Drittes Kapitel

Die Liebe in verschiedenen Gestalten

"Inzwischen hatte ich das achtzehnte Jahr erreicht, und fing nun an, mitten unter den angenehmen Empfindungen, von denen meine Denkungs-Art und meine Beschaeftigungen unerschoepfliche Quellen zu sein schienen, ein Leeres in mir zu fuehlen, welches sich durch keine Ideen ausfuellen lassen wollte. Ich sah die manchfaltigen Szenen der Natur wie mit neuen Augen an; ihre Schoenheiten hatten fuer mich etwas Herz-ruehrendes, welches ich sonst nie auf diese Art empfunden hatte. Der Gesang der Voegel im Haine schien mir was zu sagen, das er mir nie gesagt hatte, ohne dass ich wusste, was es war; und die neu belaubten Waelder schienen mich einzuladen, in ihren Schatten einer wolluestigen Schwermut nachzuhaengen, von welcher ich mitten in den erhabensten Betrachtungen wider meinen Willen ueberwaeltiget wurde. Nach und nach verfiel ich in eine weichliche Untaetigkeit: Mich deuchte, ich sei bisher nur in der Einbildung gluecklich gewesen; und mein Herz sehnete sich nach einem Gegenstand, in welchem ich jene idealische Vollkommenheiten wuerklich geniessen moechte, an denen ich mich bisher nur wie an einem getraeumten Gastmahle geweidet hatte. Damals zuerst stellten sich mir die Reizungen der Freundschaft in einer vorher nie empfundenen Lebhaftigkeit dar: Ein Freund (bildete ich mir ein) ein Freund wuerde diese geheime Sehnsucht meines Herzens befriedigen. Meine Phantasie malte sich einen Pylades aus, und mein verlangendes Herz bekraenzte dieses schoene Bild mit allem, was mir das Liebenswuerdigste schien, selbst mit jenen aeusserlichen Annehmlichkeiten, welche in meinem System den natuerlichen Schmuck der Tugend ausmachten. Ich suchte diesen Freund unter der bluehenden Jugend, welche mich umgab. Mehr als einmal betrog mich mein Herz, ihn gefunden zu haben; aber eine kurze Erfahrung machte mich meines Irrtums bald gewahr werden. Unter einer so grossen Anzahl von auserlesenen Juenglingen, welche die Liverei des Gottes zu Delphi trugen, war nicht ein einziger, den die Natur so vollkommen mit mir zusammen gestimmt hatte, als die Spitzfindigkeit meiner Begriffe es erfoderte.

Um diese Zeit geschah es, dass ich das Unglueck hatte, der Ober-Priesterin eine Neigung einzufloessen, welche mit ihrem geheiligten Stande und mit ihrem Alter einen gleich starken Absatz machte; sie hatte mich schon seit geraumer Zeit mit einer vorzueglichen Guetigkeit angesehen, welche ich, so lang ich konnte, einer muetterlichen Gesinnung beimass, und mit aller der Ehrerbietung erwiderte, die ich der Vertrauten des Delphischen Gottes schuldig war. Stelle dir vor, schoene Danae, was fuer ein Modell zu einer Bild-Saeule des Erstaunens ich abgegeben haette, als sich eine so ehrwuerdige Person herabliess, mir zu entdecken, dass alle Vertraulichkeit, die ich zwischen ihr und dem Apollo voraussetzte, nicht zureiche, sie ueber die Schwachheiten der gemeinsten Erden-Toechter hinwegzusetzen. Die gute Dame war bereits in demjenigen Alter, worin es laecherlich waere, das Herz eines Mannes von einiger Erfahrung einer jungen Nebenbuhlerin streitig machen zu wollen. Allein einem Neuling, wofuer sie mich mit gutem Grund ansah, die ersten Unterweisungen zu geben, dazu konnte sie sich ohne uebertriebene Eitelkeit fuer reizend genug halten. Sie war zu den Zeiten des Heiligen Kriegs in der Bluete ihrer Schoenheit gewesen; hatte sich aber, wie die meisten ihres Standes, so gut erhalten, dass sie noch immer Hoffnung haben konnte, in einer Versammlung herbstlicher Schoenheiten vorzueglich bemerkt zu werden. Setze zu diesen ehrwuerdigen ueberbleibseln einer vormals beruehmten Schoenheit eine Figur, wie man die blonde Ceres zu bilden pflegt, grosse schwarze Augen, unter deren affektiertem Ernst eine wolluestige Glut hervorglimmte, und zu allem diesem eine ungemeine Sorgfalt fuer ihre Person, und die schlaue Kunst, die Vorteile ihrer Reizungen mit der strengen Sittsamkeit ihrer priesterlichen Kleidung zu verbinden: so kannst du dir eine genugsame Vorstellung von dieser Pythia machen, um den Grad der Gefahr abnehmen zu koennen, worin sich die Einfalt meiner Jugend bei ihren Nachstellungen befand.

Es ist leicht zu erachten, wie viel es sie Muehe kosten musste, die ersten Schwierigkeiten zu ueberwinden, welche ein mehr Ehrfurcht als Liebe einfloessendes Frauenzimmer, in den hartnaeckigen Vorurteilen eines achtzehnjaehrigen Juenglings findet. Ihr Stand erlaubte ihr nicht, sich deutlich zu erklaeren; und meine Bloedigkeit verstand die Sprache nicht, deren sie sich zu bedienen genoetigt war. Zwar braucht man sonst zu dieser Sprache keinen andern Lehrmeister als sein Herz; allein ungluecklicher Weise sagte mir mein Herz nichts. Es bedurfte der lange geuebten Geduld einer bejahrten Priesterin, um nicht tausendmal das Vorhaben aufzugeben, einem Menschen, der aus lauter Ideen zusammengesetzt war, ihre Absichten begreiflich zu machen. Und dennoch fand sie sich endlich genoetigt, sich des einzigen Kunstgriffs zu bedienen, von dem man in solchen Faellen eine gewisse Wuerkung erwarten kann; sie hatte noch Reizungen, welche die ungewohnten Augen eines Neulings blenden konnten. Die Verwirrung, worein sie mich durch den ersten Versuch von dieser Art gesetzt sah, schien ihr von guter Vorbedeutung zu sein; und vielleicht haette sie sich weniger in ihrer Erwartung betrogen, wenn nicht ein Umstand, von dem ihr nichts bekannt war, meinem Herzen eine mehr als gewoehnliche Staerke gegeben haette.

Unsre Tugend, oder diejenigen Wuerkungen, welche das Ansehen haben, aus einer so edeln Quelle zu fliessen, haben insgemein geheime Triebfedern, die uns, wenn sie gesehen wuerden, wo nicht alles, doch einen grossen Teil unsers Verdienstes dabei entziehen wuerden. Wie leicht ist es, der Versuchung einer Leidenschaft zu widerstehen, wenn ihr von einer staerkern die Waage gehalten wird?

Kurz zuvor, eh die schoene Pythia ihren physikalischen Versuch machte, war das Fest der Diana eingefallen, welches zu Delphi mit aller der Feierlichkeit begangen wird, die man der Schwester des Apollo schuldig zu sein vermeint. Alle Jungfrauen ueber vierzehn Jahre erschienen dabei in schneeweissem Gewand, mit aufgeloesten fliegenden Haaren, den Kopf und die Arme mit Blumen-Kraenzen umwunden, und sangen Hymnen zum Preis der jungfraeulichen Goettin. Auch alte halb verloschne Augen heiterten sich beim Anblick einer so zahlreichen Menge junger Schoenen auf, deren geringster Reiz die frischeste Blum der Jugend war. Urteile, schoene Danae, ob derjenige, den der bunte Schimmer eines bluehenden Blumen-Stuecks schon in eine Art von Entzueckung setzte, bei einem solchen Auftritt unempfindlich bleiben konnte? Meine Blicke irrten in einer zaertlichen Verwirrung unter diesen anmutsvollen Geschoepfen herum; bis sie sich ploetzlich auf einer einzigen sammelten, deren erster Anblick meinem Herzen keinen Wunsch uebrig liess, etwas anders zu sehen. Vielleicht wuerde mancher sie unter so vielen Schoenen kaum besonders wahrgenommen haben; denn der schoenste Wuchs, die regelmaessigsten Zuege, langes Haar, dessen wallende Locken bis zu den Knien herunterflossen, und eine Farbe, welche Lilien und Rosen, wenn sie ihre eigene Schoenheit fuehlen koennten, beschaemt haette, alle diese Reizungen waren ihr mit ihren Gespielen gemein; viele uebertrafen sie noch in einem und dem andern Stuecke der Schoenheit, und wenn ein Maler unter der ganzen Schar haette entscheiden sollen, welche die Schoenste sei, so wuerde sie vielleicht uebergangen worden sein; allein mein Herz urteilte nicht nach den Regeln der Kunst. Ich empfand, oder glaubte zu empfinden, (und dieses ist in Absicht der Wuerkung allemal eins) dass nichts liebenswuerdigers als dieses junge Maedchen sein koenne, ohne dass ich daran gedachte, sie mit den uebrigen zu vergleichen; sie loeschte alles andre aus meinen Augen aus. So (dacht ich) muesste die Unschuld aussehen, wenn sie, um sichtbar zu werden, die Gestalt einer Grazie entlehnte; so ruehrend wuerden ihre Gesichts-Zuege sein; so still-heiter wuerden ihre Augen; so holdselig ihre Wangen laecheln; so wuerden ihre Blicke, so ihr Gang, so jede ihrer Bewegungen sein. Dieser Augenblick brachte in meiner Seele eine Veraenderung hervor, welche mir, da ich in der Folge faehig wurde, ueber meinen Zustand zu denken, dem uebergang in eine neue und vollkommnere Art des Daseins gleich zu sein schien. Aber damals war ich zu stark geruehrt, zu sehr von Empfindungen verschlungen, um mir meiner selbst recht bewusst zu sein. Meine Entzueckung ging so weit, dass ich nichts mehr von dem Pomp des Festes bemerkte; und erst, nachdem alles gaenzlich aus meinen Augen verschwunden war, ward ich, wie durch einen ploetzlichen Schlag, wieder zu mir selbst gebracht. Itzt hatte ich Muehe, mich zu ueberzeugen, dass ich nicht aus einem von den Traeumen erwacht sei, worin meine Phantasie, in ueberirdische Sphaeren verzueckt, mir zuweilen aehnliche Gestalten vorgestellt hatte. Der Schmerz, eines so suessen Anblicks beraubt zu sein, konnte das vollkommene Vergnuegen nicht schwaechen, womit das Innerste meines Wesens erfuellt war. Selbigen ganzen Abend, und den groessesten Teil der Nacht, hatten alle Kraefte meiner Seele keine andere Beschaeftigung, als sich dieses geliebte Bild bis auf die kleinsten Zuege mit allen diesen namenlosen Reizen,—welche vielleicht ich allein an dem Urbilde bemerkt hatte,—und mit einer Lebhaftigkeit vorzumalen, die ihm immer neue Schoenheiten lehnte; mein Herz schmueckte es mit allem, was die Natur Anmutiges hat, mit allen Vorzuegen des Geistes, mit jeder sittlichen Schoenheit, mit allem was nach meiner Denkungs-Art das Vollkommenste und Beste war, aus—was fuer ein Gemaelde, wozu die Liebe die Farben gibt!—Und doch glaubte ich immer, zu wenig zu tun; und bearbeitete mich in mir selbst, noch etwas schoeners als das Schoenste zu finden, um die Idee, die ich mir von meiner Unbekannten machte, gaenzlich zu vollenden, und gleichsam in das Urbild selbst zu verwandeln.—Diese liebenswuerdige Person hatte mich zu eben der Zeit, da ich sie erblickte, wahrgenommen; und es war (wie sie mir in der Folge entdeckte) etwas mit den Regungen meines Herzens uebereinstimmendes in dem ihrigen vorgegangen. Ich erinnerte mich, (denn wie haette ich die kleinste Bewegung, die sie gemacht hatte, vergessen koennen?) dass unsre Blicke sich mehr als ein mal begegnet waren, und dass sie sogleich mit einer Scham-Roete, welche ihr ganzes liebliches Gesicht mit Rosen ueberzog, die Augen niedergeschlagen hatte. Ich war zu unerfahren, und in der Tat auch zu bescheiden, aus diesem Umstand etwas besonderes zu meinem Vorteil zu schliessen; aber doch erinnerte ich mich desselben mit einem so innigen Vergnuegen, als ob es mir geahnet haette, wie gluecklich mich die Folge davon machen wuerde. Ich hatte die Eitelkeit nicht, welche uns zu schmeicheln pflegt, dass wir liebenswuerdig seien; ich dachte an nichts weniger, als auf Mittel, wie ich mich lieben machen wollte. Aber die Schoenheit der Seele, die ich in ihrem Gesichte ausgedrueckt gesehen hatte; diese sanfte Heiterkeit, die aus dem natuerlichen Ernst ihrer Zuege hervorlaechelte, hauchten mir Hoffnung ein, dass ich geliebet werden wuerde.—Und welch einen Himmel von Wonne eroeffnete diese Hoffnung vor mir! Was fuer Aussichten! Welches Entzuecken!—Wenn ich mir vorstellte, dass mein ganzes Leben, dass selbst die Ewigkeiten, in deren grenzenlosen Tiefen, der Glueckliche die Dauer seiner Wonne so gerne sich verlieren laesst, in ihrem Anschauen und an ihrer Seite dahinfliessen wuerden!

So lebhafte Hoffnungen setzten voraus, dass ich sie wieder finden wuerde; und dieser Wunsch brachte die Begierde mit sich, zu wissen wer sie sei. Aber wen konnt’ ich fragen? Ich hatte keinen Freund, dem ich mich entdecken durfte; von einem jeden andern glaubte ich, dass er bei einer solchen Frage mein ganzes Geheimnis in meinen Augen lesen wuerde; und die Liebe, die ein sehr guter Ratgeber ist, hatte mich schon einsehen gemacht, wie viel daran gelegen sei, dass der Pythia nicht das Geringste zu Ohren komme, was ihr den Zustand meines Herzens haette verraten, oder sie zu einer misstrauischen Beobachtung meines Betragens veranlassen koennen. Ich verschloss also mein Verlangen in mich selbst, und erwartete mit Ungeduld, bis irgend ein meiner Liebe guenstiger Schutz-Geist mir zu dieser gewuenschten Entdeckung verhelfen wuerde. Nach einigen Tagen fuegte es sich, dass ich meiner geliebten Unbekannten in einem der Vorhoefe des Tempels begegnete. Die Furcht, von jemand beobachtet zu werden, hielt mich in eben dem Augenblick zurueck, da ich auf sie zueilen und meine Entzueckung ueber diesen unverhofften Anblick in Gebaerden, und vielleicht in Ausrufungen, ausbrechen lassen wollte. Sie blieb, indem sie mich erblickte, einige Augenblicke stehen, und sah mich an. Ich glaubte ein ploetzliches Vergnuegen in ihrem schoenen Gesicht aufgehen zu sehen; sie erroetete, schlug die Augen wieder nieder, und eilte davon. Ich durft’ es nicht wagen, ihr zu folgen; aber meine Augen folgten ihr, so lang es moeglich war; und ich sahe, dass sie zu einer Tuer einging, welche in die Wohnung der Priesterin fuehrte. Ich begab mich in den Hain, um meinen Gedanken ueber diese angenehme Erscheinung ungestoerter nachzuhaengen. Der letzte Umstand, den ich bemerkt hatte, und ihre Kleidung, brachte mich auf die Vermutung, dass sie vielleicht eine von den Aufwaerterinnen der Pythia sei, deren diese Dame eine grosse Anzahl hatte, die aber (ausser bei besondern Feierlichkeiten) selten sichtbar wurden. Diese Entdeckung beschaeftigte mich noch nach der ganzen Wichtigkeit, die sie fuer mich hatte, als ich, in der Tat zur ungelegensten Zeit von der Welt, zu der zaertlichen Priesterin gerufen wurde.—Die Begierde und die Hoffnung, meine Geliebte bei dieser Gelegenheit wieder zu sehen, machte mir anfaenglich diese Einladung sehr willkommen; aber meine Freude wurde bald von dem Gedanken vertrieben, wie schwer es mir sein wuerde, wenn meine Unbekannte zugegen waere, meine Empfindungen fuer sie den Augen einer Nebenbuhlerin zu verbergen. Die Kuenste der Verstellung waren mir zu unbekannt, und meine Gemuets-Regungen bildeten sich (auch wider meinen Willen) zu schnell und zu deutlich in meinem aeusserlichen ab, als dass ich mich bei allen meinen Bestrebungen, vorsichtig zu sein, sicher genug halten konnte. Diese Gedanken gaben mir (wie ich glaube) ein ziemlich verwirrtes Aussehen, als ich vor die Pythia gefuehrt wurde. Allein, da ich niemand, als eine kleine Sklavin von neun oder zehen Jahren, bei ihr fand, erholte ich mich bald wieder; und sie selbst schien mit ihren eigenen Bewegungen zu sehr beschaeftigt, um auf die meinige genau Acht zu geben,—oder (welches wenigstens eben so wahrscheinlich ist) sie legte die Veraenderung, die sie in meinem Gesichte wahrnehmen musste, zu Gunsten ihrer Reizungen aus, von denen sie sich dieses mal desto mehr Wuerkung versprechen konnte, je mehr sie vermutlich darauf studiert hatte, sie in dieses reizende Schatten-Licht zu setzen, welches die Einbildungs-Kraft so lebhaft zum Vorteil der Sinnen ins Spiel zu ziehen pflegt. Sie sass oder lag (denn ihre Stellung war ein Mittelding von beiden) auf einem mit Silber und Perlen reich gestickten Ruhe-Bette; ihr ganzer Putz hatte dieses Zierlich-Nachlaessige, hinter welches die Kunst sich auf eine schlaue Art versteckt, wenn sie nicht dafuer angesehen sein will, dass sie der Natur zu Huelfe komme; ihr Gewand, dessen bescheidene Farbe ihrer eigenen eben so sehr als der Anstaendigkeit ihrer Wuerde angemessen war, wallte zwar in vielen Falten um sie her; aber es war schon dafuer gesorgt, dass hier und da der schoene Contour dessen, was damit bedeckt war, deutlich genug wurde, um die Augen auf sich zu ziehen, und die Neugier luestern zu machen. Ihre Arme, die sie sehr schoen hatte, waren in weiten und halb auf geschuerzten aermeln fast ganz zu sehen; und eine Bewegung, welche sie, waehrend unsers Gespraechs, unwissender Weise gemacht haben wollte, trieb einen Busen aus seiner Verhuellung hervor, welcher reizend genug war, ihr Gesicht um zwanzig Jahre juenger zu machen. Sie bemerkte diese kleine Unregelmaessigkeit endlich; aber das Mittel, wodurch sie die Sachen wieder in Ordnung zu bringen suchte, war mit der Unbequemlichkeit verbunden, dass dadurch ein Fuss bis zur Haelfte sichtbar wurde, dessen die schoenste Spartanerin sich haette ruehmen duerfen. Die tiefe Gleichgueltigkeit, worin mich alle diese Reizungen liessen, machte ohne Zweifel, dass ich Beobachtungen machen konnte, wozu ein geruehrter Zuschauer die Freiheit nicht gehabt haette. Indes gab mir doch eine Art von Scham, die ich anstatt der guten Pythia auf meinen Wangen gluehen fuehlte, ein Ansehen von Verwirrung, womit die Dame, welche in zweifelhaften Faellen alle mal zu Gunsten ihrer Eigenliebe urteilte, ziemlich wohl zufrieden schien. Sie schrieb es vermutlich einer schuechternen Unentschlossenheit oder einem Streit zwischen Ehrfurcht und Liebe bei, dass ich (ungeachtet des starken Eindrucks, den sie auf mich machte) ihr keine Gelegenheit gab, die Delikatesse ihrer Tugend sehen zu lassen. Ich hatte Aufmunterungen noetig, zu welchen man bei einem geuebtern Liebhaber sich nicht herablassen wuerde. Die Geschicklichkeit, die man mir in der Kunst, die Dichter zu lesen, beilegte, diente ihr zum Vorwand, mir einen Zeit-Vertrieb vorzuschlagen, von dem sie sich einige Befoederung dieser Absicht versprechen konnte. Sie versicherte mich, dass Homer ihr Lieblings-Autor sei, und bat mich, ihr das Vergnuegen zu machen, sie eine Probe meines gepriesenen Talents hoeren zu lassen. Sie nahm einen Homer, der neben ihr lag, und stellte sich, nachdem sie eine Weile gesucht hatte, als ob es ihr gleichgueltig sei, welcher Gesang es waere; sie gab mir den ersten den besten in die Haende; aber zu gutem Gluecke war es gerade derjenige, worin Juno, mit dem Guertel der Venus geschmueckt, den Vater der Goetter in eine so lebhafte Erinnerung der Jugend ihrer ehelichen Liebe setzt.—Von dem dichterischen Feuer, welches in diesem Gemaelde gluehet, und dem suessen Wohlklang der Homerischen Verse entzueckt, beobachtete sie nicht, in was fuer eine verfuehrische Unordnung ein Teil ihres Putzes durch eine Bewegung der Bewunderung, welche sie machte, gekommen war. Sie nahm von dieser Stelle Anlass, die unumschraenkte Gewalt des Liebes-Gottes zum Gegenstande der Unterredung zu machen. Sie schien der Meinung derjenigen guenstig zu sein, welche behaupten, dass der Gedanke, einer so maechtigen Gottheit widerstehen zu wollen, nur in einer vermessenen und ruchlosen Seele geboren werden koenne. Ich pflichtete ihr bei, behauptete aber, dass die meisten in den Begriffen, welche sie sich von diesem Gotte machten, der grossen Pflicht, von der Gottheit nur das Wuerdigste und Vollkommenste zu denken, sehr zu nahe traeten; und dass die Dichter durch die allzusinnliche Ausbildung ihrer allegorischen Fabeln in diesem Stuecke sich keines geringen Vergehens schuldig gemacht haetten. Unvermerkt schwatzte ich mich in einen Enthusiasmus hinein, in welchem ich, nach den Grundsaetzen meiner geheimnisreichen Philosophie, von der intellektualischen Liebe, von der Liebe welche der Weg zum Anschauen des wesentlichen Schoenen ist, von der Liebe welche die geistigen Fluegel der Seele entwickelt, sie mit jeder Tugend und Vollkommenheit schwellt, und zuletzt durch die Vereinigung mit dem Urbild und Urquell des Guten in einen Abgrund von Licht, Ruhe und unveraenderlicher Wonne hineinzieht, worin sie gaenzlich verschlungen und zu gleicher Zeit vernichtigt und vergoettert wird—so erhabne, mir selbst meiner Einbildung nach sehr deutliche, der schoenen Priesterin aber so unverstaendliche Dinge sagte, dass sie in eben der Proportion, nach welcher sich meine Einbildungs-Kraft dabei erwaermte, nach und nach davon eingeschlaefert wurde. In der Tat konnte im Prospekt eines so schoenen Busens, als ich vor mir sahe, nichts seltsamere sein, als eine Lob-Rede auf die intellektualische Liebe; auch gab die betrogne Pythia nach einer solchen Probe alle Hoffnung auf, mich, diesen Abend wenigstens, zu einer natuerlichen Art zu denken und zu lieben herumzustimmen. Sie entliess mich alsobald darauf, nachdem sie mir, wiewohl auf eine ziemlich raetselhafte Art, zu vernehmen gegeben hatte, dass sie besondere Ursachen habe, sich meiner mehr anzunehmen, als irgend eines andern Kostgaengers des Apollo. Ich verstund aus dem, was sie mir davon sagte, so viel, dass sie eine nahe Anverwandtin meines mir selbst noch unbekannten Vaters sei; dass es ihr vielleicht bald erlaubt sein werde, mir das Geheimnis meiner Geburt zu entdecken; und dass ich es allein diesem naehern Verhaeltnis zu zuschreiben habe, wenn sie mich durch eine Freundschaft unterscheide, welche mich, ohne diesen Umstand, vielleicht haette befremden koennen. Diese Eroeffnung, an deren Wahrheit mich ihre Miene nicht zweifeln liess, hatte die gedoppelte Wuerkung—mich zu bereden, dass ich mich in meinen Gedanken von ihren Gesinnungen betrogen haben koenne—und sie auf einmal zu einem interessanten Gegenstande fuer mein Herz zu machen. In der Tat fing ich, von dem Augenblick, da ich hoerte, dass sie mit meinem Vater befreundet sei, an, sie mit ganz andern Augen anzusehen; und vielleicht wuerde sie von den Dispositionen, in welche ich dadurch gesetzt wurde, in kurzer Zeit mehr Vorteil haben ziehen koennen, als von allen den Kunstgriffen, womit sie meine Sinnen hatte ueberraschen wollen. Aber die gute Dame wusste entweder nicht, wie viel man bei gewissen Leuten gewonnen, wenn man Mittel findet, ihr Herz auf seine Seite zu ziehen; oder sie war ueber mein seltsames Betragen erbittert, und glaubte, ihre verachteten Reizungen nicht besser raechen zu koennen, als wenn sie mich in eben dem Augenblick von sich entfernte, da sie in meinen Augen las, dass ich gerne laenger geblieben waere. Alles Bitten, dass sie ihre Guetigkeit durch eine deutlichere Entdeckung des Geheimnisses meiner Geburt vollkommen machen moechte, war umsonst; sie schickte mich fort, und hatte Grausamkeit genug, eine geraume Zeit vorbei gehen zu lassen, eh sie mich wieder vor sich kommen liess. Zu einer andern Zeit wuerde das Verlangen, diejenigen zu kennen, denen ich das Leben zu danken haette, mir diesen Aufschub zu einer harten Strafe gemacht haben; aber damals brauchte es nur wenige Minuten, wieder allein zu sein, und einen Gedanken an meine geliebte Unbekannte, um die Priesterin mit allen ihren Reizen, und mit allem was sie mir gesagt und nicht gesagt hatte, aus meinem Gemuete wieder auszuloeschen. Es war mir unendlich mal angelegener zu wissen, wer diese Unbekannte sei, und ob sie wuerklich (wie ich mir schmeichelte) fuer mich empfinde, was ich fuer sie empfand, als in Absicht meiner selbst aus einer Unwissenheit gezogen zu werden, gegen welche die Gewohnheit mich fast ganz gleichgueltig gemacht hatte: So lange ich das nicht wusste, wuerde ich die Entdeckung, der Erbe eines Koenigs zu sein, mit Kaltsinn angesehen haben. Der Blick, den sie diesen Abend auf mich geheftet hatte, schien mir etwas zu versprechen, das fuer mein Herz unendlich mehr Reiz hatte, als alle Vorteile der glaenzendsten Geburt. Mein ganzes Wesen schien von diesem Blicke, wie von einem ueberirdischen Lichte, durchstrahlt und verklaert—ich unterschied zwar nicht deutlich, was in mir vorging—aber so oft ich sie mir wieder in dieser Stellung, mit diesem Blicke, mit diesem Ausdruck in ihrem lieblichen Gesichte vorstellte, (und dieses geschah allemal so lebhaft, als ob ich sie wuerklich mit Augen saehe) so schien mir mein Herz vor Liebe und Vergnuegen in Empfindungen zu zerfliessen, fuer deren durchdringende Suessigkeit keine Worte erfunden sind. "—Hier wurde Agathon (dessen Einbildungs-Kraft, von den Erinnerungen seiner ersten Liebe erhitzt, einen huebschen Schwung, wie man sieht, zu nehmen anfing,) durch eine ziemlich merkliche Veraenderung in dem Gesichte seiner schoenen Zuhoererin, mitten in dem Lauf seiner unzeitigen Schwaermerei aufgehalten, und aus seinem achtzehnten Jahr, in welches er in dieser kleinen Ekstase zurueckversetzt worden war, auf einmal wieder nach Smyrna, zu sich selbst und der schoenen Danae gegenueber, gebracht.