja entzueckt, versicherte ihr mit Enthusiasmus, dass er sie von diesem uebel voellig heilen wolle, wenn sie sich seiner Kurart anvertraue.

Man war einen Augenblick ungewiss; Charlotte aber, die geschwind begriff, wovon die Rede sei, lehnte den wohlgesinnten Antrag ab, weil sie nicht gemeint war, in ihrer Umgebung etwas zuzulassen, wovor sie immerfort eine starke Apprehension gefuehlt hatte.

Die Fremden hatten sich entfernt und, ungeachtet man von ihnen auf eine sonderbare Weise beruehrt worden war, doch den Wunsch zurueckgelassen, dass man sie irgendwo wieder antreffen moechte.

Charlotte benutzte nunmehr die schoenen Tage, um in der Nachbarschaft ihre Gegenbesuche zu enden, womit sie kaum fertig werden konnte, indem sich die ganze Landschaft umher, einige wahrhaft teilnehmend, andre bloss der Gewohnheit wegen, bisher fleissig um sie bekuemmert hatten.

Zu Hause belebte sie der Anblick des Kindes; es war gewiss jeder Liebe, jeder Sorgfalt wert.

Man sah in ihm ein wunderbares, ja ein Wunderkind, hoechst erfreulich dem Anblick, an Groesse, Ebenmass, Staerke und Gesundheit; und was noch mehr in Verwunderung setzte, war jene doppelte aehnlichkeit, die sich immer mehr entwickelte.

Den Gesichtszuegen und der ganzen Form nach glich das Kind immer mehr dem Hauptmann, die Augen liessen sich immer weniger von Ottiliens Augen unterscheiden.

Durch diese sonderbare Verwandtschaft und vielleicht noch mehr durch das schoene Gefuehl der Frauen geleitet, welche das Kind eines geliebten Mannes, auch von einer andern, mit zaertlicher Neigung umfangen, ward Ottilie dem heranwachsenden Geschoepf soviel als eine Mutter oder vielmehr eine andre Art von Mutter.

Entfernte sich Charlotte, so blieb Ottilie mit dem Kinde und der Waerterin allein.

Nanny hatte sich seit einiger Zeit, eifersuechtig auf den Knaben, dem ihre Herrin alle Neigung zuzuwenden schien, trotzig von ihr entfernt und war zu ihren Eltern zurueckgekehrt.

Ottilie fuhr fort, das Kind in die freie Luft zu tragen, und gewoehnte sich an immer weitere Spaziergaenge.

Sie hatte das Milchflaeschchen bei sich, um dem Kinde, wenn es noetig, seine Nahrung zu reichen.

Selten unterliess sie dabei, ein Buch mitzunehmen, und so bildete sie, das Kind auf dem Arm, lesend und wandelnd, eine gar anmutige Penserosa.

Der Hauptzweck des Feldzugs war erreicht und Eduard, mit Ehrenzeichen geschmueckt, ruehmlich entlassen.

Er begab sich sogleich wieder auf jenes kleine Gut, wo er genaue Nachrichten von den Seinigen fand, die er, ohne dass sie es bemerkten und wussten, scharf hatte beobachten lassen.

Sein stiller Aufenthalt blickte ihm aufs freundlichste entgegen; denn man hatte indessen nach seiner Anordnung manches eingerichtet, gebessert und gefoerdert, sodass die Anlagen und Umgebungen, was ihnen an Weite und Breite fehlte, durch das Innere und zunaechst Geniessbare ersetzten.

Eduard, durch einen raschen Lebensgang an entschiedenere Schritte gewoehnt, nahm sich nunmehr vor, dasjenige auszufuehren, was er lange genug zu ueberdenken Zeit gehabt hatte.

Vor allen Dingen berief er den Major.

Die Freude des Wiedersehens war gross.

Jugendfreundschaften wie Blutsverwandtschaften haben den bedeutenden Vorteil, dass ihnen Irrungen und Missverstaendnisse, von welcher Art sie auch seien, niemals von Grund aus schaden und die alten Verhaeltnisse sich nach einiger Zeit wiederherstellen.

Zum frohen Mepfang erkundigte sich Eduard nach dem Zustande des Freundes und vernahm, wie vollkommen nach seinen Wuenschen ihn das Glueck beguenstigt habe.

Halb scherzend vertraulich fragte Eduard sodann, ob nicht auch eine schoene Verbindung im Werke sei.

Der Freund verneinte es mit bedeutendem Ernst.

"Ich kann und darf nicht hinterhaltig sein", fuhr Eduard fort; "ich muss dir meine Gesinnungen und Vorsaetze sogleich entdecken.

Du kennst meine Leidenschaft fuer Ottilien und hast laengst begriffen, dass sie es ist, die mich in diesen Feldzug gestuerzt hat.

Ich leugne nicht, dass ich gewuenscht hatte, ein Leben loszuwerden, das mir ohne sie nichts weiter nuetze war; allein zugleich muss ich dir gestehen, dass ich es nicht ueber mich gewinnen konnte, vollkommen zu verzweifeln.

Das Glueck mit ihr war so schoen, so wuenschenswert, dass es mir unmoeglich blieb, voellig Verzicht darauf zu tun.

So manche troestliche Ahnung, so manches heitere Zeichen hatte mich in dem Glauben, in dem Wahn bestaerkt, Ottilie koenne die Meine werden.

Ein Glas mit unserm Namenszug bezeichnet, bei der Grundsteinlegung in die Luefte geworfen, ging nicht zu Truemmern; es ward aufgefangen und ist wieder in meinen Haenden.

’So will ich mich denn selbst’, rief ich mir zu, als ich an diesem einsamen Orte soviel zweifelhafte Stunden verlebt hatte, ’mich selbst will ich an die Stelle des Glases zum Zeichen machen, ob unsre Verbindung moeglich sei oder nicht.

Ich gehe hin und suche den Tod, nicht als ein Rasender, sondern als einer, der zu leben hofft.

Ottilie soll der Preis sein, um den ich kaempfe; sie soll es sein, die ich hinter jeder feindlichen Schlachtordnung, in jeder Verschanzung, in jeer belagerten Festung zu gewinnen, zu erobern hoffe.

Ich will Wunder tun mit dem Wunsche, verschont zu bleiben, im Sinne, Ottilien zu gewinnen, nicht sie zu verlieren’.

Diese Gefuehle haben mich geleitet, sie haben mir durch alle Gefahren beigestanden; aber nun finde ich mich auch wie einen, der zu seinem Ziele gelangt ist, der alle Hindernisse ueberwunden hat, dem nun nichts mehr im Wege steht.

Ottilie ist mein, und was noch zwischen diesem Gedanken und der Ausfuehrung liegt, kann ich nur fuer nichts bedeutend ansehen".

"Du loeschest", versetzte der Major, "mit wenig Zuegen alles aus, was man dir entgegensetzen koennte und sollte; und doch muss es wiederholt werden.

Das Verhaeltnis zu deiner Frau in seinem ganzen Werte dir zurueckzurufen, ueberlasse ich dir selbst; aber du bist es ihr, du bist es dir schuldig, dich hierueber nicht zu verdunkeln.

Wie kann ich aber nur gedenken, dass euch ein Sohn gegeben ist, ohne zugleich auszusprechen, dass ihr einander auf immer angehoert, dass ihr um dieses Wesens willen schuldig seid, vereint zu leben, damit ihr vereint fuer seine Erziehung und fuer sein kuenftiges Wohl sorgen moeget". "Es ist bloss ein Duenkel der Eltern", versetzte Eduard, "wenn sie sich einbilden, dass ihr Dasein fuer die Kinder so noetig sei.

Alles, was lebt, findet Nahrung und Beihuelfe; und wenn der Sohn nach dem fruehen Tode des Vaters keine so bequeme, so beguenstigte Jugend hat, so gewinnt er vielleicht ebendeswegen an schnellerer Bildung fuer die Welt, durch zeitiges Anerkennen, dass er sich in andere schicken muss, was wir denn doch frueher oder spaeter alle lernen muessen.

Und hievon ist ja die Rede gar nicht: wir sind reich genug, um mehrere Kinder zu versorgen, und es ist keineswegs Pflicht noch Wohltat, auf Ein Haupt so viele Gueter zu haeufen".

Als der Major mit einigen Zuegen Charlottens Wert und Eduards lange bestandenes Verhaeltnis zu ihr anzudeuten gedachte, fiel ihm Eduard hastig in die Rede: "wir haben eine Torheit begangen, die ich nur allzuwohl einsehe.

Wer in einem gewissen Alter fruehere Jugendwuensche und Hoffnungen realisieren will, betriegt sich immer; denn jedes Jahrzehnt des Menschen hat sein eigenes Glueck, seine eigenen Hoffnungen und Aussichten.

Wehe dem Menschen, der vorwaerts oder rueckwaerts zu greifen durch Umstaende oder durch Wahn veranlasst wird!

Wir haben eine Torheit begangen; soll sie es denn fuers ganze Leben sein?

Sollen wir uns aus irgendeiner Art von Bedenklichkeit dasjenige versagen, was uns die Sitten der Zeit nicht absprechen?

In wie vielen Dingen nimmt der Mensch seinen Vorsatz, seine Tat zurueck, und hier gerade sollte es nicht geschehen, wo vom Ganzen und nicht vom Einzelnen, wo nicht von dieser oder jener Bedingung des Lebens, wo vom ganzen Komplex des Lebens die Rede ist!" Der Major verfehlte nicht, auf eine ebenso geschickte als nachdrueckliche Weise Eduarden die verschiedenen Bezuege zu seiner Gemahlin, zu den Familien, zu der Welt, zu seinen Besitzungen vorzustellen; aber es gelang ihm nicht, irgendeine Teilnahme zu erregen.

"Alles dieses, mein Freund", erwiderte Eduard, "ist mir vor der Seele vorbeigegangen, mitten im Gewuehl der Schlacht, wenn die Erde vom anhaltenden Donner bebte, wenn die Kugeln sausten und pfiffen, rechts und links die Gefaehrten niederfielen, mein Pferd getroffen, mein Hut durchloechert ward; es hat mir vorgeschwebt beim stillen naechtlichen Feuer unter dem gestirnten Gewoelbe des Himmels.

Dann traten mir alle meine Verbindungen vor die Seele; ich habe sie durchgedacht, durchgefuehlt; ich habe mir zugeeignet, ich habe mich abgefunden, zu wiederholten Malen, und nun fuer immer.

In solchen Augenblicken, wie kann ich dirs verschweigen, warst auch du mir gegenwaertig, auch du gehoertest in meinen Kreis; und gehoeren wir denn nicht schon lange zueinander?

Wenn ich dir etwas schluldig geworden, so komme ich jetzt in den Fall, dir es mit Zinsen abzutragen; wenn du mir je etwas schuldig geworden, so siehst du dich nun imstande, mir es zu vergelten.

Ich weiss, du liebst Charlotten, und sie verdient es; ich weiss, du bist ihr nicht gleichgueltig, und warum sollte sie deinen Wert nicht erkennen!

Nimm sie von meiner Hand, fuehre mir Ottilien zu!

Und wir sind die gluecklichsten Menschen auf der Erde".

"Eben weil du mich mit so hohen Gaben bestechen willst", versetzte der Major, "muss ich desto vorsichtiger, desto strenger sein.

Anstatt dass dieser Vorschlag, den ich still verehre, die Sache erleichtern moechte, erschwert er sie vielmehr.

Es ist, wie von dir, nun auch von mir die Rede, und so wie von dem Schicksal, so auch von dem guten Namen, von der Ehre zweier Maenner, die, bis jetzt unbescholten, durch diese wunderliche Handlung, wenn wir sie auch nicht anders nennen wollen, in Gefahr kommen, vor der Welt in einem hoechst seltsamen Lichte zu erscheinen".

"Eben dass wir unbescholten sind", versetzte Eduard, "gibt uns das Recht, uns auch einmal schelten zu lassen.

Wer sich sein ganzes Leben als einen zuverlaessigen Mann bewiesen, der macht eine Handlung zuverlaessig, die bei andern zweideutig erscheinen wuerde.

Was mich betrifft, ich fuehle mich durch die letzten Pruefungen, die ich mir auferlegt, durch die schwierigen, gefahrvollen Taten, die ich fuer andere getan, berechtigt, auch etwas fuer mich zu tun. Was dich und Charlotten betrifft, so sei es der Zukunft anheimgegeben; mich aber wirst du, wird niemand von meinem Vorsatze zurueckhalten.

Will man mir die Hand bieten, so bin ich auch wieder zu allem erboetig; will man mich mir selbst ueberlassen oder mir wohl gar entgegen sein, so muss ein Extrem entstehen, es werde auch, wie es wolle".

Der Major hielt es fuer seine Pflicht, dem Vorsatz Eduards solange als moeglich Widerstand zu leisten, und er bediente sich nun gegen seinen Freund einer klugen Wendung, indem er nachzugeben schien und nur die Form, den Geschaeftsgang zur Sprache brachte, durch welchen man diese Trennung, diese Verbindungen erreichen sollte.

Da trat denn so manches Unerfreuliche, Beschwerliche, Unschickliche hervor, dass sich Eduard in die schlimmste Laune versetzt fuehlte.

"Ich sehe wohl", rief dieser endlich, "nicht allein von Feinden, sondern auch von Freunden muss, was man wuenscht, erstuermt werden.

Das, was ich will, was mir unentbehrlich ist, halte ich fest im Auge; ich werde es ergreifen und gewiss bald und behende.

Dergleichen Verhaeltnisse, weiss ich wohl, heben sich nicht auf und bilden sich nicht, ohne dass manches falle, was steht, ohne dass manches weiche, was zu beharren Lust hat.

Durch ueberlegung wird so etwas nicht geendet; vor dem Verstande sind alle Rechte gleich, und auf die steigende Waagschale laesst sich immer wieder ein Gegengewicht legen.

Entschliesse dich also, mein Freund, fuer mich, fuer dich zu handeln, fuer mich, fuer dich diese Zustaende zu entwirren, aufzuloesen, zu verknuepfen!

Lass dich durch keine Betrachtungen abhalten; wir haben die Welt ohnehin schon von uns reden machen; sie wird noch einmal von uns reden, uns sodann, wie alles uebrige, was aufhoert neu zu sein, vergessen und uns gewaehren lassen, wie wir koennen, ohne weitern Teil an uns zu nehmen".

Der Major hatte keinen andern Ausweg und musste endlich zugeben, dass Eduard ein fuer allemal die Sache als etwas Bekanntes und Vorausgesetztes behandelte, dass er, wie alles anzustellen sei, im einzelnen durchsprach und sich ueber die Zukunft auf das heiterste, sogar in Scherzen erging.

Dann wieder ernsthaft und nachdenklich fuhr er fort: "wollten wir uns der Hoffnung, der Erwartung ueberlassen, dass alles sich von selbst wieder finden, dass der Zufall uns leiten und beguenstigen solle, so waere dies ein straeflicher Selbstbetrug.

Auf diese Weise koennen wir uns unmoeglich retten, unsre allseitige Ruhe nicht wiederherstellen; und wie sollte ich troesten koennen, da ich unschuldig die Schuld an allem bin!

Durch meine Zudringlichkeit habe ich Charlotten vermocht, dich ins Haus zu nehmen, und auch Ottilie ist nur in Gefolg von dieser Veraenderung bei uns eingetreten.

Wir sind nicht mehr Herr ueber das, was daraus entsprungen ist, aber wir sind Herr, es unschaedlich zu machen, die Verhaeltnisse zu unserm Gluecke zu leiten.

Magst du die Augen von den schoenen und freundlichen Aussichten abwenden, die ich uns eroeffne, magst du mir, magst du uns allen ein trauriges Entsagen gebieten, insofern du dirs moeglich denkst, insofern es moeglich waere: ist denn nicht auch alsdann, wenn wir uns vornehmen, in die alten Zustaende zurueckzukehren, manches Unschickliche, Unbequeme, Verdriessliche zu uebertragen, ohne dass irgend etwas Gutes, etwas Heiteres daraus entspraenge?

Wuerde der glueckliche Zustand, in dem du dich befindest, dir wohl Freude machen, wenn du gehindert waerst, mich zu besuchen, mit mir zu leben?

Und nach dem, was vorgegangen ist, wuerde es doch immer peinlich sein.

Charlotte und ich wuerden mit allem unserm Vermoegen uns nur in einer traurigen Lage befinden.

Und wenn du mit andern Weltmenschen glauben magst, dass Jahre, dass Entfernung solche Empfindungen abstumpfen, so tief eingegrabene Zuege ausloeschen, so ist ja eben von diesen Jahren die Rede, die man nicht in Schmerz und Entbehren, sondern in Freude und Behagen zubringen will.

Und nun zuletzt noch das Wichtigste auszusprechen: wenn wir auch unserm aeussern und innern Zustande nach das allenfalls abwarten koennten, was soll aus Ottilien werden, die unser Haus verlassen, in der Gesellschaft unserer Vorsorge entbehren und sich in der verruchten, kalten Welt jaemmerlich herumdruecken muesste!

Male mir einen Zustand, worin Ottilie ohne mich, ohne uns gluecklich sein koennte, dann sollst du ein Argument ausgesprochen haben, das staerker ist als jedes andre, das ich, wenn ichs auch nicht zugeben, mich ihm nicht ergeben kann, dennoch recht gern aufs neue in Betrachtung und ueberlegung ziehen will".

Diese Aufgabe war so leicht nicht zu loesen, wenigstens fiel dem Freunde hierauf keine hinlaengliche Antwort ein, und es blieb ihm nichts uebrig, als wiederholt einzuschaerfen, wie wichtig, wie bedenklich und in manchem Sinne gefaehrlich das ganze Unternehmen sei, und dass man wenigstens, wie es anzugreifen waere, auf das ernstlichste zu bedenken habe.

Eduard liess sichs gefallen, doch nur unter der Bedingung, dass ihn der Freund nicht eher verlassen wolle, als bis sie ueber die Sache voellig einig geworden und die ersten Schritte getan seien.

Voellig fremde und gegeneinander gleichgueltige Menschen, wenn sie eine Zeitlang zusammenleben, kehren ihr Inneres wechselseitig heraus, und es muss eine gewisse Vertraulichkeit entstehen.

Um so mehr laesst sich erwarten, dass unsern beiden Freunden, indem sie wieder nebeneinander wohnten, taeglich und stuendlich zusammen umgingen, gegenseitig nichts verborgen blieb.

Sie wiederholten das Andenken ihrer frueheren Zustaende, und der Major verhehlte nicht, dass Charlotte Eduarden, als er von Reisen zurueckgekommen, Ottilien zugedacht, dass sie ihm das schoene Kind in der Folge zu vermaehlen gemeint habe.

Eduard, bis zur Verwirrung entzueckt ueber diese Entdeckung, sprach ohne Rueckhalt von der gegenseitigen Neigung Charlottens und des Majors, die er, weil es ihm gerade bequem und guenstig war, mit lebhaften Farben ausmalte.

Ganz leugnen konnte der Major nicht und nicht ganz eingestehen; aber Eduard befestigte, bestimmte sich nur mehr.

Er dachte sich alles nicht als moeglich, sondern als schon geschehen.

Alle Teile brauchten nur in das zu willigen, was sie wuenschten; eine Scheidung war gewiss zu erlangen; eine baldige Verbindung sollte folgen, und Eduard wollte mit Ottilien reisen.

Unter allem, was die Einbildungskraft sich Angenehmes ausmalt, ist vielleicht nichts Reizenderes, als wenn Liebende, wenn junge Gatten ihr neues, frisches Verhaeltnis in einer neuen, frischen Welt zu geniessen und einen dauernden Bund an soviel wechselnden Zustaenden zu pruefen und zu bestaetigen hoffen.

Der Major und Charlotte sollten unterdessen unbeschraenkte Vollmacht haben, alles, was sich auf Besitz, Vermoegen und die irdischen wuenschenswerten Einrichtungen bezieht, dergestalt zu ordnen und nach Recht und Billigkeit einzuleiten, dass alle Teile zufrieden sein koennten.

Worauf jedoch Eduard am allrmeisten zu fussen, wovon er sich den groessten Vorteil zu versprechen schien, war dies: da das Kind bei der Mutter bleiben sollte, so wuerde der Major den Knaben erziehen, ihn nach seinen Einsichten leiten, seine Faehigkeiten entwickeln koennen.

Nicht umsonst hatte man ihm dann in der Taufe ihren beiderseitigen Namen Otto gegeben.

Das alles war bei Eduarden so fertig geworden, dass er keinen Tag laenger anstehen mochte, der Ausfuehrung naeherzutreten.

Sie gelangten auf ihrem Wege nach dem Gute zu einer kleinen Stadt, in der Eduard ein Haus besass, wo er verweilen und die Rueckkunft des Majors abwarten wollte.

Doch konnte er sich nicht ueberwinden, daselbst sogleich abzusteigen, und begleitete den Freund noch durch den Ort.

Sie waren beide zu Pferde, und in bedeutendem Gespraech verwickelt ritten sie zusammen weiter.

Auf einmal erblickten sie in der Ferne das neue Haus auf der Hoehe, dessen rote Ziegeln sie zum erstenmal blinken sahen.

Eduarden ergreift eine unwiderstehliche Sehnsucht; es soll noch diesen Abend alles abgetan sein.

In einem ganz nahen Dorfe will er sich verborgen halten; der Major soll die Sache Charlotten dringend vorstellen, ihre Vorsicht ueberraschen und durch den unerwarteten Antrag sie zu freier Eroeffnung ihrer Gesinnung noetigen.

Denn Eduard, der seine Wuensche auf sie uebergetragen hatte, glaubte nicht anders, als dass er ihren entschiedenen Wuenschen entgegenkomme, und hoffte eine so schnelle Einwilligung von ihr, weil er keinen andern Willen haben konnte.

Er sah den gluecklichen Ausgang freudig vor Augen, und damit dieser dem Lauernden schnell verkuendigt wuerde, sollten einige Kanonenschlaege losgebrannt werden und, waere es Nacht geworden, einige Raketen steigen.

Der Major ritt nach dem Schlosse zu.

Er fand Charlotten nicht, sondern erfuhr vielmehr, dass sie gegenwaertig oben auf dem neuen Gebaeude wohne, jetzt aber einen Besuch in der Nachbarschaft ablege, von welchem sie heute wahrscheinlich nicht so bald nach Hause komme.

Er ging in das Wirtshaus zurueck, wohin er sein Pferd gestellt hatte.

Eduard indessen, von unueberwindlicher Ungeduld getrieben, schlich aus seinem Hinterhalte durch einsame Pfade, nur Jaegern und Fischern bekannt, nach seinem Park und fand sich gegen Abend im Gebuesch in der Nachbarschaft des Sees, dessen Spiegel er zum erstenmal vollkommen und rein erblickte.

Ottilie hatte diesen Nachmittag einen Spaziergang an den See gemacht.

Sie trug das Kind und las im Gehen nach ihrer Gewohnheit.

So gelangte sie zu den Eichen bei der ueberfahrt.

Der Knabe war eingeschlafen; sie setzte sich, legte ihn neben sich nieder und fuhr zu lesen.

Das Buch war eins von denen, die ein zartes Gemuet an sich ziehen und nicht wieder loslassen.

Sie vergass Zeit und Stunde und dachte nicht, dass sie zu Lande noch einen weiten Rueckweg nach dem neuen Gebaeude habe; aber sie sass versenkt in ihr Buch, in sich selbst, so liebenswuerdig anzusehen, dass die Baeume, die Straeuche ringsumher haetten belebt, mit Augen begabt sein sollen, um sie zu bewundern und sich an ihr zu erfreuen.

Und eben fiel ein roetliches Streiflicht der sinkenden Sonne hinter ihr her und vergoldete Wange und Schulter.

Eduard, dem es bisher gelungen war, unbemerkt so weit vorzudringen, der seinen Park leer; die Gegend einsam fand, wagte sich immer weiter.

Endlich bricht er durch das Gebuesch bei den Eichen, er sieht Ottilien, sie ihn; er fliegt auf sie zu und liegt zu ihren Fuessen.

Nach einer langen, stummen Pause, in der sich beide zu fassen suchen, erklaert er ihr mit wenig Worten, warum und wie er hieher gekommen.

Er habe den Major an Charlotten abgesendet, ihr gemeinsames Schicksal werde vielleicht in diesem Augenblick entschieden.

Nie habe er an ihrer Liebe gezweifelt, sie gewiss auch nie an der seinigen.

Er bitte sie um ihre Winwilligung.

Sie zauderte, er beschwur sie; er wollte seine alten Rechte geltend machen und sie in seine Arme schliessen; sie deutete auf das Kind hin.

Eduard erblickt es und staunt.

"Grosser Gott!" ruft er aus, "wenn ich Ursache haette, an meiner Frau, an meinem Freunde zu zweifeln, so wuerde diese Gestalt fuerchterlich gegen sie zeugen.

Ist dies nicht die Bildung des Majors?

Solch ein Gleichen habe ich nie gesehen".

"Nicht doch!" versetzte Ottilie; "alle Welt sagt, es gleiche mir".

-"Waer es moeglich?" versetzte Eduard, und in dem Augenblick schlug das Kind die Augen auf, zwei grosse, schwarze, durchdringende Augen, tief und freundlich.

Der Knabe sah die Welt schon so verstaendig an; er schien die beiden zu kennen, die vor ihm standen.

Eduard warf sich bei dem Kinde nieder, er kniete zweimal vor Ottilien.

"Du bists!" rief er aus, "deine Augen sinds.

Ach!

Aber lass mich nur in die deinigen schaun.

Lass mich einen Schleier werfen ueber jene unselige Stunde, die diesem Wesen das Dasein gab.

Soll ich deine reine Seele mit dem ungluecklichen Gedanken erschrecken, dass Mann und Frau entfremdet sich einander ans Herz druecken und einen gesetzlichen Bund durch lebhafte Wuensche entheiligen koennen?

Oder ja, da wir einmal so weit sind, da mein Verhaeltnis zu Charlotten getrennt werden muss, da du die Meinige sein wirst, warum soll ich es nicht sagen?

Warum soll ich das harte Wort nicht aussprechen: dies Kind ist aus einem doppelten Ehbruch erzeugt!

Es trennt mich von meiner Gattin und meine Gattin von mir, wie es uns haette verbinden sollen.

Mag es denn gegen mich zeugen, moegen diese herrlichen Augen den deinigen sagen, dass ich in den Armen einer andern dir gehoerte; moegest du fuehlen, Ottilie, recht fuehlen, dass ich jenen Fehler, jenes Verbrechen nur in deinen Armen abbuessen kann!"

"Horch!" rief er aus, indem er aufsprang und einen Schuss zu hoeren glaubte, als das Zeichen, das der Major geben sollte.

Es war ein Jaeger, der im benachbarten Gebirg geschossen hatte.

Es erfolgte nichts weiter; Eduard war ungeduldig.

Nun erst sah Ottilie, dass die Sonne sich hinter die Berge gesenkt hatte.

Noch zuletzt blinkte sie von den Fenstern des obern Gebaeudes zurueck.

"Entferne dich, Eduard!" rief Ottilie".

"O lange haben wir entbehrt, so lange geduldet.

Bedenke, was wir beide Charlotten schuldig sind.

Sie muss unser Schicksal entscheiden, lass uns ihr nicht vorgreifen.

Ich bin die Deine, wenn sie es vergoennt; wo nicht, so muss ich dir entsagen.

Da du die Entscheidung so nah glaubst, so lass uns erwarten.

Geh in das Dorf zurueck, wo der Major dich vermutet.

Wie manches kann vorkommen, das eine Erklaergung fordert.

Ist es wahrscheinlich, dass ein roher Kanonenschlag dir den Erfolg seiner Unterhandlungen verkuende?

Vielleicht sucht er dich auf in diesem Augenblick.

Er hat Charlotten nicht getroffen, das weiss ich; er kann ihr entgegengegangen sein, denn man wusste, wo sie hin war.

Wie vielerlei Faelle sind moeglich!

Lass mich!

Jetzt muss sie kommen.

Sie erwartet mich mit dem Kinde dort oben".

Ottilie sprach in Hast.

Sie rief sich alle Moeglichkeiten zusammen. Sie war gluecklich in Eduards Naehe und fuehlte, dass sie ihn jetzt entfernen muesse.

"Ich bitte, ich beschwoere dich, Geliebter!" ief sie aus, "kehre zurueck und erwarte den Major!"—"Ich gehorche deinen Befehlen", rief Eduard, indem er sie erst leidenschaftlich anblickte und sie dann fest in seine Arme schloss.

Sie umschlang ihn mit den ihrigen und drueckte ihn auf das zaertlichste an ihre Brust.

Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel faellt, ueber ihre Haeupter weg.

Sie waehnten, sie glaubten einander anzugehoeren; sie wechselten zum erstenmal entschiedene, freie Kuesse und trennten sich gewaltsam und schmerzlich.

Die Sonne war untergegangen, und es daemmerte schon und duftete feucht um den See.

Ottilie stand verwirrt und bewegt; sie sah nach dem Berghause hinueber und glaubte Charlottens weisses Kleid auf dem Altan zu sehen.

Der Umweg war gross am See hin; sie kannte Charlottens ungeduldiges Haaren nach dem Kinde.

Die Platanen sieht sie gegen sich ueber, nur ein Wasserraum trennt sie von dem Pfade, der sogleich zu dem Gebaeude hinauffuehrt.

Mit Gedanken ist sie schon drueben wie mit den Augen.

Die Bedenklichkeit, mit dem Kinde sich aufs Wasser zu wagen, verschwindet in diesem Drange.

Sie eilt nach dem Kahn, sie fuehlt nicht, dass ihr Herz pocht, dass ihre Fuesse schwanken, dass ihr die Sinne zu vergehen drohn.

Sie springt in den Kahn, ergreift das Ruder und stoesst ab.

Sie muss Gewalt brauchen, sie wiederholt den Stoss, der Kahn schwankt und gleitet eine Strecke seewaerts.

Auf dem linken Arme das Kind, in der linken Hand das Buch, in der rechten das Ruder, schwankt auch sie und faellt in den Kahn.

Das Ruder entfaehrt ihr nach der einen Seite und, wie sie sich erhalten will, Kind und Buch nach der andern, alles ins Wasser.

Sie ergreift noch des Kindes Gewand; aber ihre unbequeme Lage hindert sie selbst am Aufstehen.

Die freie rechte Hand ist nicht hinreichend sich umzuwenden, sich aufzurichten; endlich gelingts, sie zieht das Kind aus dem Wasser, aber seine Augen sind geschlossen, es hat aufgehoert zu atmen.

In dem Augenblick kehrt ihre ganze Besonnenheit zurueck, aber um desto groesser ist ihr Schmerz.

Der Kahn treibt fast in der Mitte des Sees, das Ruder schwimmt fern, sie erblickt niemanden am Ufer, und auch was haette es ihr geholfen, jemanden zu sehen!

Von allem abgesondert, schwebt sie auf dem treulosen, unzugaenglichen Elemente.

Sie sucht Huelfe bei sich selbst.

So oft hatte sie von Rettung der Ertrunkenen gehoert.

Noch am Abend ihres Geburtstags hatte sie es erlebt.

Sie entkleidet das Kind und trocknets mit ihrem Musselingewand.

Sie reisst ihren Busen auf und zeigt ihn zum erstenmal dem freien Himmel; zum erstenmal drueckt sie ein Lebendiges an ihre reine nackte Brust, ach!

Und kein Lebendiges.

Die kalten Glieder des ungluecklichen Geschoepfs verkaelten ihren Busen bis ins innerste Herz.

Unendliche Traenen entquellen ihren Augen und erteilen der Oberflaeche des Erstarrten einen Schein von Waerme und Leben.

Sie laesst nicht nach, sie ueberhuellt es mit ihrem Schal, und durch Streicheln, Andruecken, Anhauchen, Kuessen, Traenen glaubt sie jene Huelfsmittel zu ersetzen, die ihr in dieser Abgeschnittenheit versagt sind. Alles vergebens!

Ohne Bewegung liegt das Kind in ihren Armen, ohne Bewegung steht der Kahn auf der Wasserflaeche; aber auch hier laesst ihr schoenes Gemuet sie nicht huelflos.

Sie wendet sich nach oben.

Knieend sinkt sie in dem Kahne nieder und hebt das erstarrte Kind mit beiden Armen ueber ihre unschuldige Brust, die an Weisse und leider auch an Kaelte dem Marmor gleicht.

Mit feuchtem Blick sieht sie empor und ruft Huelfe von daher, wo ein zartes Herz die groesste Fuelle zu finden hofft, wenn es ueberall mangelt.

Auch wendet sie sich nicht vergebens zu den Sternen, die schon einzeln hervorzublinken anfangen.

Ein sanfter Wind erhebt sich und treibt den Kahn nach dem Platanen.

Sie eilt nach dem neuen Gebaeude, sie ruft den Chirurgus hervor, sie uebergibt ihm das Kind.

Der auf alles gefasste Mann behandelt den zarten Leichnam stufenweise nach gewohnter Art.

Ottilie steht ihm in allem bei; sie schafft, sie bringt, sie sorgt, zwar wie in einer andern Welt wandelnd, denn das hoechste Unglueck wie das hoechste Glueck veraendert die Ansicht aller Gegenstaende; und nur, als nach allen durchgegangenen Versuchen der wackere Mann den Kopf schuettelt, auf ihre hoffnungsvollen Fragen erst schweigend, dann mit einem leisen Nein antwortet, verlaesst sie das Schlafzimmer Charlottens, worin dies alles geschehen, und kaum hat sie das Wohnzimmer betreten, so faellt sie, ohne den Sofa erreichen zu koennen, erschoepft aufs Angesicht ueber den Teppich hin.

Eben hoert man Charlotten vorfahren.

Der Chirurg bittet die Umstehenden dringend, zurueckzubleiben, er will ihr entgegnen, sie vorbereiten; aber schon betritt sie ihr Zimmer.

Sie findet Ottilien an der Erde, und ein Maedchen des Hauses stuerzt ihr mit Geschrei und Weinen entgegen.

Der Chirurg tritt herein, und sie erfaehrt alles auf einmal.

Wie sollte sie aber jede Hoffnung mit einmal aufgeben!

Der erfahrne, kunstreiche, kluge Mann bittet sie nur, das Kind nicht zu sehen; er entfernt sich, sie mit neuen Anstalten zu taeuschen.

Sie hat sich auf ihren Sofa gesetzt, Ottilie liegt noch an der Erde, aber an der Freundin Kniee herangehoben, ueber die ihr schoenes Haupt hingesenkt ist.

Der aerztliche Freund geht ab und zu; er scheint sich um das Kind zu bemuehen, er bemueht sich um die Frauen.

So kommt die Mitternacht herbei, die Totenstille wird immer tiefer.

Charlotte verbirgt sichs nicht mehr, dass das Kind nie wieder ins Leben zurueckkehre; sie verlangt es zu sehen.

Man hat es in warme wollne Tuecher reinlich eingehuellt, in einen Korb gelegt, den man neben sie auf den Sofa setzt; nur das Gesichtchen ist frei; ruhig und schoen liegt es da.

Von dem Unfall war das Dorf bald erregt worden und die Kunde sogleich bis nach dem Gasthof erschollen.

Der Major hatte sich die bekannten Wege hinaufbegeben; er ging um das Haus herum, und indem er einen Bedienten anhielt, der in dem Angebaeude etwas zu holen lief, verschaffte er sich naehere Nachricht und liess den Chirurgen herausrufen.

Dieser kam, erstaunt ueber die Erscheinung seines alten Goenners, berichtete ihm die gegenwaertige Lage und uebernahm es, Charlotten auf seinen Anblick vorzubereiten.

Er ging hinein, fing ein ableitendes Gespraech an und fuehrte die Einbildungskraft von einem Gegenstand auf den andern, bis er endlich den Freund Charlotten vergegenwaertigte, dessen gewisse Teilnahme, dessen Naehe dem Geiste, der Gesinnung nach, die er denn bald in eine wirkliche uebergehen liess.

Genug, sie erfuhr, der Freund stehe vor der Tuer, er wisse alles und wuensche eingelassen zu werden.

Der Major trat herein; ihn begruesste Charlotte mit einem schmerzlichen Laecheln.

Er stand vor ihr.

Sie hub die gruenseidne Decke auf, die den Leichnam verbarg, und bei dem dunklen Schein einer Kerze erblickte er nicht ohne geheimes Grausen sein erstarrtes Ebenbild.

Charlotte deutete auf einen Stuhl, und so sassen sie gegeneinader ueber, schweigend, die Nacht hindurch.

Ottilie lag noch ruhig auf den Knieen Charlottens; sie atmete sanft; sie schlief, oder sie schien zu schlafen.

Der Morgen daemmerte, das Licht verlosch, beide Freunde schienen aus einem dumpfen Traum zu erwachen.

Charlotte blickte den Major an und sagte gefasst: "erklaeren Sie mir, mein Freund, durch welche Schickung kommen Sie hieher, um teil an dieser Trauerszene zu nehmen?" "Es ist hier", antwortete der Major ganz leise, wie sie gefragt hatte—als wenn sie Ottilien nicht aufwecken wollten -, "es ist hier nicht Zeit und Ort, zurueckzuhalten, Einleitungen zu machen und sachte heranzutreten.

Der Fall, in dem ich Sie finde, ist so ungeheuer, dass das Bedeutende selbst, weshalb ich komme, dagegen seinen Wert verliert".

Er gestand ihr darauf ganz ruhig und einfach den Zweck seiner Sendung, insofern Eduard ihn abgeschickt hatte, den Zweck seines Kommens, insofern sein freier Wille, sein eigenes Interesse dabei war.

Er trug beides sehr zart, doch aufrichtig vor; Charlotte hoerte gelassen zu und schien weder darueber zu staunen noch unwillig zu sein.

Als der Major geendigt hatte, antwortete Charlotte mit ganz leiser Stimme, sodass er genoetigt war, seinen Stuhl heranzuruecken: in einem Falle, wie dieser ist, habe ich mich noch nie befunden, aber in aehnlichen habe ich mir immer gesagt: ’wie wird es morgen sein?’

Ich fuehle recht wohl, dass das Los von mehreren jetzt in meinen Haenden liegt; und was ich zu tun habe, ist bei mir ausser Zweifel und bald ausgesprochen.

Ich willige in die Scheidung.

Ich haette mich frueher dazu entschliessen sollen; durch mein Zaudern, mein Widerstreben habe ich das Kind getoetet.

Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnaeckig vornimmt.

Vergebens, dass Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm in den Weg stellen: es soll etwas geschehen, was ihm recht ist, was uns nicht recht scheint; und so greift es zuletzt durch, wir moegen uns gebaerden, wie wir wollen.

Doch was sag ich!

Eigentlich will das Schicksal meinen eigenen Wunsch, meinen eigenen Vorsatz, gegen die ich unbedachtsam gehandelt, wieder in den Weg bringen.

Habe ich nicht selbst schon Ottilien und Eduarden mir als das schicklichste Paar zusammengedacht?

Habe ich nicht selbst beide einander zu naehern gesucht?

Waren Sie nicht selbst, mein Freund, Mitwisser dieses Plans?

Und warum konnte ich den Eigensinn eines Mannes nicht von wahrer Liebe unterscheiden?

Warum nahm ich seine Hand an, da ich als Freundin ihn und eine andre Gattin gluecklich gemacht haette?

Und betrachten Sie nur diese unglueckliche Schlummernde!

Ich zittere vor dem Augenblicke, wenn sie aus ihrem halben Totenschlafe zum Bewusstsein erwacht.

Wie soll sie leben, wie soll sie sich troesten, wenn sie nicht hoffen kann, durch ihre Liebe Eduarden das zu ersetzen, was sie ihm als Werkzeug des wunderbarsten Zufalls geraubt hat?

Und sie kann ihm alles wiedergeben nach der Neigung, nach der Leidenschaft, mit der sie ihn liebt.

Vermag die Liebe, alles zu dulden, so vermag sie noch viel mehr, alles zu ersetzen.

An mich darf in diesem Augenblick nicht gedacht werden.

Entfernen Sie sich in der Stille, lieber Major.

Sagen Sie Eduarden, dass ich in die Scheidung willige, dass ich ihm, Ihnen, Mittlern die ganze Sache einzuleiten ueberlasse, dass ich um meine kuenftige Lage unbekuemmert bin und es in jedem Sinne sein kann.

Ich will jedes Papier unterschreiben, das man mir bringt; aber man verlange nur nicht von mir, dass ich mitwirke, dass ich bedenke, dass ich berate".

Der Major stand auf.

Sie reichte ihm ihre Hand ueber Ottilien weg.

Er drueckte seine Lippen auf diese liebe Hand.

"Und fuer mich, was darf ich hoffen?" lispelte er leise.

"Lassen Sie mich Ihnen die Antwort schuldig bleiben", versetzte Charlotte.

"Wir haben nicht verschuldet, ungluecklich zu werden, aber durch nicht verdient, zusammen gluecklich zu sein".

Der Major entfernte sich, Charlotten tief im Herzen beklagend, ohne jedoch das arme abgeschiedene Kind bedauern zu koennen.

Ein solches Opfer schien ihm noetig zu ihrem allseitigen Glueck. Er dachte sich Ottilien mit einem eignen Kind auf dem Arm, als den vollkommensten Ersatz fuer das, was sie Eduarden geraubt; er dachte sich einen Sohn auf dem Schosse, der mit mehrerem Recht sein Ebenbild truege als der abgeschiedene.

So schmeichelnde Hoffnungen und Bilder gingen ihm durch die Seele, als er auf dem Rueckwege nach dem Gasthofe Eduarden fand, der die ganze Nacht im Freien den Major erwartet hatte, da ihm kein Feuerzeichen, kein Donnerlaut ein glueckliches Gelingen verkuenden wollte.

Er wusste bereits von dem Unglueck, und auch er, anstatt das arme Geschoepf zu bedauern, sah diesen Fall, ohne sichs ganz gestehen zu wollen, als eine Fuegung an, wodurch jedes Hindernis an seinem Glueck auf einmal beseitigt waere.

Gar leicht liess er sich daher durch den Major bewegen, der ihm schnell den Entschluss seiner Gattin verkuendigte, wieder nach jenem Dorfe und sodann nach der kleinen Stadt zurueckzukehren, wo sie das Naechste ueberlegen und einleiten wollten.

Charlotte sass, nachdem der Major sie verlassen hatte, nur wenige Minuten in ihre Betrachtungen versenkt; denn sogleich richtete Ottilie sich auf, ihre Freundin mit grossen Augen anblickend.

Erst erhob sich von dem Schosse, dann von der Erde und stand vor Charlotten.

"Zum zweitenmal"—so begann das herrliche Kind mit einem unueberwindlichen, anmutigen Ernst -"zum zweitenmal widerfaehrt mir dasselbe.

Du sagtest mir einst, es begegne den Menschen in ihrem Leben oft aehnliches auf aehnliche Weise und immer in bedeutenden Augenblicken.

Ich finde nun die Bemerkung wahr und bin gedrungen, dir ein Bekenntnis zu machen.

Kurz nach meiner Mutter Tode, als ein kleines Kind, hatte ich meinen Schemel an dich gerueckt; du sassest auf dem Sofa wie jetzt; mein Haupt lag auf deinen Knieen, ich schlief nicht, ich wachte nicht; ich schlummerte.

Ich vernahm alles, was um mich vorging, besonders alle Reden sehr deutlich; und doch konnte ich mich nicht regen, mich nicht aeussern und, wenn ich auch gewollt haette, nicht andeuten, dass ich meiner selbst mich bewusst fuehlte.

Damals sprachst du mit einer Freundin ueber mich; du bedauertest mein Schicksal, als eine arme Waise in der Welt geblieben zu sein; du schuildertest meine abhaengige Lage und wie misslich es um mich stehen koenne, wenn nicht ein besondrer Gluecksstern ueber mich walte.

Ich fasste alles wohl und genau, vielleicht zu streng, was du fuer mich zu wuenschen, was du von mir zu fordern schienst.

Ich machte mir nach meinen beschraenkten Einsichten hierueber Gesetze; nach diesen habe ich lange gelebt, nach ihnen war mein Tun und Lassen eingerichtet zu der Zeit, da du mich liebtest, fuer mich sorgtest, da du mich in dein Haus aufnahmst, und auch noch eine Zeit hernach.

Aber ich bin aus meiner Bahn geschritten, ich habe meine Gesetze gebrochen, ich habe sogar das Gefuehl derselben verloren, und nach einem schrecklichen Ereignis klaerst du mich wieder ueber meinen Zustand auf, der jammervoller ist als der erste.

Auf deinem Schosse ruhend, halb erstarrt, wie aus einer fremden Welt vernehm ich abermals deine leise Stimme ueber meinem Ohr; ich vernehme, wie es mit mir selbst aussieht; ich schaudere ueber mich selbst; aber wie damals habe ich auch diesmal in meinem halben Totenschlaf mir meine neue Bahn vorgezeichnet.

Ich bin entschlossen, wie ichs war, und wozu ich entschlossen bin, musst du gleich erfahren.

Eduards werd ich nie!

Auf eine schreckliche Weise hat Gott mir die Augen geoeffnet, in welchem Verbrechen ich befangen bin.

Ich will es buessen; und niemand gedenke mich von meinem Vorsatz abzubringen!

Darnach, Liebe, Beste, nimm deine Massregeln.

Lass den Major zurueckkommen; schreibe ihm, dass keine Schritte geschehen.

Wie aengstlich war mir, dass ich mich nicht ruehren und regen konnte, als er ging.

Ich wollte auffahren, aufschreien: du solltest ihn nicht mit so frevelhaften Hoffnungen entlassen".

Charlotte sah Ottiliens Zustand, sie empfand ihn; aber sie hoffte durch Zeit und Vorstellungen etwas ueber sie zu gewinnen.

Doch als sie einige Worte aussprach, die auf eine Zukunft, auf eine Milderung des Schmerzes, auf Hoffnung deuteten: "nein!" rief Ottilie mit Erhebung; "sucht mich nicht zu bewegen, nicht zu hintergehen!

In dem Augenblick, in dem ich erfahre, du habest in die Scheidung gewilligt, buesse ich in demselbigen See mein Vergehen, mein Verbrechen".

Wenn sich in einem gluecklichen, friedlichen Zusammenleben Verwandte, Freunde, Hausgenossen, mehr als noetig und billig ist, von dem unterhalten, was geschieht oder geschehen soll, wenn sie sich einander ihre Vorsaetze, Unternehmungen, Beschaeftigungen wiederholt mitteilen und, ohne gerade wechselseitigen Rat anzunehmen, doch immer das ganze Leben gleichsam ratschlagend behandeln, so findet man dagegen in wichtigen Momenten, eben da, wo es scheinen sollte, der Mensch beduerfe fremden Beistandes, fremder Bestaetigung am allermeisten, dass sich die einzelnen auf sich selbst zurueckziehen, jedes fuer sich zu handeln, jedes auf seine Weise zu wirken strebt und, indem man sich einander die einzelnen Mittel verbirgt, nur erst der Ausgang, die Zwecke, das Erreichte wieder zum Gemeingut werden.

Nach so viel wundervollen und ungluecklichen Ereignissen war denn auch ein gewisser stiller Ernst ueber die Freundinnen gekommen, der sich in einer liebenswuerdigen Schonung aeusserte.

Ganz in der Stille hatte Scharlotte das Kind nach der Kapelle gesendet.

Es ruhte dort als das erste Opfer eines ahnungsvollen Verhaengnisses.

Charlotte kehrte sich, soviel es ihr moeglich war, gegen das Leben zurueck, und hier fand sie Ottilien zuerst, die ihres Beistandes bedurfte.

Sie beschaeftigte sich vorzueglich mit ihr, ohne es jedoch merken zu lassen.

Sie wusste, wie sehr das himmlische Kind Eduarden liebte; sie hatte nach und nach die Szene, die dem Unglueck vorhergegangen war, herausgeforscht und jeden Umstand teils von Ottilien selbst, teils durch Briefe des Majors erfahren.

Ottilie von ihrer Seite erleichterte Charlotten sehr das augenblickliche Leben.

Sie war offen, ja gespraechig, aber niemals war von dem Gegenwaertigen oder kurz Vergangenen die Rede.

Sie hatte stets aufgemerkt, stets beobachtet, sie wusste viel; das kam jetzt alles zum Vorschein.

Sie unterhielt, sie zerstreute Charlotten, die noch immer die stille Hoffnung naehrte, ein ihr so wertes Paar verbunden zu sehen.

Allein bei Ottilien hing es anders zusammen.

Sie hatte das Geheimnis ihres Lebensganges der Freundin entdeckt; sie war von ihrer fruehen Einschraenkung, von ihrer Dienstbarkeit entbunden.

Durch ihre Reue, durch ihren Entschluss fuehlte sie sich auch befreit von der Last jenes Vergehens, jenes Missgeschicks.

Sie bedurfte keiner Gewalt mehr ueber sich selbst; sie hatte sich in der Tiefe ihres Herzens nur unter der Bedingung des voelligen Entsagens verziehen, und diese Bedingung war fuer alle Zukunft unerlaesslich. So verfloss einige Zeit, und Charlotte fuehlte, wie sehr Haus und Park, Seen, Felsen—und Baumgruppen nur traurige Empfindungen taeglich in ihnen beiden erneuerten.

Dass man den Ort veraendern muesse, war allzu deutlich, wie es geschehen solle, nicht so leicht zu entscheiden.

Sollten die beiden Frauen zusammenbleiben?

Eduards frueherer Wille schien es zu gebieten, seine Erklaerung, seine Drohung es noetig zu machen; allein wie war es zu verkennen, dass beide Frauen mit allem guten Willen, mit aller Vernunft, mit aller Anstrengung sich in einer peinlichen Lage nebeneinander befanden?

Ihre Unterhaltungen waren vermeidend.

Manchmal mochte man gern etwas nur halb verstehen, oefters wurde aber doch ein Ausdruck, wo nicht durch den Verstand, wenigstens durch die Empfindung missdeutet.

Man fuerchtet sich zu verletzen, und gerade die Furcht war am ersten verletzbar und verletzte am ersten.

Wollte man den Ort veraendern und sich zugleich, wenigstens auf einige Zeit, voneinander trennen, so trat die alte Frage wieder hervor, wo sich Ottilie hinbegeben solle.

Jenes grosse, reiche Haus hatte vergebliche Versuche gemacht, einer hoffnungsvollen Erbtochter unterhaltende und wetteifernde Gespielinnen zu verschaffen.

Schon bei der letzten Anwesenheit der Baronesse und neuerlich durch Briefe war Charlotte aufgefordert worden, Ottilien dorthin zu senden; jetzt brachte sie es abermals zur Sprache.

Ottilie verweigerte aber ausdruecklich, dahin zu gehen, wo sie dasjenige finden wuerde, was man grosse Welt zu nennen pflegt.

"Lassen Sie mich, liebe Tante", sagte sie, "damit ich nicht eingeschraenkt und eigensinnig erscheine, dasjenige aussprechen, was zu verschweigen, zu verbergen in einem andern Falle Pflicht waere.

Ein seltsam ungluecklicher Mensch, und wenn er auch schuldlos waere, ist auf eine fuerchterliche Weise gezeichnet.

Seine Gegenwart erregt in allen, die ihn sehen, die ihn gewahr werden, eine Art von Entsetzen.

Jeder will das Ungeheure ihm ansehen, was ihm auferlegt ward; jeder ist neugierig und aengstlich zugleich.

So bleibt ein Haus, eine Stadt, worin eine ungeheure Tat geschehen, jedem furchtbar, der sie betritt.

Dort leuchtet das Licht des Tages nicht so hell, und die Sterne scheinen ihren Glanz zu verlieren.

Wie gross und hoch vielleicht zu entschuldigen ist gegen solche Unglueckliche die Indiskretion der Menschen, ihre alberne Zudringlichkeit und ungeschickte Gutmuetigkeit!

Verzeihen Sie mir, dass ich so rede; aber ich habe unglaublich mit jenem armen Maedchen gelitten, als es Luciane aus den verborgenen Zimmern des Hauses hervorzog, sich freundlich mit ihm beschaeftigte, es in der besten Absicht zu Spiel und Tanz noetigen wollte.

als das arme Kind bange und immer baenger zuletzt floh und in Ohnmacht sank, ich es in meine Arme fasste, die Gesellschaft erschreckt, aufgeregt und jeder erst recht neugierig auf die Unglueckselige ward, da dachte ich nicht, dass mir ein gleiches Schicksal bevorstehe; aber mein Mitgefuehl, so wahr und lebhaft, ist noch lebendig.

Jetzt kann ich mein Mitleiden gegen mich selbst wenden und mich hueten, dass ich nicht zu aehnlichen Auftritt Anlass gebe".

"Du wirst aber, liebes Kind", versetzte Charlotte, "dem Anblick der Menschen dich nirgends entziehen koennen.

Kloester haben wir nicht, in denen sonst eine Freistatt fuer solche Gefuehle zu finden war".

"Die Einsamkeit macht nicht die Freistatt, liebe Tante", versetzte Ottilie.

"Die schaetzenswerteste Freistatt ist da zu suchen, wo wir taetig sein koennen.

Alle Buessungen, alle Entbehrungen sind keineswegs geeignet, uns einem ahnungsvollen Geschick zu entziehen, wenn es uns zu verfolgen entschieden ist.

Nur wenn ich im muessigen Zustande der Welt zur Schau dienen soll, dann ist sie mir widerwaertig und aengstigt mich.

Findet man mich aber freudig bei der Arbeit, unermuedet in meiner Pflicht, dann kann ich die Blicke eines jeden aushalten, weil ich die goettlichen nicht zu scheuen brauche".

"Ich muesste mich sehr irren", versetzte Charlotte, "wenn deine Neigung dich nicht zur Pension zurueckzoege".

"Ja", versetzte Ottilie, "ich leugne es nicht; ich denke es mir als eine glueckliche Bestimmung, andre auf dem gewoehnlichen Wege zu erziehen, wenn wir auf dem sonderbarsten erzogen worden.

Und sehen wir nicht in der Geschichte, dass Menschen, die wegen grosser sittlicher Unfaelle sich in die Wuesten zurueckzogen, dort keineswegs, wie sie hofften, verborgen und gedeckt waren?

Sie wurden zurueckgerufen in die Welt, um die Verirrten auf den rechten Weg zu fuehren; und wer konnte es besser als die in den Irrgaengen des Lebens schon Eingeweihten!

Sie wurden berufen, den Ungluecklichen beizustehen; und wer vermochte das eher als sie, denen kein irdisches Unheil mehr begegnen konnte!" "Du waehlst eine sonderbare Bestimmung", versetzte Charlotte. "Ich will dir nicht widerstreben; es mag sein, wenn auch nur, wie ich hoffe, auf kurze Zeit".

"Wie sehr danke ich Ihnen", sagte Ottilie, "dass Sie mir diesen Versuch, diese Erfahrung goennen wollen.

Schmeichle ich mir nicht zu sehr, so soll es mir gluecken.

An jenem Orte will ich mich erinnern, wie manche Pruefungen ich ausgestanden und wie klein, wie nichtig sie waren gegen die, die ich nachher erfahren musste.

Wie heiter werde ich die Verlegenheiten der jungen Auschoesslinge betrachten, bei ihren kindlichen Schmerzen laecheln und sie mit leiser Hand aus allen kleinen Verirrungen herausfuehren.

Der Glueckliche ist nicht geeignet, Gluecklichen vorzustehen; es liegt in der menschlichen Natur, immer mehr von sich und von andern zu fordern, je mehr man empfangen hat.

Nur der Unglueckliche, der sich erholt, weiss fuer sich und andere das Gefuehl zu naehren, dass auch ein maessiges Gute mit Entzuecken genossen werden soll".

"Lass mich gegen deinen Vorsatz", sagte Charlotte zuletzt nach einigem Bedenken, "noch einen Einwurf anfuehren, der mir der wichtigste scheint.

Es ist nicht von dir, es ist von einem Dritten die Rede.

Die Gesinnungen des guten, vernuenftigen, frommen Gehuelfen sind dir bekannt; auf dem Wege, den du gehst, wirst du ihm jeden Tag werter und unentbehrlicher sein.

Da er schon jetzt seinem Gefuehl nach nicht gern ohne dich leben mag, so wird er auch kuenftig, wenn er einmal deine Mitwirkung gewohnt ist, ohne dich sein Geschaeft nicht mehr verwalten koennen.

Du wirst ihm anfangs darin beistehen, um es ihm hernach zu verleiden".

"Das Geschick ist nicht sanft mit mir verfahren", versetzte Ottilie, "und wer mich liebt, hat vielleicht nicht viel Besseres zu erwarten.

So gut und verstaendig als der Freund ist, ebenso, hoffe ich, wird sich in ihm auch die Empfindung eines reinen Verhaeltnisses zu mir entwickeln; er wird in mir eine geweihte Person erblicken, die nur dadurch ein ungeheures uebel fuer sich und andre vielleicht aufzuwiegen vermag, wenn sie sich dem Heiligen widmet, das, uns unsichtbar umgebend, allein gegen die ungeheuren zudringenden Maechte beschirmen kann".

Charlotte nahm alles, was das liebe Kind so herzlich geaeussert, zur stillen ueberlegung.

Sie hatte verschiedentlich, obgleich auf das leiseste, angeforscht, ob nicht eine Annaeherung Ottiliens zu Eduard denkbar sei; aber auch nur die leiseste Erwaehnung, die mindeste Hoffnung, der kleinste Verdacht schien Ottilien aufs tiefste zu ruehren, ja sie sprach sich einst, da sie es nicht umgehen konnte, hierueber ganz deutlich aus.

"Wenn dein Entschluss", entgegnete ihr Charlotte, "Eduarden zu entsagen, so fest und unveraenderlich ist, so huete dich nur vor der Gefahr des Wiedersehens.

In der Entfernung von dem geliebten Gegenstande scheinen wir, je lebhafter unsere Neigung ist, desto mehr Herr von uns selbst zu werden, indem wir die ganze Gewalt der Leidenschaft, wie sie sich nach aussen erstreckte, nach innen wenden; aber wie bald, wie geschwind sind wir aus diesem Irrtum gerissen, wenn dasjenige, was wir entbehren zu koennen glaubten, auf einmal wieder als unentbehrlich vor unsern Augen steht.

Tue jetzt, was du deinen Zustaenden am gemaessesten haeltst; pruefe dich, ja veraendre lieber deinen gegenwaertigen Entschluss: aber aus dir selbst, aus freiem, wollendem Herzen.

Lass dich nicht zufaellig, nicht durch ueberraschung in die vorigen Verhaeltnisse wieder hineinziehen; dann gibt es erst einen Zwiespalt im Gemuet, der unertraeglich ist.

Wie gesagt, ehe du diesen Schritt tust, ehe du dich von mir entfernst und ein neues Leben anfaengst, das dich wer weiss auf welche Wege leitet, so bedenke noch einmal, ob du denn wirklich fuer alle Zukunft Eduarden entsagen kannst.

Hast du dich aber hierzu bestimmt, so schliessen wir einen Bund, dass du dich mit ihm nicht einlassen willst, selbst nicht in eine Unterredung, wenn er dich aufsuchen, wenn er sich zu dir draengen sollte".

Ottilie besann sich nicht einen Augenblick, sie gab Charlotten das Wort, das sie sich schon selbst gegeben hatte.

Nun aber schwebte Charlotten immer noch jene Drohung Eduards vor der Seele, dass er Ottilien nur so lange entsagen koenne, als sie sich von Charlotten nicht trennte.

Es hatten sich zwar seit der Zeit die Umstaende so veraendert, es war so mancherlei vorgefallen, dass jenes vom Augenblick ihm abgedrungene Wort gegen die folgenden Ereignisse fuer aufgehoben zu achten war; dennoch wollte sie auch im entferntesten Sinne weder etwas wagen noch etwas vornehmen, das ihn verletzen koennte, und so sollte Mittler in diesem Falle Eduards Gesinnungen erforschen.

Mittler hatte seit dem Tode des Kindes Charlotten oefters, obgleich nur auf Augenblicke, besucht.

Dieser Unfall, der ihm die Wiedervereinigung beider Gatten hoechst unwahrscheinlich machte, wirkte gewaltsam auf ihn; aber immer nach seiner Sinnesweise hoffend und strebend, freute er sich nun im stillen ueber den Entschluss Ottiliens.

Er vertraute der lindernden, vorueberziehenden Zeit, dachte noch immer die beiden Gatten zusammenzuhalten und sah diese leidenschaftlichen Bewegungen nur als Pruefungen ehelicher Liebe und Treue an.

Charlotte hatte gleich anfangs den Major von Ottiliens erster Erklaerung schriftlich unterrichtet, ihn auf das instaendigste gebeten, Eduarden dahin zu vermoegen, dass keine weiteren Schritte geschaehen, dass man sich ruhig verhalte, dass man abwarte, ob das Gemuet des schoenen Kindes sich wieder herstelle.

Auch von den spaetern Ereignissen und Gesinnungen hatte sie das Noetige mitgeteilt, und nun war freilich Mittlern die schwierige Aufgabe uebertragen, auf eine Veraenderung des Zustandes Eduarden vorzubereiten.

Mittler aber, wohl wissend, dass man das Geschehene sich eher gefallen laesst, als dass man in ein noch zu Geschehendes einwilligt, ueberredete Charlotten, es sei das beste, Ottilien gleich nach der Pension zu schicken.

Deshalb wurden, sobald er weg war, Anstalten zur Reise gemacht.

Ottilie packte zusammen, aber Charlotte sah wohl, dass sie weder das schoene Koefferchen noch irgend etwas daraus mitzunehmen sich anschickte.

Die Freundin schwieg und liess das schweigende Kind gewaehren.

Der Tag der Abreise kam herbei; Charlottens Wagen sollte Ottilien den ersten Tag bis in ein bekanntes Nachtquartier, den zweiten bis in die Pension bringen; Nanny sollte sie begleiten und ihre Dienerin bleiben.

Das leidenschaftliche Maedchen hatte sich gleich nach dem Tode des Kindes wieder an Ottilien zurueckgefunden und hing nun an ihr wie sonst durch Natur und Neigung, ja sie schien durch unterhaltende Redseligkeit das bisher Versaeumte wieder nachbringen und sich ihrer geliebten Herrin voellig widmen zu wollen.

Ganz ausser sich war sie nun ueber das Glueck, mitzureisen, fremde Gegenden zu sehen, da sie noch niemals ausser ihrem Geburtsort gewesen, und rannte vom Schlosse ins Dorf, zu ihren Eltern, Verwandten, um ihr Glueck zu verkuendigen und Abschied zu nehmen.

Ungluecklicherweise traf sie dabei in die Zimmer der Maserkranken und empfand sogleich die Folgen der Ansteckung.

Man wollte die Reise nicht aufschieben; Ottilie drang selbst darauf; sie hatte den Weg schon gemacht, sie kannte die Wirtleute, bei denen sie einkehren sollte; der Kutscher vom Schlosse fuehrte sie; es war nichts zu besorgen.

Charlotte widersetzte sich nicht; auch sie eilte schon in Gedanken aus diesen Umgebungen weg, nur wollte sie noch die Zimmer, die Ottilie im Schloss bewohnt hatte, wieder fuer Eduarden einrichten, gerade so wie vor der Ankunft des Hauptmanns gewesen.

Die Hoffnung, ein altes Glueck wiederherzustellen, flammt immer einmal wieder in dem Menschen auf, und Charlotte war zu solchen Hoffnungen abermals berechtigt, ja genoetigt.

Als Mittler gekommen war, sich mit Eduarden ueber die Sache zu unterhalten, fand er ihn allein, den Kopf in die rechte Hand gelehnt, den Arm auf den Tisch gestemmt.

Er schien sehr zu leiden.

"Plagt Ihr Kopfweh Sie wieder?" fragte Mittler.

"Es plagt mich", versetzte jener; "und doch kann ich es nicht hassen, denn es erinnert mich an Ottilien.

Vielleicht leidet auch sie jetzt, denk ich, auf ihren linken Arm gestuetzt, und leidet wohl mehr als ich.

Und warum soll ich es nicht tragen wie sie?

Diese Schmerzen sind mir heilsam, sind mir, ich kann beinah sagen, wuenschenswert; denn nur maechtiger, deutlicher, lebhafter schwebt mir das Bild ihrer Geduld, von allen ihren uebrigen Vorzuegen begleitet, vor der Seele, nur im Leiden empfinden wir recht vollkommen alle die grossen Eigenschaften, die noetig sind, um es zu ertragen".

Als Mittler den Freund in diesem Grade resigniert fand, hielt er mit seinem Anbringen nicht zurueck, das er jedoch stufenweise, wie der Gedanke bei den Frauen entsprungen, wie er nach und nach zum Vorsatz gereift war, historisch vortrug.

Eduard aeusserte sich kaum dagegen.

Aus dem wenigen, was er sagte, schien hervorzugehen, dass er jenen alles ueberlasse; sein gegenwaertiger Schmerz schien ihn gegen alles gleichgueltig gemacht zu haben.

Kaum war er allein, so stand er auf und ging in dem Zimmer hin und wider.

Er fuehlte seinen Schmerz nicht mehr, er war ganz ausser sich beschaeftigt.

Schon unter Mittlers Erzaehlung hatte die Einbildungskraft des Liebenden sich lebhaft ergangen.

Er sah Ottilien allein oder so gut als allein auf wohlbekanntem Wege, in einem gewohnten Wirtshause, dessen Zimmer er so oft betreten; er dachte, er ueberlegte, oder vielmehr er dachte, er ueberlegte nicht; er wuenschte, er wollte nur.

Er musste sie sehn, sie sprechen.

Wozu, warum, was daraus entstehen sollte, davon konnte die Rede nicht sein.

Er widerstand nicht, er musste.

Der Kammerdiener ward ins Vertrauen gezogen und erforschte sogleich Tag und Stunde, wann Ottilie reisen wuerde.

Der Morgen brach an; Eduard saeumte nicht, unbegleitet sich zu Pferde dahin zu begeben, wo Ottilie uebernachten sollte.

Er kam nur allzuzeitig dort an; die ueberraschte Wirtin empfing ihn mit Freuden; sie war ihm ein grosses Familienglueck schuldig geworden.

Er hatte ihrem Sohn, der als Soldat sich sehr brav gehalten, ein Ehrenzeichen verschafft, indem er dessen Tat, wobei er allein gegenwaertig gewesen, heraushob, mit Eifer bis vor den Feldherrn brachte und die Hindernisse einiger Misswollenden ueberwand.

Sie wusste nicht, was sie ihm alles zuliebe tun sollte.

Sie raeumte schnell in ihrer Putzstube, die freilich auch zugleich Garderobe und Vorratskammer war, moeglichst zusammen; allein er kuendigte ihr die Ankunft eines Frauenzimmers an, die hier hereinziehen sollte, und liess fuer sich eine Kammer hinten auf dem Gange notduerftig einrichten.

Der Wirtin erschien die Sache geheimnisvoll, und es war ihr angenehm, ihrem Goenner, der sich dabei sehr interessiert und taetig zeigte, etwas Gefaelliges zu erweisen.

Und er, mit welcher Empfindung brachte er die lange, lange Zeit bis zum Abend hin!

Er betrachtete das Zimmer ringsumher, in dem er sie sehen sollte; es schien ihm in seiner ganzen haeuslichen Seltsamkeit ein himmlischer Aufenthalt.

Was dachte er sich nicht alles aus, ob er Ottilien ueberraschen, ob er sie vorbereiten sollte!

Endlich gewann die letztere Meinung Oberhand; er setzte sich hin und schrieb.

Dies Blatt sollte sie empfangen.

"Indem du diesen Brief liesest, Geliebteste, bin ich in deiner Naehe.

Du musst nicht erschrecken, dich nicht entsetzen; du hast von mir nichts zu befuerchten.

Ich werde mich nicht zu dir draengen.

Du siehst mich nicht eher, als du es erlaubst.

Bedenke vorher deine Lage, die meinige.

Wie sehr danke ich dir, dass du keinen entscheidenden Schritt zu tun vorhast; aber bedeutend genug ist er.

Tu ihn nicht!

Hier, auf einer Art von Scheideweg, ueberlege nochmals: kannst du mein sein, willst du mein sein?

O du erzeigst uns allen eine grosse Wohltat und mir eine ueberschwengliche.

Lass mich dich wiedersehen, dich mit Freuden wiedersehen.

Lass mich die schoene Frage muendlich tun und beantworte sie mir mit deinem schoenen Selbst.

An meine Brust, Ottilie!

Hieher, wo du manchmal geruht hast und wo du immer hingehoerst!" Indem er schrieb, ergriff ihn das Gefuehl, sein Hoechstersehntes nahe sich, es werde nun gleich gegenwaertig sein.

Zu dieser Tuere wird sie hereintreten, diesen Brief wird sie lesen, wirklich wird sie wie sonst vor mir dastehen, deren Erscheinung ich mir so oft herbeisehnte.

Wird sie noch dieselbe sein?

Hat sich ihre Gestalt, haben sich ihre Gesinnungen veraendert?

Er hielt die Feder noch in der Hand, er wollte schreiben, wie er dachte; aber der Wagen rollte in den Hof.

Mit fluechtiger Feder setzte er noch hinzu:" ich hoere dich kommen.

Auf einen Augenblick leb wohl!" er faltete den Brief, ueberschrieb ihn; zum Siegeln war es zu spaet.

Er sprang in die Kammer, durch die er nachher auf den Gang zu gelangen wusste, und augenblicks fiel ihm ein, dass er die Uhr mit dem Petschaft noch auf dem Tisch gelassen.

Sie sollte diese nicht zuerst sehen; er sprang zurueck und holte sie gluecklich weg.

Vom Vorsaal her vernahm er schon die Wirtin, die auf das Zimmer losging, um es dem Gast anzuweisen.

Er eilte gegen die Kammertuer, aber sie war zugefahren.

Den Schluessel hatte er beim Hineinspringen heruntergeworfen, der lag inwendig; das Schloss war zugeschnappt, und er stund gebannt.

Heftig draengte er an der Tuere; sie gab nicht nach.

O wie haette er gewuenscht, als ein Geist durch die Spalten zu schluepfen!

Vergebens!

Er verbarg sein Gesicht an den Tuerpfosten.

Ottilie trat herein, die Wirtin, als sie ihn erblickte, zurueck.

Auch Ottilien konnte er nicht einen Augenblick verborgen bleiben.

Er wendete sich gegen sie, und so standen die Liebenden abermals auf die seltsamste Weise gegeneinander.

Sie sah ihn ruhig und ernsthaft an, ohne vor—oder zurueckzugehen, und als er eine Bewegung machte, sich ihr zu naehern, trat sie einige Schritte zurueck bis an den Tisch.

Auch er trat wieder zurueck.

"Ottilie", rief er aus, "lass mich das furchtbare Schweigen brechen!

Sind wir nur Schatten, die einander gegenueberstehen?

Aber vor allen Dingen hoere!

Es ist ein Zufall, dass du mich gleich jetzt hier findest.

Neben dir liegt ein Brief, der dich vorbereiten sollte.

Lies, ich bitte dich, lies ihn!

Und dann beschliesse, was du kannst".

Sie blickte herab auf den Brief, und nach einigem Besinnen nahm sie ihn auf, erbrach und las ihn.

Ohne die Miene zu veraendern, hatte sie ihn gelegen, und so legte sie ihn leise weg; dann drueckte sie die flachen, in die Hoehe gehobenen Haende zusammen, fuehrte sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig vorwaerts neigte, und sah den dringend Fordernden mit einem solchen Blick an, dass er von allem abzustehen genoetigt war, was er verlangen oder wuenschen mochte.

Diese Bewegung zerriss ihm das Herz.

Er konnte den Anblick, er konnte die Stellung Ottiliens nicht ertragen.

Es sah voellig aus, als wuerde sie in die Kniee sinken, wenn er beharrte.

Er eilte verzweifelnd zur Tuer hinaus und schickte die Wirtin zu der Einsamen.

Er ging auf dem Vorsaal auf und ab.

Es war Nacht geworden, im Zimmer blieb es stille.

Endlich trat die Wirtin heraus und zog den Schluessel ab.

Die gute Frau war geruehrt, war verlegen, sie wusste nicht, was sie tun sollte.

Zuletzt im Weggehen bot sie den Schluessel Eduarden an, der ihn ablehnte.

Sie liess das Licht stehen und entfernte sich.

Eduard im tiefsten Kummer warf sich auf Ottiliens Schwelle, die er mit seinen Traenen benetzte.

Jammervoller brachten kaum jemals in solcher Naehe Liebende eine Nacht zu.

Der Tag brach an; der Kutscher trieb, die Wirtin schloss auf und trat in das Zimmer.

Sie fand Ottilien angekleidet eingeschlafen, sie ging zurueck und winkte Eduarden mit einem teilnehmenden Laecheln.

Beide traten vor die Schlafende; aber auch diesen Anblick vermochte Eduard nicht auszuhalten.

Die Wirtin wagte nicht, das ruhende Kind zu wecken, sie setzte sich gegenueber.

Endlich schlug Ottilie die schoenen Augen auf und richtete sich auf ihre Fuesse.

Sie lehnt das Fruehstueck ab, und nun tritt Eduard vor sie.

Er bittet sie instaendig, nur ein Wort zu reden, ihren Willen zu erklaeren.

Er wolle allen ihren Willen, schwoert er; aber sie schweigt. Nochmals fragt er sie liebevoll und dringend, ob sie ihm angehoeren wolle.

Wie lieblich bewegt sie mit niedergeschlagenen Augen ihr Haupt zu einem sanften Nein!

Er fragt, ob sie nach der Pension wolle.

Gleichgueltig verneint sie das.

Aber als er fragt, ob er sie zu Charlotten zurueckfuehren duerfe, bejaht sies mit einem getrosten Neigen des Hauptes.

Er eilt ans Fenster, dem Kutscher Befehle zu geben; aber hinter ihm weg ist sie wie der Blitz zur Stube hinaus, die Treppe hinab in dem Wagen.

Der Kutscher nimmt den Weg nach dem Schlosse zurueck; Eduard folgt zu Pferde in einiger Entfernung.

Wie hoechst ueberrascht war Charlotte, als sie Ottilien vorfahren und Eduarden zu Pferde sogleich in den Schlosshof hereinsprengen sah!

Sie eilte bis zur Tuerschwelle.

Ottilie steigt aus und naehert sich mit Eduarden.

Mit Eifer und Gewalt fasst sie die Haende beider Ehegatten, drueckt sie zusammen und eilt auf ihr Zimmer.

Eduard wirft sich Charlotten um den Hals und zerfliesst in Traenen; er kann sich nicht erklaeren, bittet, Geduld mit ihm zu haben, Ottilien beizustehen, ihr zu helfen.

Charlotte eilt auf Ottiliens Zimmer, und ihr schaudert, da sie hineintritt; es war schon ganz ausgeraeumt, nur die leeren Waende standen da.

Es erschien so weitlaeufig als unerfreulich.

Man hatte alles weggetragen, nur das Koefferchen, unschluessig, wo man es hinstellen sollte, in der Mitte des Zimmers stehengelassen.

Ottilie lag auf dem Boden, Arm und Haupt ueber den Koffer gestreckt.

Charlotte bemueht sich um sie, fragt, was vorgegangen, und erhaelt keine Antwort.

Sie laesst ihr Maedchen, das mit Erquickungen kommt, bei Ottilien und eilt zu Eduarden.

Sie findet ihn im Saal; auch er belehrt sie nicht.

Er wirft sich vor ihr nieder, er badet ihre Haende in Traenen, er flieht auf sein Zimmer, und als sie ihm nachfolgen will, begegnet ihr der Kammerdiener, der sie aufklaert, soweit er vermag.

Das uebrige denkt sie sich zusammen und dann sogleich mit Entschlossenheit an das, was der Augenblick fordert.

Ottiliens Zimmer ist aufs baldigste wieder eingerichtet.

Eduard hat die seinigen angetroffen, bis auf das letzte Papier, wie er sie verlassen.

Die dreie scheinen sich wieder gegeneinader zu finden, aber Ottilie faehrt fort zu schweigen, und Eduard vermag nichts, als seine Gattin um Geduld zu bitten, die ihm selbst zu fehlen scheint.

Charlotte sendet Boten an Mittlern und an den Major.

Jener war nicht anzutreffen, dieser kommt.

Gegen ihn schuettet Eduard sein Herz aus, ihm gesteht er jeden kleinsten Umstand, und so erfaehrt Charlotte, was begegnet, was die Lage so sonderbar veraendert, was die Gemueter aufgeregt.

Sie spricht aufs liebevollste mit ihrem Gemahl.

Sie weiss keine andere Bitte zu tun als nur, dass man das Kind gegenwaertig nicht bestuermen moege.

Eduard fuehlt den Wert, die Liebe, die Vernunft seiner Gattin; aber seine Neigung beherrscht ihn ausschliesslich.

Charlotte macht ihm Hoffnung, verspricht ihm, in die Scheidung zu willigen.

Er traut nicht; er ist so krank, dass ihn Hoffnung und Glaube abwechselnd verlassen; er dringt in Charlotten, sie soll dem Major ihre Hand zusagen; eine Art von wahnsinnigem Unmut hat ihn ergriffen.

Charlotte, ihn zu besaenftigen, ihn zu erhalten, tut, was er fordert.

Sie sagt dem Major ihre Hand zu auf den Fall, dass Ottilie sich mit Eduarden verbinden wolle, jedoch unter ausdruecklicher Bedingung, dass die beiden Maenner fuer den Augenblick zusammen eine Reise machen.

Der Major hat fuer seinen Hof ein auswaertiges Geschaeft, und Eduard verspricht, ihn zu begleiten.

Man macht Anstalten, und man beruhigt sich einigermassen, indem wenigstens etwas geschieht.

Unterdessen kann man bemerken, dass Ottilie kaum Speise noch Trank zu sich nimmt, indem sie immerfort bei ihrem Schweigen verharrt.

Man redet ihr zu, sie wird aengstlich; man unterlaesst es.

Denn haben wir nicht meistenteils die Schwaeche, dass wir jemanden auch zu seinem Besten nicht gern quaelen moegen?

Charlotte sann alle Mittel durch, endlich geriet sie auf den Gedanken, jenen Gehuelfen aus der Pension kommen zu lassen, der ueber Ottilien viel vermochte, der wegen ihres unvermuteten Aussenbleibens sich sehr freundlich geaeussert, aber keine Antwort erhalten hatte.

Man spricht, um Ottilien nicht zu ueberraschen, von diesem Vorsatz in ihrer Gegenwart.

Sie scheint nicht einzustimmen; sie bedenkt sich; endlich scheint ein Entschluss in ihr zu reifen, sie eilt nach ihrem Zimmer und sendet noch vor Abend an die Versammelten folgendes Schreiben.

"Warum soll ich ausdruecklich sagen, meine Geliebten, was sich von selbst versteht?

Ich bin aus meiner Bahn geschritten, und ich soll nicht wieder hinein.

Ein feindseliger Daemon, der Macht ueber mich gewonnen, scheint mich von aussen zu hindern, haette ich mich auch mit mir selbst wieder zur Einigkeit gefunden.

Ganz rein war mein Vorsatz, Eduarden zu entsagen, mich von ihm zu entfernen.

Ihm hofft ich nicht wieder zu begegnen.

Es ist anders geworden; er stand selbst gegen seinen eigenen Willen vor mir.

Mein Versprechen, mich mit ihm in keine Unterredung einzulassen, habe ich vielleicht zu buchstaeblich genommen und gedeutet.

Nach Gefuehl und Gewissen des Augenblicks schwieg ich, verstummt ich vor dem Freunde, und nun habe ich nichts mehr zu sagen.

Ein strenges Ordensgeluebde, welches den, der es mit ueberlegung eingeht, vielleicht unbequem aengstiget, habe ich zufaellig, vom Gefuehl gedrungen, ueber mich genommen.

Lasst mich darin beharren, solange mir das Herz gebietet.

Beruft keine Mittelsperson!

Dringt nicht in mich, dass ich reden, dass ich mehr Speise und Trank geniessen soll, als ich hoechstens bedarf.

Helft mir durch Nachsicht und Geduld ueber diese Zeit hinweg.

Ich bin jung, die Jugend stellt sich unversehens wieder her. Duldet mich in eurer Gegenwart, er freut mich durch eure Liebe, belehrt mich durch eure Unterhaltung; aber mein Innres ueberlasst mir selbst!" Die laengst vorbereitete Abreise der Maenner unterblieb, weil jenes auswaertige Geschaeft des Majors sich verzoegerte.

Wie erwuenscht fuer Eduard!

Nun durch Ottiliens Blatt aufs neue angeregt, durch ihre trostvollen, hoffnunggebenden Worte wieder ermutigt und zu standhaftem Ausharren berechtigt, erklaerte er auf einmal, er werde sich nicht entfernen.

"Wie toericht", rief er aus, "das Unentbehrlichste, Notwendigste vorsaetzlich, voreilig wegzuwerfen, das, wenn uns auch der Verlust bedroht, vielleicht noch zu erhalten waere!

Und was soll es heissen?

Doch nur, dass der Mensch ja scheine, wollen, waehlen zu koennen.

So habe ich oft, beherrscht von solchem albernen Duenkel, Stunden, ja Tage zu frueh mich von Freunden losgerissen, um nur nicht von dem letzten, unausweichlichen Termin entschieden gezwungen zu werden.

Diesmal aber will ich bleiben.

Warum soll ich mich entfernen?

Ist sie nicht schon von mir entfernt?

Es faellt mir nicht ein, ihre Hand zu fassen, sie an mein Herz zu druecken; sogar darf ich es nicht denken, es schaudert mir.

Sie hat sich nicht von mir weg, sie hat sich ueber mich weg gehoben".

Und so blieb er, wie er wollte, wie er musste.

Aber auch dem Behagen glich nichts, wenn er sich mit ihr zusammenfand.

Und so war auch ihr dieselbe Empfindung geblieben; auch sie konnte sich dieser seligen Notwendigkeit nicht entziehen.

Nach wie vor uebten sie eine unbeschreibliche, fast magische Anziehungskraft gegeneinander aus.

Sie wohnten unter Einem Dache; aber selbst ohne gerade aneinander zu denken, mit andern Dingen beschaeftigt, von der Gesellschaft hin und her gezogen, naeherten sie sich einander.

Fanden sie sich in Einem Saale, so dauerte es nicht lange, und sie standen, sie sassen nebeneinader.

Nur die naechste Naehe konnte sie beruhigen, aber auch voellig beruhigen, und diese Naehe war genug; nicht eines Blickes, nicht eines Wortes, keiner Gebaerde, keiner Beruehrung bedurfte es, nur des reinen Zusammenseins.

Dann waren es nicht zwei Menschen, es war nur Ein Mensch im bewusstlosen, vollkommnen Behagen, mit sich selbst zufrieden und mit der Welt.

Ja, haette man eins von beiden am letzten Ende der Wohnung festgehalten, das andere haette sich nach und nach von selbst, ohne Vorsatz, zu ihm hinbewegt.

Das Leben war ihnen ein Raetsel, dessen Aufloesung sie nur miteinander fanden.

Ottilie war durchaus heiter und gelassen, so dass man sich ueber sie voellig beruhigen konnte.

Sie entfernte sich wenig aus der Gesellschaft, nur hatte sie es erlangt, allein zu speisen.

Niemand als Nanny bediente sie.

Was einem jeden Menschen gewoehnlich begegnet, wiederholt sich mehr, als man glaubt, weil seine Natur hiezu die naechste Bestimmung gibt.

Charakter, Individualitaet, Neigung, Richtung, oertlichkeit, Umgebungen und Gewohnheiten bilden zusammen ein Ganzes, in welchem jeder Mensch wie in einem Elemente, in einer Atmosphaere schwimmt, worin es ihm allein bequem und behaglich ist.

Und so finden wir die Menschen, ueber deren Veraenderlichkeit so viele Klage gefuehrt wird, nach vielen Jahren zu unserm Erstaunen unveraendert und nach aeussern und innern unendlichen Anregungen unveraenderlich.

So bewegte sich auch in dem taeglichen Zusammenleben unserer Freunde fast alles wieder in dem alten Gleise.

Noch immer aeusserte Ottilie stillschweigend durch manche Gefaelligkeit ihr zuvorkommendes Wesen, und so jedes nach seiner Art.

Auf diese Weise zeigte sich der haeusliche Zirkel als ein Scheinbild des vorigen Lebens, und der Wahn, als ob noch alles beim alten sei, war verzeihlich.

Die herbstlichen Tage, an Laenge jenen Fruehlingstagen gleich, riefen die Gesellschaft um eben die Stunde aus dem Freien ins Haus zurueck.

Der Schmuck an Fruechten und Blumen, der dieser Zeit eigen ist, liess glauben, als wenn es der Herbst jenes ersten Fruehlings waere; die Zwischenzeit war ins Vergessen gefallen.

Denn nun bluehten die Blumen, dergleichen man in jenen ersten Tagen auch gesaeet hatte; nun reiften Fruechte an den Baeumen, die man damals bluehen gesehen.

Der Major ging ab und zu; auch Mittler liess sich oefter sehen. Die Abendsitzungen waren meistens regelmaessig.

Eduard las gewoehnlich, lebhafter, gefuehlvoller, besser, ja sogar heiterer, wenn man will, als jemals.

Es war, als wenn er, so gut durch Froehlichkeit als durch Gefuehl, Ottiliens Erstarren wieder beleben, ihr Schweigen wieder aufloesen wollte.

Er setzte sich wie vormals, dass sie ihm ins Buch sehen konnte, ja er ward unruhig, zerstreut, wenn sie nicht hineinsah, wenn er nicht gewiss war, dass sie seinen Worten mit ihren Augen folgte.

Jedes unerfreuliche, unbequeme Gefuehl der mittleren Zeit war ausgeloescht.

Keines trug mehr dem andern etwas nach; jede Art von Bitterkeit war verschwunden.

Der Major begleitete mit der Violine das Klavierspiel Charlottens, so wie Eduards Floete mit Ottiliens Behandlung des Saiteninstruments wieder wie vormals zusammentraf.

So rueckte man dem Geburtstage Eduards naeher, dessen Feier man vor einem Jahre nicht erreicht hatte.

Er sollte ohne Festlichkeit in stillem, freundlichem Behagen diesmal gefeiert werden.

So war man, halb stillschweigend halb ausdruecklich, miteinander uebereingekommen.

Doch je naeher diese Epoche heranrueckte, vermehrte sich das Feierliche in Ottiliens Wesen, das man bisher mehr empfunden als bemerkt hatte.

Sie schien im Garten oft die Blumen zu mustern; sie hatte dem Gaertner angedeutet, die Sommergewaechse aller Art zu schonen, und sich besonders bei den Astern aufgehalten, die gerade dieses Jahr in unmaessiger Menge bluehten.

Das Bedeutendste jedoch, was die Freunde mit stiller Aufmerksamkeit beobachteten, war, dass Ottilie den Koffer zum erstenmal ausgepackt und daraus verschiedenes gewaehlt und abgeschnitten hatte, was zu einem einzigen, aber ganzen und vollen Anzug hinreichte.

Als sie das uebrige mit Beihuelfe Nannys wieder einpacken wollte, konnte sie kaum damit zustande kommen; der Raum war uebervoll, obgleich schon ein Teil herausgenommen war.

Das junge habgierige Maedchen konnte sich nicht satt sehen, besonders da sie auch fuer alle kleineren Stuecke des Anzugs gesorgt fand.

Schuhe, Struempfe, Strumpfbaender mit Devisen, Handschuhe und so manches andere war noch uebrig.

Sie bat Ottilien, ihr nur etwas davon zu schenken.

Diese verweigerte es, zog aber sogleich die Schublade einer Kommode heraus und liess das Kind waehlen, das hastig und ungeschickt zugriff und mit der Beute gleich davonlief, um den uebrigen Hausgenossen ihr Glueck zu verkuenden und vorzuzeigen.

Zuletzt gelang es Ottilien, alles sorgfaeltig wieder einzuschichten; sie oeffnete hierauf ein verborgenes Fach, das im Deckel angebracht war.

Dort hatte sie kleine Zettelchen und Briefe Eduards, mancherlei aufgetrocknete Blumenerinnerungen frueherer Spaziergaenge, eine Locke ihres Geliebten und was sonst noch verborgen.

Noch eins fuegte sie hinzu—es war das Portraet ihres Vaters—und verschloss das Ganze, worauf sie den zarten Schluessel an dem goldnen Kettchen wieder um den Hals an ihre Brust hing.

Mancherlei Hoffnungen waren indes in dem Herzen der Freunde rege geworden.

Charlotte war ueberzeugt, Ottilie werde auf jenen Tag wieder zu sprechen anfangen; denn sie hatte bisher eine heimliche Geschaeftigkeit bewiesen, eine Art von heiterer Selbstzufriedenheit, ein Laecheln, wie es demjenigen auf dem Gesichte schwebt, der Geliebten etwas Gutes und Erfreuliches verbirgt.

Niemand wusste, dass Ottilie gar manche Stunde in grosser Schwachheit hinbrachte, aus der sie sich nur fuer die Zeiten, wo sie erschien durch Geisteskraft emporhielt.

Mittler hatte sich diese Zeit oefters sehen lassen und war laenger geblieben als sonst gewoehnlich.

Der hartnaeckige Mann wusste nur zu wohl, dass es einen gewissen Moment gibt, wo allein das Eisen zu schmieden ist.

Ottiliens Schweigen sowie ihre Weigerung legte er zu seinen Gunsten aus.

Es war bisher kein Schritt zu Scheidung der Gatten geschehen; er hoffte das Schicksal des guten Maedchens auf irgendeine andere guenstige Weise zu bestimmen; er horchte, er gab nach, er gab zu verstehen und fuehrte sich nach seiner Weise klug genug auf.

Allein ueberwaeltigt war er stets, sobald er Anlass fand, sein Raesonnement ueber Materien zu aeussern, denen er eine grosse Wichtigkeit beilegte.

Er lebte viel in sich, und wenn er mit andern war, so verhielt er sich gewoehnlich nur handelnd gegen sie.

Brach nun einmal unter Freunden seine Rede los, wie wir schon oefter gesehen haben, so rollte sie ohne Ruecksicht fort, verletzte oder heilte, nutzte oder schadete, wie es sich gerade fuegen mochte.

Den Abend vor Eduards Geburtstage sassen Charlotte und der Major Eduarden, der ausgeritten war, erwartend beisammen; Mittler ging im Zimmer auf und ab; Ottilie war auf dem ihrigen geblieben, den morgenden Schmuck auseinanderlegend und ihrem Maedchen manches andeutend, welches sie vollkommen verstand und die stummen Anordnungen geschickt befolgte.

Mittler war gerade auf eine seiner Lieblingsmaterien gekommen. Er pflegte gern zu behaupten, dass sowohl bei der Erziehung der Kinder als bei der Leitung der Voelker nichts ungeschickter und barbarischer sei als Verbote, als verbietende Gesetze und Anordnungen.

"Der Mensch ist von Hause aus taetig", sagte er; "und wenn man ihm zu gebieten versteht, so faehrt er gleich dahinter her, handelt und richtet aus.

Ich fuer meine Person mag lieber in meinem Kreise Fehler und Gebrechen so lange dulden, bis ich die entgegengesetzte Tugend gebieten kann, als dass ich den Fehler los wuerde und nichts Rechtes an seiner Stelle saehe.

Der Mensch tut recht gern das Gute, das Zweckmaessige, wenn er nur dazu kommen kann; er tut es, damit er was zu tun hat, und sinnt darueber nicht weiter nach als ueber alberne Streiche, die er aus Muessiggang und langer Weile vornimmt.

Wie verdriesslich ist mirs oft, mit anzuhoeren, wie man die Zehn Gebote in der Kinderlehre wiederholen laesst.

Das vierte ist noch ein ganz huebsches, vernuenftiges, gebietendes Gebot.

’Du sollst Vater und Mutter ehren’. Wenn sich das die Kinder recht in den Sinn schreiben, so haben sie den ganzen Tag daran auszuueben.

Nun aber das fuenfte, was soll man dazu sagen?

’Du sollst nicht toeten’.

Als wenn irgendein Mensch im mindesten Lust haette, den andern totzuschlagen!

Man hasst einen, man erzuernt sich, man uebereilt sich, und in Gefolg von dem und manchem andern kann es wohl kommen, dass man gelegentlich einen totschlaegt.

Aber ist es nicht eine barbarische Anstalt, den Kindern Mord und Totschlag zu verbieten?

Wenn es hiesse: ’sorge fuer des andern Leben, entferne, was ihm schaedlich sein kann, rette ihn mit deiner eigenen Gefahr; wenn du ihn beschaedigst, denke, dass du dich selbst beschaedigst’: das sind Gebote, wie sie unter gebildeten, vernuenftigen Voelkern statthaben und die man bei der Katechismuslehre nur kuemmerlich in dem ’was ist das?’ nachschleppt.

Und nun gar das sechste, das finde ich ganz abscheulich!

Was?

Die Neugierde vorahnender Kinder auf gefaehrliche Mysterien reizen, ihre Einbildungskraft zu wunderlichen Bildern und Vorstellungen aufregen, die gerade das, was man entfernen will, mit Gewalt heranbringen!

Weit besser waere es, dass dergleichen von einem heimlichen Gericht willkuerlich bestraft wuerde, als dass man vor Kirch und Gemeinde davon plappern laesst".

In dem Augenblick trat Ottilie herein.

"Du sollst nicht ehebrechen", fuhr Mittler fort.

"Wie grob, wie unanstaendig!

Klaenge es nicht ganz anders, wenn es hiesse: ’du sollst Ehrfurcht haben vor der ehelichen Verbildung; wo du Gatten siehst, die sich lieben, sollst du dich darueber freuen und teil daran nehmen wie an dem Glueck eines heitern Tages.

Sollte sich irgend in ihrem Verhaeltnis etwas trueben, so sollst du suchen, es aufzuklaeren; du sollst suchen, sie zu beguetigen, sie zu besaenftigen, ihnen ihre wechselseitigen Vorteile deutlich zu machen, und mit schoener Uneigennuetzigkeit das Wohl der andern foerdern, indem du ihnen fuehlbar machst, was fuer ein Glueck aus jeder Pflicht und besonders aus dieser entspringt, welche Mann und Weib unaufloeslich verbindet?" Charlotte sass wie auf Kohlen, und der Zustand war ihr um so aengstlicher, als sie ueberzeugt war, dass Mittler nicht wusste, was und wo ers sagte, und ehe sie ihn noch unterbrechen konnte, sah sie schon Ottilien, deren Gestalt sich verwandelt hatte, aus dem Zimmer gehen.

"Sie erlassen uns wohl das siebente Gebot", sagte Charlotte mit erzwungenem Laecheln.

"Alle die uebrigen", versetzte Mittler, "wenn ich nur das rette, worauf die andern beruhen".

Mit entsetzlichem Schrei hereinstuerzend rief Nanny: "sie stirbt!

Das Fraeulein stirbt!

Kommen Sie!

Kommen Sie!" Als Ottilie nach ihrem Zimmer schwankend zurueckgekommen war, lag der morgende Schmuck auf mehreren Stuehlen voellig ausgebreitet, und das Maedchen, das betrachtend und bewundernd daran hin und her ging, rief jubelnd aus: "sehen Sie nur, liebstes Fraeulein, das ist ein Brautschmuck, ganz Ihrer wert!" Ottilie vernahm diese Worte und sank auf den Sofa.

Nanny sieht ihre Herrin erblassen, erstarren; sie laeuft zu Charlotten; man kommt.

Der aerztliche Hausfreund eilt herbei; es scheint ihm nur eine Erschoepfung.

Er laesst etwas Kraftbruehe bringen; Ottilie weist sie mit Abscheu weg, ja sie faellt fast in Zuckungen, als man die Tasse dem Munde naehert.

Er fragt mit Ernst und Hast, wie es ihm der Umstand eingab, was Ottilie heute genossen habe.

Das Maedchen stockt; er wiederholt seine Frage; das Maedchen bekennt, Ottilie habe nichts genossen.

Nanny scheint ihm aengstlicher als billig.

Er reisst sie in ein Nebenzimmer, Charlotte folgt, das Maedchen wirft sich auf die Kniee, sie gesteht, dass Ottilie schon lange so gut wie nichts geniesse.

Auf Andringen Ottiliens habe sie die Speisen an ihrer Statt genossen; verschwiegen habe sie es wegen bittender und drohender Gebaerden ihrer Gebieterin, und auch, setzte sie unschuldig hinzu, weil es ihr gar so gut geschmeckt.

Der Major und Mittler kamen heran; sie fanden Charlotten taetig in Gesellschaft des Arztes.

Das bleiche himmlische Kind sass, sich selbst bewusst, wie es schien, in der Ecke des Sofas.

Man bittet sie, sich niederzulegen; sie verweigerts, winkt aber, dass man das Koefferchen herbeibringe.

Sie setzt ihre Fuesse darauf und findet sich in einer halb liegenden, bequemen Stellung.

Sie scheint Abschied nehmen zu wollen, ihre Gebaerden druecken den Umstehenden die zarteste Anhaenglichkeit aus, Liebe, Dankbarkeit, Abbitte und das herzlichste Lebewohl.

Eduard, der vom Pferde steigt, vernimmt den Zustand, er stuerzt in das Zimmer, er wirft sich an ihre Seite nieder, fasst ihre Hand und ueberschwemmt sie mit stummen Traenen.

So bleibt er lange.

Endlich ruft er aus: "soll ich deine Stimme nicht wieder hoeren?

Wirst du nicht mit einem Wort fuer mich ins Leben zurueckkehren?

Gut, gut!

Ich folge dir hinueber; da werden wir mit andern Sprachen reden!" Sie drueckt ihm kraeftig die Hand, sie blickt ihn lebevoll und liebevoll an, und nach einem tiefen Atemzug, nach einer himmlischen, stummen Bewegung der Lippen: "versprich mir zu leben!" ruft sie aus, mit holder, zaertlicher Anstrengung; doch gleich sinkt sie zurueck.

"Ich versprech es!" rief er ihr entgegen, doch rief er es ihr nur nach; sie war schon abgeschieden.

Nach einer traenenvollen Nacht fiel die Sorge, die geliebten Reste zu bestatten, Charlotten anheim.

Der Major und Mittler standen ihr bei.

Eduards Zustand war zu bejammern.

Wie er sich aus seiner Verzweiflung nur hervorheben und einigermassen besinnen konnte, bestand er darauf, Ottilie sollte nicht aus dem Schlosse gebracht, sie sollte gewartet, gepflegt, als eine Lebende behandelt werden; denn sie sei nicht tot, sie koenne nicht tot sein.

Man tat ihm seinen Willen, insofern man wenigstens das unterliess, was er verboten hatte.

Er verlangte nicht, sie zu sehen.

Noch ein anderer Schreck ergriff, noch eine andere Sorge beschaeftigte die Freunde.

Nanny, von dem Arzt heftig gescholten, durch Drohungen zum Bekenntnis genoetigt und nach dem Bekenntnis mit Vorwuerfen ueberhaeuft, war entflohen.

Nach langem Suchen fand man sie wieder, sie schien ausser sich zu sein.

Ihre Eltern nahmen sie zu sich.

Die beste Begegnung schien nicht anzuschlagen, man musste sie einsperren, weil sie wieder zu entfliehen drohte.

Stufenweise gelang es, Eduarden der heftigsten Verzweiflung zu entreissen, aber nur zu seinem Unglueck; denn es ward ihm deutlich, es ward ihm gewiss, dass er das Glueck seines Lebens fuer immer verloren habe.

Man wagte es ihm vorzustellen, dass Ottilie, in jener Kapelle beigesetzt, noch immer unter den Lebendigen bleiben und einer freundlichen, stillen Wohnung nicht entbehren wuerde.

Es fiel schwer, seine Einwilligung zu erhalten, und nur unter der Bedingung, dass sie im offenen Sarge hinausgetragen und in dem Gewoelbe allenfalls nur mit einem Glasdeckel zugedeckt und eine immerbrennende Lampe gestiftet werden sollte, liess er sichs zuletzt gefallen und schien sich in alles ergeben zu haben.

Man kleidete den holden Koerper in jenen Schmuck, den sie sich selbst vorbereitet hatte; man setzte ihr einen Kranz von Asterblumen auf das Haupt, die wie traurige Gestirne ahnungsvoll glaenzten.

Die Bahre, die Kirche, die Kapelle zu schmuecken, wurden alle Gaerten ihres Schmucks beraubt.

Sie lagen veroedet, als wenn bereits der Winter alle Freude aus den Beeten weggetilgt haette.

Beim fruehsten Morgen wurde sie im offnen Sarge aus dem Schloss getragen, und die aufgehende Sonne roetete nochmals das himmlische Gesicht. Die Begleitenden draengten sich um die Traeger, niemand wollte vorausgehn, niemand folgen, jedermann sie umgeben, jedermann noch zum letztenmale ihre Gegenwart geniessen.

Knaben, Maenner und Frauen, keins blieb ungeruehrt.

Untroestlich waren die Maedchen, die ihren Verlust am unmittelbarsten empfanden.

Nanny fehlte.

Man hatte sie zurueckgehalten, oder vielmehr man hatte ihr den Tag und die Stunde des Begraebnisses verheimlicht.

Man bewachte sie bei ihren Eltern in einer Kammer, die nach dem Garten ging.

Als sie aber die Glocken laeuten hoerte, ward sie nur allzubald inne, was vorging, und da ihre Waechterin aus Neugierde, den Zug zu sehen, sie verliess, entkam sie zum Fenster hinaus auf einen Gang und von da, weil sie alle Tueren verschlossen fand, auf den Oberboden.

Eben schwankte der Zug den reinlichen, mit Blaettern bestreuten Weg durchs Dorf hin.

Nanny sah ihre Gebieterin deutlich unter sich, deutlicher, vollstaendiger, schoener als alle, die dem Zuge folgten.

ueberirdisch, wie auf Wolken oder Wogen getragen, schien sie ihrer Dienerin zu winken, und diese, verworren, schwankend, taumelnd, stuerzte hinab.

Auseinander fuhr die Menge mit einem entsetzlichen Schrei nach allen Seiten.

Vom Draengen und Getuemmel waren die Traeger genoetigt, die Bahre niederzusetzen.

Das Kind lag ganz nahe daran; es schien an allen Gliedern zerschmettert.

Man hob es auf; und zufaellig oder aus besonderer Fuegung lehnte man es ueber die Leiche, ja es schien selbst noch mit dem letzten Lebensrest seine geliebte Herrin erreichen zu wollen.

Kaum aber hatten ihre schlotternden Glieder Ottiliens Gewand, ihre kraftlosen Finger Ottiliens gefaltete Haende beruehrt, als das Maedchen aufsprang, Arme und Augen zuerst gen Himmel erhob, dann auf die Kniee vor dem Sarge niederstuerzte und andaechtig entzueckt zu der Herrin hinaufstaunte.

Endlich sprang sie wie begeistert auf und rief mit heiliger Freude: "ja, sie hat mir vergeben!

Was mir kein Mensch, was ich mir selbst nicht vergeben konnte, vergibt mir Gott durch ihren Blick, ihre Gebaerde, ihren Mund.

Nun ruht sie wieder so still und sanft; aber ihr habt gesehen, wie sie sich aufrichtete und mit entfalteten Haenden mich segnete, wie sie mich freundlich anblickte!

Ihr habt es alle gehoert, ihr seid Zeugen, dass sie zu mir sagte: ’dir ist vergeben!’

Ich bin nun keine Moerderin mehr unter euch, sie hat mir verziehen, Gott hat mir verziehen, und niemand kann mir mehr etwas anhaben".

Umhergedraengt stand die Menge; sie waren erstaunt, sie horchten und sahen hin und wider, und kaum wusste jemand, was er beginnen sollte.

"Tragt sie nun zur Ruhe!" sagte das Maedchen; "sie hat das Ihrige getan und gelitten und kann nicht mehr unter uns wohnen".

Die Bahre bewegte sich weiter, Nanny folgte zuerst, und man gelangte zur Kirche, zur Kapelle.

So stand nun der Sarg Ottiliens, zu ihren Haeupten der Sarg des Kindes, zu ihren Fuessen das Koefferchen, in ein starkes eichenes Behaeltnis eingeschlossen.

Man hatte fuer eine Waechterin gesorgt, welche in der ersten Zeit des Leichnams wahrnehmen sollte, der unter seiner Glasdecke gar liebenswuerdig dalag.

Aber Nanny wollte sich dieses Amt nicht nehmen lassen; sie wollte allein, ohne Gesellin bleiben und der zum erstenmal angezuendeten Lampe fleissig warten.

Sie verlangte dies so eifrig und hartnaeckig, dass man ihr nachgab, um ein groesseres Gemuetsuebel, das sich befuerchten liess, zu verhueten.

Aber sie blieb nicht lange allein; denn gleich mit sinkender Nacht, als das schwebende Licht, sein volles Recht ausuebend, einen helleren Schein verbreitete, oeffnete sich die Tuere, und es trat der Architekt in die Kapelle, deren fromm verzierte Waende bei so mildem Schimmer altertuemlicher und ahnungsvoller, als er je haette glauben koennen, ihm entgegendrangen.

Nanny sass an der einen Seite des Sarges.

Sie erkannte ihn gleich; aber schweigend deutete sie auf die verblichene Herrin.

Und so stand er auf der andern Seite, in jugendlicher Kraft und Anmut, auf sich selbst zurueckgewiesen, starr, in sich gekehrt, mit niedergesenkten Armen, gefalteten, mitleidig gerungenen Haenden, Haupt und Blick nach der Entseelten hingeneigt.

Schon einmal hatte er so vor Belisar gestanden.

Unwillkuerlich geriet er jetzt in die gleiche Stellung; und wie natuerlich war sie auch diesmal!

Auch hier war etwas unschaetzbar Wuerdiges von seiner Hoehe herabgestuerzt; und wenn dort Tapferkeit, Klugheit, Macht, Rang und Vermoegen in einem Manne als unwiederbringlich verloren bedauert wurden, wenn Eigenschaften, die der Nation, dem Fuersten in entscheidenden Momenten unentbehrlich sind, nicht geschaetzt, vielmehr verworfen und ausgestossen worden, so waren hier soviel andere stille Tugenden, von der Natur erst kurz aus ihren gehaltreichen Tiefen hervorgerufen, durch ihre gleichgueltige Hand schnell wieder ausgetilgt, seltene, schoene, liebenswuerdige Tugenden, deren friedliche Einwirkung die beduerftige Welt zu jeder Zeit mit wonnevollem Genuegen umfaengt und mit sehnsuechtiger Trauer vermisst.

Der Juengling schwieg, auch das Maedchen eine Zeitlang; als sie ihm aber die Traenen haeufig aus dem Auge quellen sah, als er sich im Schmerz ganz aufzuloesen schien, sprach sie mit so viel Wahrheit und Kraft, mit so viel Wohlwollen und Sicherheit ihm zu, dass er, ueber den Fluss ihrer Rede erstaunt, sich zu fassen vermochte und seine schoene Freundin ihm in einer hoehern Region lebend und wirkend vorschwebte.

Seine Traenen trockneten, seine Schmerzen linderten sich, knieend nahm er von Ottilien, mit einem herzlichen Haendedruck von Nanny Abschied, und noch in der Nacht ritt er vom Orte weg, ohne jemand weiter gesehen zu haben.

Der Wundarzt war die Nacht ueber ohne des Maedchens Wissen in der Kirche geblieben und fand, als er sie des Morgens besuchte, sie heiter und getrosten Mutes.

Er war auf mancherlei Verirrungen gefasst; er dachte schon, sie werde ihm von naechtlichen Unterredungen mit Ottilien und von andern solchen Erscheinungen sprechen, aber sie war natuerlich, ruhig und sich voellig selbstbewusst.

Sie erinnerte sich vollkommen aller frueheren Zeiten, aller Zustaende mit grosser Genauigkeit, und nichts in ihren Reden schritt aus dem gewoehnlichen Gange des Wahren und Wirklichen heraus als nur die Begebenheit beim Leichenbegaengnis, die sie mit Freudigkeit oft wiederholte: wie Ottilie sich aufgerichtet, sie gesegnet, ihr verziehen und sie dadurch fuer immer beruhigt habe.

Der fortdauernd schoene, mehr schlaf—als todaehnliche Zustand Ottiliens zog mehrere Menschen herbei.

Die Bewohner und Anwohner wollten sie noch sehen, und jeder mochte gern aus Nannys Munde das Unglaubliche hoeren; manche, um darueber zu spotten, die meisten, um daran zu zweifeln, und wenige, um sich glaubend dagegen zu verhalten.

Jedes Beduerfnis, dessen wirkliche Befriedigung versagt ist, noetigt zum Glauben.

Die vor den Augen aller Welt zerschmetterte Nanny war durch Beruehrung des frommen Koerpers wieder gesund geworden; warum sollte nicht auch ein aehnliches Glueck hier andern bereitet sein?

Zaertliche Muetter brachten zuerst heimlich ihre Kinder, die von irgendeinem uebel behaftet waren, und sie glaubten eine ploetzliche Besserung zu spueren.

Das Zutrauen vermehrte sich, und zuletzt war niemand so alt und so schwach, der sich nicht an dieser Stelle eine Erquickung und Erleichterung gesucht haette.

Der Zudrang wuchs, und man sah sich genoetigt, die Kapelle, ja ausser den Stunden des Gottesdienstes die Kirche zu verschliessen.

Eduard wagte sich nicht wieder zu der Abgeschiedenen.

Er lebte nur vor sich hin, er schien keine Traene mehr zu haben, keines Schmerzes weiter faehig zu sein.

Seine Teilnahme an der Unterhaltung, sein Genuss von Speis und Trank vermindert sich mit jedem Tage.

Nur noch einige Erquickung scheint er aus dem Glase zu schluerfen, das ihm freilich kein wahrhafter Prophet gewesen.

Er betrachtet noch immer gern die verschlungenen Namenszuege, und sein ernstheiterer Blick dabei scheint anzudeuten, dass er auch jetzt noch auf eine Vereinigung hoffe.

Und wie den Gluecklichen jeder Nebenumstand zu beguenstigen, jedes Ungefaehr mit emporzuheben scheint, so moegen sich auch gern die kleinsten Vorfaelle zur Kraenkung, zum Verderben des Ungluecklichen vereinigen.

Denn eines Tages, als Eduard das geliebte Glas zum Munde brachte, entfernte er es mit Entsetzen wieder; es war dasselbe und nicht dasselbe; er vermisst ein kleines Kennzeichen.

Man dringt in den Kammerdiener, und dieser muss gestehen, das echte Glas sei unlaengst zerbrochen und ein gleiches, auch aus Eduards Jugendzeit, untergeschoben worden.

Eduard kann nicht zuernen, sein Schicksal ist ausgesprochen durch die Tat; wie soll ihn das Gleichnis ruehren?

Aber doch drueckt es ihn tief.

Der Trank scheint ihm von nun an zu widerstehen; er scheint sich mit Vorsatz der Speise, des Gespraechs zu enthalten.

Aber von Zeit zu Zeit ueberfaellt ihn eine Unruhe.

Er verlangt wieder etwas zu geniessen, er faengt wieder an zu sprechen.

"Ach!" sagte er einmal zu dem Major, der ihm wenig von der Seite kam, "was bin ich ungluecklich, dass mein ganzes Bestreben nur immer eine Nachahmung, ein falsches Bemuehen bleibt!

Was ihr Seligkeit gewesen, wird mir Pein; und doch, um dieser Seligkeit willen bin ich genoetigt, diese Pein zu uebernehmen.

Ich muss ihr nach, auf diesem Wege nach; aber meine Natur haelt mich zurueck und mein Versprechen.

Es ist eine schreckliche Aufgabe, das Unnachahmliche nachzuahmen.

Ich fuehle wohl, Bester, es gehoert Genie zu allem, auch zum Maertyrertum".

Was sollen wir bei diesem hoffnungslosen Zustande der ehegattlichen, freundschaftlichen, aerztlichen Bemuehungen gedenken, in welchen sich Eduards Angehoerige eine Zeitlang hin und her wogten?

Endlich fand man ihn tot.

Mittler machte zuerst diese traurige Entdeckung.

Er berief den Arzt und beobachtete, nach seiner gewoehnlichen Fassung, genau die Umstaende, in denen man den Verdacht des getroffen hatte.

Charlotte stuerzte herbei; ein Verdacht des Selbstmordes regte sich in ihr; sie wollte sich, sie wollte die andern einer unverzeihlichen Unvorsichtigkeit anklagen.

Doch der Arzt aus natuerlichen und Mittler aus sittlichen Gruenden wussten sie bald vom Gegenteil zu ueberzeugen.

Ganz deutlich war Eduard von seinem Ende ueberrascht worden.

Er hatte, was er bisher sorgfaeltig zu verbergen pflegte, das ihm von Ottilien uebriggebliebene in einem stillen Augenblick vor sich aus einem Kaestchen, aus einer Brieftasche ausgebreitet: eine Locke, Blumen, in gluecklicher Stunde gepflueckt, alle Blaettchen, die sie ihm geschrieben, von jenem ersten an, das ihm seine Gattin so zufaellig ahnungsreich uebergeben hatte.

Das alles konnte er nicht einer ungefaehren Entdeckung mit Willen preisgeben.

Und so lag denn auch dieses vor kurzem zu unendlicher Bewegung aufgeregte Herz in unstoerbarer Ruhe; und wie er in Gedanken an die Heilige eingeschlafen war, so konnte man wohl ihn selig nennen.

Charlotte gab ihm seinen Platz neben Ottilien und verordnete, dass niemand weiter in diesem Gewoelbe beigesetzt werde.

Unter dieser Bedingung machte sie fuer Kirche und Schule, fuer den Geistlichen und den Schullehrer ansehnliche Stiftungen.

So ruhen die Liebenden nebeneinander.

Friede schwebt ueber ihrer Staette, heitere, verwandte Engelsbilder schauen vom Gewoelbe auf sie herab, und welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.

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