Aufzeichnungen Des Malte Laurids Brigge

Author: Rainer Maria Rilke

Aufzeichnungen Des Malte Laurids Brigge

R, Rainer Maria, 1875-1926

Ich sehe seit einer Weile ein, dass ich Menschen, die in der Entwicklung ihres Wesens zart und suchend sind, streng davor warnen muss, in den Aufzeichnungen Analogien fuer das zu finden, was sie durchmachen; wer der Verlockung nachgibt und diesem Buch parallel geht, muss notwendig abwaerts kommen; erfreulich wird es wesentlich nur denen werden, die es gewissermassen gegen den Strom zu lesen unternehmen.

Diese Aufzeichnungen indem sie ein Mass an sehr angewachsene Leiden legen, deuten an, bis zu welcher Hoehe die Seligkeit steigen koennte, die mit der Fuelle dieser selben Kraefte zu leisten waere.

R.M.R (Aus den Briefen vom Februar 1912) II. September, rue Toallier.

So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich wuerde eher meinen, es stuerbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitaeler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu ueberzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d’Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden—man kann das. Weiter, rue Saint-Jacques, ein grosses Gebaeude mit einer Kuppel. Der Plan gab an Val-de-grace, Hospital militaire. Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber es schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden liess, nach Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst. Alle Staedte riechen im Sommer. Dann habe ich ein eigentuemlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu finden, aber ueber der Tuer stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit. Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war nicht teuer.

Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick, gruenlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. Er heilte offenbar ab und tat nicht weh. Das Kind schlief, der Mund war offen, atmete Jodoform, pommes frites, Angst. Das war nun mal so. Die Hauptsache war, dass man lebte. Das war die Hauptsache.

Dass ich es nicht lassen kann, bei offenen Fenster zu schlafen. Elektrische Bahnen rasen laeutend durch meine Stube. Automobile gehen ueber mich hin. Eine Tuer faellt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich hoere ihre grossen Scherben lachen, die kleinen Splitter kichern. Dann ploetzlich dumpfer, eingeschlossener Laerm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhoerlich. Ist da, ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Strasse. Ein Maedchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die Elektrische rennt ganz erregt heran, darueber fort, fort ueber alles. Jemand ruft. Leute laufen, ueberholen sich. Ein Hund bellt. Was fuer eine Erleichterung: ein Hund. Gegen Morgen kraeht sogar ein Hahn, und das ist Wohltun ohne Grenzen. Dann schlafe ich ploetzlich ein.

Das sind die Geraeusche. Aber es giebt hier etwas, was furchtbarer ist: die Stille. Ich glaube, bei grossen Braenden tritt manchmal so ein Augenblick aeusserster Spannung ein, die Wasserstrahlen fallen ab, die Feuerwehrleute klettern nicht mehr, niemand ruehrt sich. Lautlos schiebt sich ein schwarzes Gesimse vor oben, und eine hohe Mauer, hinter welcher das Feuer auffaehrt, neigt sich, lautlos. Alles steht und wartet mit hochgeschobenen Schultern, die Gesichter ueber die Augen zusammengezogen, auf den schrecklichen Schlag. So ist hier die Stille.

Ich lerne sehen. Ich weiss nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiss nicht, was dort geschieht.

Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen—ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.

Dass es mir zum Beispiel niemals zum Bewusstsein gekommen ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natuerlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Aber es kommt auch vor, dass ihre Hunde damit ausgehen. Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht.

Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie haetten fuer immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat natuerlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Loecher, ist an vielen Stellen duenn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.

Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen, vornueber in ihre Haende. Es war an der Ecke rue Notre-Dame-des-Champs. Ich fing an, leise zu gehen, sowie ich sie gesehen hatte. Wenn arme Leute nachdenken, soll man sie nicht stoeren. Vielleicht faellt es ihnen doch ein. Die Strasse war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir den Schritt unter den Fuessen weg und klappte mit ihm herum, drueben und da, wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so dass das Gesicht in den zwei Haenden blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Haenden zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fuerchtete mich doch noch viel mehr vor dem blossen wunden Kopf ohne Gesicht.

Ich fuerchte mich. Gegen die Furcht muss man etwas tun, wenn man sie einmal hat. Es waere sehr haesslich, hier krank zu werden, und fiele es jemandem ein, mich ins Hoetel-Dieu zu schaffen, so wuerde ich dort gewiss sterben. Dieses Hotel ist ein angenehmes Hoetel, ungeheuer besucht. Man kann kaum die Fassade der Kathedrale von Paris betrachten ohne Gefahr, von einem der vielen Wagen, die so schnell wie moeglich ueber den freien Plan dort hinein muessen, ueberfahren zu werden. Das sind kleine Omnibusse, die fortwaehrend laeuten, und selbst der Herzog von Sagan muesste sein Gespann halten lassen, wenn so ein kleiner Sterbender es sich in den Kopf gesetzt hat, geradenwegs in Gottes Hotel zu wollen. Sterbende sind starrkoepfig, und ganz Paris stockt, wenn Madame Legrand, brocanteuse aus der rue des Martyrs, nach einem gewissen Platz der Cité gefahren kommt. Es ist zu bemerken, dass diese verteufelten kleinen Wagen ungemein anregende Milchglasfenster haben, hinter denen man sich die herrlichsten Agonien vor stellen kann; dafuer genuegt die Phantasie einer Concierge. Hat man noch mehr Einbildungskraft und schlaegt sie nach anderen Richtungen hin, so sind die Vermutungen geradezu unbegrenzt. Aber ich habe auch offene Droschken ankommen sehen, Zeitdroschken mit aufgeklapptem Verdeck, die nach der ueblichen Taxe fuhren: Zwei Francs fuer die Sterbestunde.

Dieses ausgezeichnete Hotel ist sehr alt, schon zu Koenig Chlodwigs Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natuerlich fabrikmaessig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgefuehrt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch etwas fuer einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich doch leisten koennten, ausfuehrlich zu sterben, fangen an, nachlaessig und gleichgueltig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben. Gott; das ist alles da. Man kommt, man findet ein Leben, fertig, man hat es nur anzuziehen. Man will gehen oder man ist dazu gezwungen: nun, keine Anstrengung: Voilae votre mort, monsieur. Man stirbt, wie es gerade kommt; man stirbt den Tod, der zu der Krankheit gehoert, die man hat (denn seit man alle Krankheiten kennt, weiss man auch, dass die verschiedenen letalen Abschluesse zu den Krankheiten gehoeren und nicht zu den Menschen; und der Kranke hat sozusagen nichts zu tun).

In den Sanatorien, wo ja so gern und mit so viel Dankbarkeit gegen Aerzte und Schwestern gestorben wird, stirbt man einen von den an der Anstalt angestellten Toden; das wird gerne gesehen. Wenn man aber zu Hause stirbt, ist es natuerlich, jenen hoeflichen Tod der guten Kreise zu waehlen, mit dem gleichsam das Begraebnis erster Klasse schon anfaengt und die ganze Folge seiner wunderschoenen Gebraeuche. Da stehen dann die Armen vor so einem Haus und sehen sich satt. Ihr Tod ist natuerlich banal, ohne alle Umstaende. Sie sind froh, wenn sie einen finden, der ungefaehr passt. Zu weit darf er sein: man waechst immer noch ein bisschen. Nur wenn er nicht zugeht ueber der Brust oder wuergt, dann hat es seine Not.

Wenn ich nach Hause denke, wo nun niemand mehr ist, dann glaube ich, das muss frueher anders gewesen sein. Frueher wusste man (oder vielleicht man ahnte es), dass man den Tod in sich hatte wie die Frucht den Kern. Die Kinder hatten einen kleinen in sich und die Erwachsenen einen grossen. Die Frauen hatten ihn im Schooss und die Maenner in der Brust. Den hatte man, und das gab einem eine eigentuemliche Wuerde und einen stillen Stolz. Meinem Grossvater noch, dem alten Kammerherrn Brigge, sah man es an, dass er einen Tod in sich trug. Und was war das fuer einer: zwei Monate lang und so laut, dass man ihn hoerte bis aufs Vorwerk hinaus.

Das lange, alte Herrenhaus war zu klein fuer diesen Tod, es schien, als muesste man Fluegel anbauen, denn der Koerper des Kammerherrn wurde immer groesser, und er wollte fortwaehrend aus einem Raum in den anderen getragen sein und geriet in fuerchterlichen Zorn, wenn der Tag noch nicht zu Ende war und es gab kein Zimmer mehr, in dem er nicht schon gelegen hatte. Dann ging es mit dem ganzen Zuge von Dienern, Jungfern und Hunden, die er immer um sich hatte, die Treppe hinauf und, unter Vorantritt des Haushofmeisters, in seiner hochseligen Mutter Sterbezimmer, das ganz in dem Zustande, in dem sie es vor dreiundzwanzig Jahren verlassen hatte, erhalten wor den war und das sonst nie jemand betreten durfte. Jetzt brach die ganze Meute dort ein. Die Vorhaenge wurden zurueckgezogen, und das robuste Licht eines Sommernachmittags untersuchte alle die scheuen, erschrockenen Gegenstaende und drehte sich ungeschickt um in den aufgerissenen Spiegeln. Und die Leute machten es ebenso. Es gab da Zofen, die vor Neugierde nicht wussten, wo ihre Haende sich gerade aufhielten, junge Bediente, die alles anglotzten, und aeltere Dienstleute, die herumgingen und sich zu erinnern suchten, was man ihnen von diesem verschlossenen Zimmer, in dem sie sich nun gluecklich befanden, alles erzaehlt hatte.

Vor allem aber schien den Hunden der Aufenthalt in einem Raum, wo alle Dinge rochen, ungemein anregend. Die grossen, schmalen russischen Windhunde liefen beschaeftigt hinter den Lehnstuehlen hin und her, durchquerten in langem Tanzschritt mit wiegender Bewegung das Ge mach, hoben sich wie Wappenhunde auf und schauten, die schmalen Pfoten auf das weissgoldene Fensterbrett gestuetzt, mit spitzem, gespanntem Gesicht und zurueckgezogener Stirn nach rechts und nach links in den Hof. Kleine, handschuhgelbe Dachshunde sassen, mit Gesichtern, als waere alles ganz in der Ordnung, in dem breiten, seidenen Polstersessel am Fenster, und ein stichelhaariger, muerrisch aussehender Huehnerhund rieb seinen Ruecken an der Kante eines goldbeinigen Tisches, auf dessen gemalter Platte die Sèvrestassen zitterten.

Ja, es war fuer diese geistesabwesenden, verschlafenen Dinge eine schreckliche Zeit. Es passierte, dass aus Buechern, die irgendeine hastige Hand ungeschickt geoeffnet hatte, Rosenblaetter heraustaumelten, die zertreten wurden; kleine, schwaechliche Gegenstaende wurden ergriffen und, nachdem sie sofort zerbrochen waren, schnell wieder hingelegt, manches Verbogene auch unter Vorhaenge gesteckt oder gar hinter das goldene Netz des Kamingitters geworfen. Und von Zeit zu Zeit fiel etwas, fiel verhuellt auf Teppich, fiel hell auf das harte Parkett, aber es zerschlug da und dort, zersprang scharf oder brach fast lautlos auf, denn diese Dinge, ver woehnt wie sie waren, vertrugen keinerlei Fall.

Und waere es jemandem eingefallen zu fragen, was die Ursache von alledem sei, was ueber dieses aengstlich gehuetete Zimmer alles Untergangs Fuelle herabgerufen habe,—so haette es nur eine Antwort gegeben: der Tod. Der Tod des Kammerherrn Christoph Detlev Brigge auf Ulsgaard. Denn dieser lag, gross ueber seine dunkelblaue Uniform hinausquellend, mitten auf dem Fussboden und ruehrte sich nicht. In seinem grossen, fremden, niemandem mehr bekannten Gesicht waren die Augen zugefallen: er sah nicht, was geschah. Man hatte zuerst versucht, ihn auf das Bett zu legen, aber er hatte sich dagegen gewehrt, denn er hasste Betten seit jenen ersten Naechten, in denen seine Krankheit gewachsen war. Auch hatte sich das Bett da oben als zu klein erwiesen, und da war nichts anderes uebrig geblieben, als ihn so auf den Teppich zu legen; denn hinunter hatte er nicht gewollt. Da lag er nun, und man konnte denken, dass er gestorben sei. Die Hunde hatten sich, da es langsam zu daemmern begann, einer nach dem anderen durch die Tuerspalte gezogen, nur der Harthaarige mit dem muerrischen Gesicht sass bei seinem Herrn, und eine von seinen breiten, zottigen Vorderpfoten lag auf Christoph Detlevs grosser, grauer Hand. Auch von der Dienerschaft standen jetzt die meisten draussen in dem weissen Gang, der heller war als das Zimmer; die aber, welche noch drinnen geblieben waren, sahen manchmal heimlich nach dem grossen, dunkelnden Haufen in der Mitte, und sie wuenschten, dass das nichts mehr waere als ein grosser Anzug ueber einem verdorbenen Ding.

Aber es war noch etwas. Es war eine Stimme, die Stimme, die noch vor sieben Wochen niemand gekannt hatte: denn es war nicht die Stimme des Kammerherrn. Nicht Christoph Detlev war es, welchem diese Stimme gehoerte, es war Christoph Detlevs Tod.

Christoph Detlevs Tod lebte nun schon seit vielen, vie len Tagen auf Ulsgaard und redete mit allen und verlangte. Verlangte, getragen zu werden, verlangte das blaue Zimmer, verlangte den kleinen Salon, verlangte den Saal. Verlangte die Hunde, verlangte, dass man lache, spreche, spiele und still sei und alles zugleich. Verlangte Freunde zu sehen, Frauen und Verstorbene, und verlangte selber zu sterben: verlangte. Verlangte und schrie.

Denn, wenn die Nacht gekommen war und die von den uebermueden Dienstleuten, welche nicht Wache hatten, ein zuschlafen versuchten, dann schrie Christoph Detlevs Tod, schrie und stoehnte, bruellte so lange und anhaltend, dass die Hunde, die zuerst mitheulten, verstummten und nicht wag ten sich hinzulegen und, auf ihren langen, schlanken, zit ternden Beinen stehend, sich fuerchteten. Und wenn sie es durch die weite, silberne, daenische Sommernacht im Dorfe hoerten, dass er bruellte, so standen sie auf wie beim Gewitter, kleideten sich an und blieben ohne ein Wort um die Lampe sitzen, bis es vorueber war. Und die Frauen, welche nahe vor dem Niederkommen waren, wurden in die entlegensten Stuben gelegt und in die dichtesten Bettverschlaege; aber sie hoerten es, sie hoerten es, als ob es in ihrem eigenen Leibe waere, und sie flehten, auch aufstehen zu duerfen, und kamen, weiss und weit, und setzten sich zu den andern mit ihren verwischten Gesichtern. Und die Kuehe, welche kalbten in dieser Zeit, waren huelflos und verschlossen, und einer riss man die tote Frucht mit allen Eingeweiden aus dem Leibe, als sie gar nicht kommen wollte. Und alle taten ihr Tagwerk schlecht und vergassen das Heu hereinzubringen, weil sie sich bei Tage aengstigten vor der Nacht und weil sie vom vielen Wachsein und vom erschreckten Aufstehen so er mattet waren, dass sie sich auf nichts besinnen konnten. Und wenn sie am Sonntag in die weisse, friedliche Kirche gingen, so beteten sie, es moege keinen Herrn mehr auf Ulsgaard geben: denn dieser war ein schrecklicher Herr. Und was sie alle dachten und beteten, das sagte der Pfarrer laut von der Kanzel herab, denn auch er hatte keine Naechte mehr und konnte Gott nicht begreifen. Und die Glocke sagte es, die einen furchtbaren Rivalen bekommen hatte, der die ganze Nacht droehnte und gegen den sie, selbst wenn sie aus allem Metall zu laeuten begann, nichts vermochte. Ja, alle sagten es, und es gab einen unter den jungen Leuten, der getraeumt hatte, er waere ins Schloss gegangen und haette den gnaedigen Herrn erschlagen mit seiner Mistforke, und so aufgebracht war man, so zu Ende, so ueberreizt, dass alle zuhoerten, als er seinen Traum erzaehlte, und ihn, ganz ohne es zu wissen, daraufhin ansahen, ob er solcher Tat wohl gewachsen sei. So fuehlte und sprach man in der ganzen Gegend, in der man den Kammerherrn noch vor einigen Wochen geliebt und bedauert hatte. Aber obwohl man so sprach, veraenderte sich nichts. Christoph Detlevs Tod, der auf Ulsgaard wohnte, liess sich nicht draengen. Er war fuer zehn Wochen gekommen, und die blieb er. Und waehrend dieser Zeit war er mehr Herr, als Christoph Detlev Brigge es je gewesen war, er war wie ein Koenig, den man den Schrecklichen nennt, spaeter und immer. Das war nicht der Tod irgendeines Wassersuechtigen, das war der boese, fuerstliche Tod, den der Kammerherr sein ganzes Leben lang in sich getragen und aus sich genaehrt hatte. Alles Uebermass an Stolz, Willen und Herrenkraft, das er selbst in seinen ruhigen Tagen nicht hatte verbrauchen koennen, war in seinen Tod eingegangen, in den Tod, der nun auf Ulsgaard sass und vergeudete.

Wie haette der Kammerherr Brigge den angesehen, der von ihm verlangt haette, er solle einen anderen Tod sterben als diesen. Er starb seinen schweren Tod.

Und wenn ich an die andern denke, die ich gesehen oder von denen ich gehoert habe: es ist immer dasselbe. Sie alle haben einen eigenen Tod gehabt. Diese Maenner, die ihn in der Ruestung trugen, innen, wie einen Gefangenen, diese Frauen, die sehr alt und klein wurden und dann auf einem ungeheueren Bett, wie auf einer Schaubuehne, vor der ganzen Familie, dem Gesinde und den Hunden diskret und herrschaftlich hinuebergingen. Ja die Kinder, sogar die ganz kleinen, hatten nicht irgendeinen Kindertod, sie nahmen sich zusammen und starben das, was sie schon waren, und das, was sie geworden waeren.

Und was gab das den Frauen fuer eine wehmuetige Schoenheit, wenn sie schwanger waren und standen, und in ihrem grossen Leib, auf welchem die schmalen Haende unwillkuerlich liegen blieben, waren zwei Fruechte: ein Kind und ein Tod. Kam das dichte, beinah nahrhafte Laecheln in ihrem ganz ausgeraeumten Gesicht nicht davon her, dass sie manchmal meinten, es wuechsen beide?

Ich habe etwas getan gegen die Furcht. Ich habe die ganze Nacht gesessen und geschrieben, und jetzt bin ich so gut muede wie nach einem weiten Weg ueber die Felder von Ulsgaard. Es ist doch schwer zu denken, dass alles das nicht mehr ist, dass fremde Leute wohnen in dem alten langen Herrenhaus. Es kann sein, dass in dem weissen Zimmer oben im Giebel jetzt die Maegde schlafen, ihren schweren, feuchten Schlaf schlafen von Abend bis Morgen. Und man hat niemand und nichts und faehrt in der Welt herum mit einem Koffer und mit einer Buecherkiste und eigentlich ohne Neugierde. Was fuer ein Leben ist das eigentlich: ohne Haus, ohne ererbte Dinge, ohne Hunde. Haette man doch wenigstens seine Erinnerungen. Aber wer hat die? Waere die Kindheit da, sie ist wie vergraben. Vielleicht muss man alt sein, um an das alles heranreichen zu koennen. Ich denke es mir gut, alt zu sein.

Heute war ein schoener, herbstlicher Morgen. Ich ging durch die Tuilerien. Alles, was gegen Osten lag, vor der Sonne, blendete. Das Angeschienene war vom Nebel verhangen wie von einem lichtgrauen Vorhang. Grau im Grauen sonnten sich die Statuen in den noch nicht enthuellten Gaerten. Einzelne Blumen in den langen Beeten standen auf und sagten: Rot, mit einer erschrockenen Stimme. Dann kam ein sehr grosser, schlanker Mann um die Ecke, von den Champs-Elysees her; er trug eine Kruecke, aber nicht mehr unter die Schulter geschoben,—er hielt sie vor sich her, leicht, und von Zeit zu Zeit stellte er sie fest und laut auf wie einen Heroldstab. Er konnte ein Laecheln der Freude nicht unterdruecken und laechelte, an allem vorbei, der Sonne, den Baeumen zu. Sein Schritt war schuechtern wie der eines Kindes, aber ungewoehnlich leicht, voll von Erinnerung an frueheres Gehen.

Was so ein kleiner Mond alles vermag. Da sind Tage, wo alles um einen licht ist, leicht, kaum angegeben in der hellen Luft und doch deutlich. Das Naechste schon hat Toene der Ferne, ist weggenommen und nur gezeigt, nicht hergereicht; und was Beziehung zur Weite hat: der Fluss, die Bruecken, die langen Strassen und die Plaetze, die sich verschwenden, das hat diese Weite eingenommen hinter sich, ist auf ihr gemalt wie auf Seide. Es ist nicht zu sagen, was dann ein lichtgruener Wagen sein kann auf dem Pont-neuf oder irgendein Rot, das nicht zu halten ist, oder auch nur ein Plakat an der Feuermauer einer perlgrauen Haeusergruppe. Alles ist vereinfacht, auf einige richtige, helle plans gebracht wie das Gesicht in einem Manetschen Bildnis. Und nichts ist gering und ueberfluessig. Die Bouquinisten am Quai tun ihre Kaesten auf, und das frische oder vernutzte Gelb der Buecher, das violette Braun der Baende, das groessere Gruen einer Mappe: alles stimmt, gilt, nimmt teil und bildet eine Vollzaehligkeit, in der nichts fehlt.

Unten ist folgende Zusammenstellung: ein kleiner Handwagen, von einer Frau geschoben; vorn darauf ein Leierkasten, der Laenge nach. Dahinter quer ein Kinderkorb, in dem ein ganz Kleines auf festen Beinen steht, vergnuegt in seiner Haube, und sich nicht mag setzen lassen. Von Zeit zu Zeit dreht die Frau am Orgelkasten. Das ganz Kleine stellt sich dann sofort stampfend in seinem Korbe wieder auf, und ein kleines Maedchen in einem gruenen Sonntagskleid tanzt und schlaegt Tamburin zu den Fenstern hinauf.

Ich glaube, ich muesste anfangen, etwas zu arbeiten, jetzt, da ich sehen lerne. Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen. Wiederholen wir: ich habe eine Studie ueber Carpaccio geschrieben, die schlecht ist, ein Drama, das ’Ehe’ heisst und etwas Falsches mit zweideutigen Mitteln beweisen will, und Verse. Ach, aber mit Versen ist so wenig getan, wenn man sie frueh schreibt. Man sollte warten damit und Sinn und Suessigkeit sammeln ein ganzes Leben lang und ein langes womoeglich, und dann, ganz zum Schluss, vielleicht koennte man dann zehn Zeilen schreiben, die gut sind. Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefuehle (die hat man frueh genug),—es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muss man viele Staedte sehen, Menschen und Dinge, man muss die Tiere kennen, man muss fuehlen, wie die Voegel fliegen, und die Gebaerde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen. Man muss zurueckdenken koennen an Wege in unbekannten Gegenden, an unerwartete Begegnungen und an Abschiede, die man lange kommen sah,—an Kindheitstage, die noch unaufgeklaert sind, an die Eltern, die man kraenken musste, wenn sie einem eine Freude brachten und man begriff sie nicht (es war eine Freude fuer einen anderen—), an Kinderkrankheiten, die so seltsam anheben mit so vielen tiefen und schweren Verwandlungen, an Tage in stillen, verhaltenen Stuben und an Morgen am Meer, an das Meer ueberhaupt, an Meere, an Reisenaechte, die hoch dahinrauschten und mit allen Sternen flogen,—und es ist noch nicht genug, wenn man an alles das denken darf. Man muss Erinnerungen haben an viele Liebesnaechte, von denen keine der andern glich, an Schreie von Kreissenden und an leichte, weisse, schlafende Woechnerinnen, die sich schliessen. Aber auch bei Sterbenden muss man gewesen sein, muss bei Toten gesessen haben in der Stube mit dem offenen Fenster und den stossweisen Geraeuschen. Und es genuegt auch noch nicht, dass man Erinnerungen hat. Man muss sie vergessen koen nen, wenn es viele sind, und man muss die grosse Geduld haben, zu warten, dass sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebaerde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, dass in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.

Alle meine Verse aber sind anders entstanden, also sind es keine.—Und als ich mein Drama schrieb, wie irrte ich da. War ich ein Nachahmer und Narr, dass ich eines Dritten bedurfte, um von dem Schicksal zweier Menschen zu erzaehlen, die es einander schwer machten? Wie leicht ich in die Falle fiel. Und ich haette doch wissen muessen, dass dieser Dritte, der durch alle Leben und Literaturen geht, dieses Gespenst eines Dritten, der nie gewesen ist, keine Bedeutung hat, dass man ihn leugnen muss. Er gehoert zu den Vorwaenden der Natur, welche immer bemueht ist, von ihren tiefsten Geheimnissen die Aufmerksamkeit der Menschen abzulenken. Er ist der Wandschirm, hinter dem ein Drama sich abspielt. Er ist der Laerm am Eingang zu der stimmlosen Stille eines wirklichen Konfliktes. Man moechte meinen, es waere allen bisher zu schwer gewesen, von den Zweien zu reden, um die es sich handelt; der Dritte, gerade weil er so unwirklich ist, ist das Leichte der Aufgabe, ihn konnten sie alle. Gleich am Anfang ihrer Dramen merkt man die Ungeduld, zu dem Dritten zu kommen, sie koennten ihn kaum erwarten. Sowie er da ist, ist alles gut. Aber wie langweilig, wenn er sich verspaetet, es kann rein nichts geschehen ohne ihn, alles steht, stockt, wartet. Ja und wie, wenn es bei diesem Stauen und Anstehn bliebe? Wie, Herr Dramatiker, und du, Publikum, welches das Leben kennt, wie, wenn er verschollen waere, dieser beliebte Lebemann oder dieser anmassende junge Mensch, der in allen Ehen schliesst wie ein Nachschluessel? Wie, wenn ihn, zum Beispiel, der Teufel geholt haette? Nehmen wirs an. Man merkt auf einmal die kuenstliche Leere der Theater, sie werden vermauert wie gefaehrliche Loecher, nur die Motten aus den Logenraendern taumeln durch den haltlosen Hohlraum. Die Dramatiker geniessen nicht mehr ihre Villenviertel. Alle oeffentlichen Aufpassereien suchen fuer sie in entlegenen Weltteilen nach dem Unersetzlichen, der die Handlung selbst war.

Und dabei leben sie unter den Menschen, nicht diese ’Dritten’, aber die Zwei, von denen so unglaublich viel zu sagen waere, von denen noch nie etwas gesagt worden ist, obwohl sie leiden und handeln und sich nicht zu helfen wissen.

Es ist laecherlich. Ich sitze hier in meiner kleinen Stube, ich, Brigge, der achtundzwanzig Jahre alt geworden ist und von dem niemand weiss. Ich sitze hier und bin nichts. Und dennoch, dieses Nichts faengt an zu denken und denkt, fuenf Treppen hoch, an einem grauen Pariser Nachmittag diesen Gedanken:

Ist es moeglich, denkt es, dass man noch nichts Wirkliches und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat? Ist es moeglich, dass man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und dass man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in der man sein Butterbrot isst und einen Apfel?

Ja, es ist moeglich.

Ist es moeglich, dass man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberflaeche des Lebens geblieben ist? Ist es moeglich, dass man sogar diese Oberflaeche, die doch immerhin etwas gewesen waere, mit einem unglaublich langweiligen Stoff ueberzogen hat, so dass sie aussieht, wie die Salonmoebel in den Sommerferien? Ja, es ist moeglich.

Ist es moeglich, dass die ganze Weltgeschichte missverstanden worden ist? Ist es moeglich, dass die Vergangenheit falsch ist, weil man immer von ihren Massen gesprochen hat, gerade, als ob man von einem Zusammenlauf vieler Menschen erzaehlte, statt von dem Einen zu sagen, um den sie herumstanden, weil er fremd war und starb?

Ja, es ist moeglich.

Ist es moeglich, dass man glaubte, nachholen zu muessen, was sich ereignet hat, ehe man geboren war? Ist es moeglich, dass man jeden einzelnen erinnern muesste, er sei ja aus allen Frueheren entstanden, wuesste es also und sollte sich nichts einreden lassen von den anderen, die anderes wuessten? Ja, es ist moeglich.

Ist es moeglich, dass alle diese Menschen eine Vergangenheit, die nie gewesen ist, ganz genau kennen? Ist es moeglich, dass alle Wirklichkeiten nichts sind fuer sie; dass ihr Leben ablaeuft, mit nichts verknuepft, wie eine Uhr in einem leeren Zimmer—?

Ja, es ist moeglich.

Ist es moeglich, dass man von den Maedchen nichts weiss, die doch leben? Ist es moeglich, dass man ’die Frauen’ sagt, ’die Kinder’, ’die Knaben’ und nicht ahnt (bei aller Bildung nicht ahnt), dass diese Worte laengst keine Mehrzahl mehr haben, sondern nur unzaehlige Einzahlen?

Ja, es ist moeglich.

Ist es moeglich, dass es Leute giebt, welche ’Gott’ sagen und meinen, das waere etwas Gemeinsames?—Und sieh nur zwei Schulkinder: Es kauft sich der eine ein Messer, und sein Nachbar kauft sich ein ganz gleiches am selben Tag. Und sie zeigen einander nach einer Woche die beiden Messer, und es ergiebt sich, dass sie sich nur noch ganz entfernt aehnlich sehen,—so verschieden haben sie sich in verschie denen Haenden entwickelt. (Ja, sagt des einen Mutter dazu: wenn ihr auch gleich immer alles abnutzen muesst.—) Ach so: Ist es moeglich, zu glauben, man koenne einen Gott haben, ohne ihn zu gebrauchen?

Ja, es ist moeglich.

Wenn aber dieses alles moeglich ist, auch nur einen Schein von Moeglichkeit hat,—dann muss ja, um alles in der Welt, etwas geschehen. Der Naechstbeste, der, welcher diesen beunruhigenden Gedanken gehabt hat, muss anfangen, etwas von dem Versaeumten zu tun; wenn es auch nur irgend einer ist, durchaus nicht der Geeignetste: es ist eben kein anderer da. Dieser junge, belanglose Auslaender, Brigge, wird sich fuenf Treppen hoch hinsetzen muessen und schrei ben, Tag und Nacht. Ja er wird schreiben muessen, das wird das Ende sein.

Zwoelf Jahre oder hoechstens dreizehn muss ich damals gewesen sein. Mein Vater hatte mich nach Urnekloster mitgenommen. Ich weiss nicht, was ihn veranlasste, seinen Schwiegervater aufzusuchen. Die beiden Maenner hatten sich jahrelang, seit dem Tode meiner Mutter, nicht gesehen, und mein Vater selbst war noch nie in dem alten Schlosse gewesen, in welches der Graf Brahe sich erst spaet zurueckgezogen hatte. Ich habe das merkwuerdige Haus spaeter nie wiedergesehen, das, als mein Grossvater starb, in fremde Haende kam. So wie ich es in meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung wiederfinde, ist es kein Gebaeude; es ist ganz aufgeteilt in mir; da ein Raum, dort ein Raum und hier ein Stueck Gang, das diese beiden Raeume nicht verbindet, sondern fuer sich, als Fragment, aufbewahrt ist. In dieser Weise ist alles in mir verstreut,—die Zimmer, die Treppen, die mit so grosser Umstaendlichkeit sich niederliessen, und andere enge, rundgebaute Stiegen, in deren Dunkel man ging wie das Blut in den Adern; die Turmzimmer, die hoch aufgehaengten Balkone, die unerwarteten Altane, auf die man von einer kleinen Tuer hinausgedraengt wurde:—alles das ist noch in mir und wird nie aufhoeren, in mir zu sein. Es ist, als waere das Bild dieses Hauses aus unendlicher Hoehe in mich hineingestuerzt und auf meinem Grunde zerschlagen. Ganz erhalten ist in meinem Herzen, so scheint es mir, nur jener Saal, in dem wir uns zum Mittagessen zu versammeln pflegten, jeden Abend um sieben Uhr. Ich habe diesen Raum niemals bei Tage gesehen, ich erinnere mich nicht einmal, ob er Fenster hatte und wohin sie aussahen; jedes mal, so oft die Familie eintrat, brannten die Kerzen in den schweren Armleuchtern, und man vergass in einigen Minuten die Tageszeit und alles, was man draussen gesehen hatte. Dieser hohe, wie ich vermute, gewoelbte Raum war staerker als alles; er saugte mit seiner dunkelnden Hoehe, mit seinen niemals ganz aufgeklaerten Ecken alle Bilder aus einem heraus, ohne einem einen bestimmten Ersatz dafuer zu geben. Man sass da wie aufgeloest; voellig ohne Willen, ohne Besinnung, ohne Lust, ohne Abwehr. Man war wie eine leere Stelle. Ich erinnere mich, dass dieser vernichtende Zustand mir zuerst fast Uebelkeit verursachte, eine Art Seekrankheit, die ich nur dadurch ueberwand, dass ich mein Bein ausstreckte, bis ich mit dem Fuss das Knie meines Vaters beruehrte, der mir gegenuebersass. Erst spaeter fiel es mir auf, dass er dieses merkwuerdige Benehmen zu begreifen oder doch zu dulden schien, obwohl zwischen uns ein fast kuehles Verhaeltnis bestand, aus dem ein solches Gebaren nicht erklaerlich war. Es war indessen jene leise Beruehrung, welche mir die Kraft gab, die langen Mahlzeiten auszuhalten. Und nach einigen Wochen krampfhaften Ertragens hatte ich, mit der fast unbegrenzten Anpasssung des Kin des, mich so sehr an das Unheimliche jener Zusammenkuenfte gewoehnt, dass es mich keine Anstrengung mehr kostete, zwei Stunden bei Tische zu sitzen; jetzt vergingen sie sogar verhaeltnismaessig schnell, weil ich mich damit beschaeftigte, die Anwesenden zu beobachten. Mein Grossvater nannte es die Familie, und ich hoerte auch die andern diese Bezeichnung gebrauchen, die ganz willkuerlich war. Denn obwohl diese vier Menschen miteinander in entfernten verwandtschaftlichen Beziehungen standen, so gehoerten sie doch in keiner Weise zusammen. Der Oheim, welcher neben mir sass, war ein alter Mann, dessen hartes und verbranntes Gesicht einige schwarze Flecke zeigte, wie ich erfuhr, die Folgen einer explodierten Pulverladung; muerrisch und malkontent wie er war, hatte er als Major seinen Abschied genommen, und nun machte er in einem mir unbekannten Raum des Schlosses alchymistische Versuche, war auch, wie ich die Diener sagen hoerte, mit einem Stockhause in Verbindung, von wo man ihm einoder zweimal jaehrlich Leichen zusandte, mit denen er sich Tage und Naechte einschloss und die er zerschnitt und auf eine geheimnisvolle Art zubereitete, so dass sie der Verwesung widerstanden. Ihm gegenueber war der Platz des Fraeuleins Mathilde Brahe. Es war das eine Person von unbe stimmtem Alter, eine entfernte Cousine meiner Mutter, von der nichts bekannt war, als dass sie eine sehr rege Korrespondenz mit einem oesterreichischen Spiritisten unterhielt, der sich Baron Nolde nannte und dem sie vollkommen ergeben war, so dass sie nicht das geringste unternahm, ohne vorher seine Zustimmung oder vielmehr etwas wie seinen Segen einzuholen. Sie war zu jener Zeit ausserordentlich stark, von einer weichen, traegen Fuelle, die gleichsam achtlos in ihre losen, hellen Kleider hineingegossen war; ihre Bewegungen waren muede und unbestimmt, und ihre Augen flossen bestaendig ueber. Und trotzdem war etwas in ihr, das mich an meine zarte und schlanke Mutter erinnerte.

Ich fand, je laenger ich sie betrachtete, alle die feinen und leisen Zuege in ihrem Gesichte, an die ich mich seit meiner Mutter Tode nie mehr recht hatte erinnern koennen; nun erst, seit ich Mathilde Brahe taeglich sah, wusste ich wieder, wie die Verstorbene ausgesehen hatte; ja, ich wusste es vielleicht zum erstenmal. Nun erst setzte sich aus hundert und hundert Einzelheiten ein Bild der Toten in mir zusammen, jenes Bild, das mich ueberall begleitet. Spaeter ist es mir klar geworden, dass in dem Gesicht des Fraeuleins Brahe wirklich alle Einzelheiten vorhanden waren, die die Zuege meiner Mutter bestimmten,—sie waren nur, als ob ein fremdes Gesicht sich dazwischen geschoben haette, auseinandergedraengt, verbogen und nicht mehr in Verbindung miteinander.

Neben dieser Dame sass der kleine Sohn einer Cousine, ein Knabe, etwa gleichaltrig mit mir, aber kleiner und schwaechlicher. Aus einer gefaeltelten Krause stieg sein duenner, blasser Hals und verschwand unter einem langen Kinn. Seine Lippen waren schmal und fest geschlossen, seine Nasenfluegel zitterten leise, und von seinen schoenen dunkelbraunen Augen war nur das eine beweglich. Es blickte manchmal ruhig und traurig zu mir herueber, waehrend das andere immer in dieselbe Ecke gerichtet blieb, als waere es verkauft und kaeme nicht mehr in Betracht.

Am oberen Ende der Tafel stand der ungeheure Lehnsessel meines Grossvaters, den ein Diener, der nichts anderes zu tun hatte, ihm unterschob und in dem der Greis nur einen geringen Raum einnahm. Es gab Leute, die diesen schwerhoerigen und herrischen alten Herrn Exzellenz und Hofmarschall nannten, andere gaben ihm den Titel General. Und er besass gewiss auch alle diese Wuerden, aber es war so lange her, seit er Aemter bekleidet hatte, dass diese Benennungen kaum mehr verstaendlich waren. Mir schien es ueberhaupt, als ob an seiner in gewissen Momenten so scharfen und doch immer wieder aufgeloesten Persoenlichkeit kein bestimmter Name haften koenne. Ich konnte mich nie entschliessen, ihn Grossvater zu nennen, obwohl er bisweilen freundlich zu mir war, ja mich sogar zu sich rief, wobei er meinem Namen eine scherzhafte Betonung zu geben versuchte. Uebrigens zeigte die ganze Familie ein aus Ehrfurcht und Scheu gemischtes Benehmen dem Grafen gegenueber, nur der kleine Erik lebte in einer gewissen Vertraulichkeit mit dem greisen Hausherrn; sein bewegliches Auge hatte zuzeiten rasche Blicke des Einverstaendnisses mit ihm, die ebensorasch von dem Grossvater erwidert wurden; auch konnte man sie zuweilen in den langen Nachmittagen am Ende der tiefen Galerie auftauchen sehen und beobachten, wie sie, Hand in Hand, die dunklen alten Bildnisse entlang gingen, ohne zu sprechen, offenbar auf eine andere Weise sich verstaendigend.

Ich befand mich fast den ganzen Tag im Parke und draussen in den Buchenwaeldern oder auf der Heide; und es gab zum Glueck Hunde auf Urnekloster, die mich begleiteten; es gab da und dort ein Paechterhaus oder einen Meierhof, wo ich Milch und Brot und Fruechte bekommen konnte, und ich glaube, dass ich meine Freiheit ziemlich sorglos genoss, ohne mich, wenigstens in den folgenden Wochen, von dem Gedanken an die abendlichen Zusammenkuenfte aengstigen zu lassen. Ich sprach fast mit niemandem, denn es war meine Freude, einsam zu sein; nur mit den Hunden hatte ich kurze Gespraeche dann und wann: mit ihnen verstand ich mich ausgezeichnet. Schweigsamkeit war uebrigens eine Art Familieneigenschaft; ich kannte sie von meinem Vater her, und es wunderte mich nicht, dass waehrend der Abendtafel fast nichts gesprochen wurde.

In den ersten Tagen nach unserer Ankunft allerdings benahm sich Mathilde Brahe aeusserst gespraechig. Sie fragte den Vater nach frueheren Bekannten in auslaendischen Staedten, sie erinnerte sich entlegener Eindruecke, sie ruehrte sich selbst bis zu Traenen, indem sie verstorbener Freundinnen und eines gewissen jungen Mannes gedachte, von dem sie andeutete, dass er sie geliebt habe, ohne dass sie seine instaendige und hoffnungslose Neigung haette erwidern moegen. Mein Vater hoerte hoeflich zu, neigte dann und wann zustimmend sein Haupt und antwortete nur das Noetigste. Der Graf, oben am Tisch, laechelte bestaendig mit herabgezogenen Lippen, sein Gesicht erschien groesser als sonst, es war, als truege er eine Maske. Er ergriff uebrigens selbst manchmal das Wort, wobei seine Stimme sich auf niemanden bezog, aber, obwohl sie sehr leise war, doch im ganzen Saal gehoert werden konnte; sie hatte etwas von dem gleichmaessigen unbeteiligten Gang einer Uhr; die Stille um sie schien eine eigene leere Resonanz zu haben, fuer jede Silbe die gleiche.

Graf Brahe hielt es fuer eine besondere Artigkeit meinem Vater gegenueber, von dessen verstorbener Gemahlin, meiner Mutter, zu sprechen. Er nannte sie Graefin Sibylle, und alle seine Saetze schlossen, als fragte er nach ihr. Ja es kam mir, ich weiss nicht weshalb, vor, als handle es sich um ein ganz junges Maedchen in Weiss, das jeden Augenblick bei uns eintreten koenne. In demselben Tone hoerte ich ihn auch von ’unserer kleinen Anna Sophie’ reden. Und als ich eines Tages nach diesem Fraeulein fragte, das dem Grossvater besonders lieb zu sein schien, erfuhr ich, dass er des Grosskanzlers Conrad Reventlow Tochter meinte, weiland Friedrichs des Vierten Gemahlin zur linken Hand, die seit nahezu anderthalb hundert Jahren zu Roskilde ruhte. Die Zeitfolgen spielten durchaus keine Rolle fuer ihn, der Tod war ein kleiner Zwischenfall, den er vollkommen ignorierte, Personen, die er einmal in seine Erinnerung aufgenommen hatte, existierten, und daran konnte ihr Absterben nicht das geringste aendern. Mehrere Jahre spaeter, nach dem Tode des alten Herrn, erzaehlte man sich, wie er auch das Zukuenftige mit demselben Eigensinn als gegenwaertig empfand. Er soll einmal einer gewissen jungen Frau von ihren Soehnen gesprochen haben, von den Reisen eines dieser Soehne insbesondere, waehrend die junge Dame, eben im dritten Monate ihrer ersten Schwangerschaft, fast besinnungslos vor Entsetzen und Furcht neben dem unablaessig redenden Alten sass.

Aber es begann damit, dass ich lachte. Ja ich lachte laut und ich konnte mich nicht beruhigen. Eines Abends fehlte naemlich Mathilde Brahe. Der alte, fast ganz erblindete Bediente hielt, als er zu ihrem Platze kam, dennoch die Schuessel anbietend hin. Eine Weile verharrte er so; dann ging er befriedigt und wuerdig und als ob alles in Ordnung waere weiter. Ich hatte diese Szene beobachtet, und sie kam mir, im Augenblick da ich sie sah, durchaus nicht komisch vor. Aber eine Weile spaeter, als ich eben einen Bissen in den Mund steckte, stieg mir das Gelaechter mit solcher Schnelligkeit in den Kopf, dass ich mich verschluckte und grossen Laerm verursachte. Und trotzdem diese Situation mir selber laestig war, trotzdem ich mich auf alle moegliche Weise anstrengte, ernst zu sein, kam das Lachen stossweise immer wieder und behielt voellig die Herrschaft ueber mich. Mein Vater, gleichsam um mein Benehmen zu verdecken, fragte mit seiner breiten gedaempften Stimme: "Ist Mathilde krank?" Der Grossvater laechelte in seiner Art und antwortete dann mit einem Satze, auf den ich, mit mir selber beschaeftigt, nicht achtgab und der etwa lautete: Nein, sie wuenscht nur, Christinen nicht zu begegnen. Ich sah es also auch nicht als Wirkung dieser Worte an, dass mein Nachbar, der braune Major, sich erhob und, mit einer undeutlich gemurmelten Entschuldigung und einer Verbeugung gegen den Grafen hin, den Saal verliess. Es fiel mir nur auf, dass er sich hinter dem Ruecken des Hausherrn in der Tuer nochmals umdrehte und dem kleinen Erik und zu meinem groessten Erstaunen ploetzlich auch mir winkende und nickende Zeichen machte, als forderte er uns auf, ihm zu folgen. Ich war so ueberrascht, dass mein Lachen aufhoerte, mich zu bedraengen. Im uebrigen schenkte ich dem Major weiter keine Aufmerksamkeit; er war mir unangenehm, und ich bemerkte auch, dass der kleine Erik ihn nicht beachtete.

Die Mahlzeit schleppte sich weiter wie immer, und man war gerade beim Nachtisch angelangt, als meine Blicke von einer Bewegung ergriffen und mitgenommen wurden, die im Hintergrund des Saales, im Halbdunkel, vor sich ging. Dort war nach und nach eine, wie ich meinte, stets verschlossene Tuere, von welcher man mir gesagt hatte, dass sie in das Zwischengeschoss fuehre, aufgegangen, und jetzt, waehrend ich mit einem mir ganz neuen Gefuehl von Neugier und Bestuerzung hinsah, trat in das Dunkel der Tueroeffnung eine schlanke, hellgekleidete Dame und kam langsam auf uns zu. Ich weiss nicht, ob ich eine Bewegung machte oder einen Laut von mir gab, der Laerm eines umstuerzenden Stuhles zwang mich, meine Blicke von der merkwuerdigen Gestalt abzureissen, und ich sah meinen Vater, der aufgesprungen war und nun, totenbleich im Gesicht, mit herabhaengenden geballten Haenden, auf die Dame zuging. Sie bewegte sich indessen, von dieser Szene ganz unberuehrt, auf uns zu, Schritt fuer Schritt, und sie war schon nicht mehr weit von dem Platze des Grafen, als dieser sich mit einem Ruck erhob, meinen Vater beim Arme fasste, ihn an den Tisch zurueckzog und festhielt, waehrend die fremde Dame, langsam und teilnahmlos, durch den nun freigewordenen Raum vorueberging, Schritt fuer Schritt, durch unbeschreibliche Stille, in der nur irgendwo ein Glas zitternd klirrte, und in einer Tuer der gegenueberliegenden Wand des Saales verschwand.

In diesem Augenblick bemerkte ich, dass es der kleine Erik war, der mit einer tiefen Verbeugung diese Tuere hinter der Fremden schloss. Ich war der einzige, der am Tische sitzengeblieben war; ich hatte mich so schwer gemacht in meinem Sessel, mir schien, ich koennte allein nie wieder auf. Eine Weile sah ich, ohne zu sehen. Dann fiel mir mein Vater ein, und ich gewahrte, dass der Alte ihn noch immer am Arme festhielt. Das Gesicht meines Vaters war jetzt zornig, voller Blut, aber der Grossvater, dessen Finger wie eine weisse Kralle meines Vaters Arm umklammerten, laechelte sein masken haftes Laecheln. Ich hoerte dann, wie er etwas sagte, Silbe fuer Silbe, ohne dass ich den Sinn seiner Worte verstehen konnte. Dennoch fielen sie mir tief ins Gehoer, denn vor etwa zwei Jahren fand ich sie eines Tages unten in meiner Erinnerung, und seither weiss ich sie. Er sagte: "Du bist heftig, Kammerherr, und unhoeflich. Was laesst du die Leute nicht an ihre Beschaeftigungen gehn?" "Wer ist das?" schrie mein Vater dazwischen. "Jemand, der wohl das Recht hat, hier zu sein. Keine Fremde. Christine Brahe."—Da entstand wieder jene merkwuerdig duenne Stille, und wieder fing das Glas an zu zittern. Dann aber riss sich mein Vater mit einer Bewegung los und stuerzte aus dem Saale.

Ich hoerte ihn die ganze Nacht in seinem Zimmer auf und ab gehen; denn auch ich konnte nicht schlafen. Aber ploetzlich gegen Morgen erwachte ich doch aus irgend etwas Schlafaehnlichem und sah mit einem Entsetzen, dass mich bis ins Herz hinein laehmte, etwas Weisses, das an meinem Bette sass. Meine Verzweiflung gab mir schliesslich die Kraft, den Kopf unter die Decke zu stecken, und dort begann ich aus Angst und Huelflosigkeit zu weinen. Ploetzlich wurde es kuehl und hell ueber meinen weinenden Augen; ich drueckte sie, um nichts sehen zu muessen, ueber den Traenen zu. Aber die Stimme, die nun von ganz nahe auf mich einsprach, kam lau und suesslich an mein Gesicht, und ich erkannte sie: es war Fraeulein Mathildes Stimme. Ich beruhigte mich sofort und liess mich trotzdem, auch als ich schon ganz ruhig war, immer noch weiter troesten; ich fuehlte zwar, dass diese Guete zu weichlich sei, aber ich genoss sie dennoch und meinte sie irgendwie verdient zu haben. "Tante", sagte ich schliesslich und versuchte in ihrem zerflossenen Gesicht die Zuege meiner Mutter zusammenzufassen: "Tante, wer war die Dame?" "Ach", antwortete das Fraeulein Brahe mit einem Seufzer, der mir komisch vorkam, "eine Unglueckliche, mein Kind, eine Unglueckliche." Am Morgen dieses Tages bemerkte ich in einem Zimmer einige Bediente, die mit Packen beschaeftigt waren. Ich dachte, dass wir reisen wuerden, ich fand es ganz natuerlich, dass wir nun reisten. Vielleicht war das auch meines Vaters Absicht. Ich habe nie erfahren, was ihn bewog, nach jenem Abend noch auf Urnekloster zu bleiben. Aber wir reisten nicht. Wir hielten uns noch acht Wochen oder neun in diesem Hause auf, wir ertrugen den Druck seiner Seltsam keiten, und wir sahen noch dreimal Christine Brahe. Ich wusste damals nichts von ihrer Geschichte. Ich wusste nicht, dass sie vor langer, langer Zeit in ihrem zweiten Kindbett gestorben war, einen Knaben gebaehrend, der zu einem bangen und grausamen Schicksal heranwuchs,—ich wusste nicht, dass sie eine Gestorbene war. Aber mein Vater wusste es. Hatte er, der leidenschaftlich war und auf Konsequenz und Klarheit angelegt, sich zwingen wollen, in Fassung und ohne zu fragen, dieses Abenteuer auszuhalten? Ich sah, ohne zu begreifen, wie er mit sich kaempfte, ich erlebte es, ohne zu verstehen, wie er sich endlich bezwang. Das war, als wir Christine Brahe zum letztenmal sahen. Dieses Mal war auch Fraeulein Mathilde zu Tische erschienen; aber sie war anders als sonst. Wie in den ersten Tagen nach unserer Ankunft sprach sie unaufhoerlich ohne bestimmten Zusammenhang und fortwaehrend sich verwirrend, und dabei war eine koerperliche Unruhe in ihr, die sie noetigte, sich bestaendig etwas am Haar oder am Kleide zu richten,—bis sie unvermutet mit einem hohen klagenden Schrei aufsprang und verschwand.

In demselben Augenblick wandten sich meine Blicke unwillkuerlich nach der gewissen Tuere, und wirklich: Christine Brahe trat ein. Mein Nachbar, der Major, machte eine heftige, kurze Bewegung, die sich in meinen Koerper fortpflanzte, aber er hatte offenbar keine Kraft mehr, sich zu erheben. Sein braunes, altes, fleckiges Gesicht wendete sich von einem zum andern, sein Mund stand offen, und die Zunge wand sich hinter den verdorbenen Zaehnen; dann auf einmal war dieses Gesicht fort, und sein grauer Kopf lag auf dem Tische, und seine Arme lagen wie in Stuecken darueber und darunter, und irgendwo kam eine welke, fleckige Hand hervor und bebte. Und nun ging Christine Brahe vorbei, Schritt fuer Schritt, langsam wie eine Kranke, durch unbeschreibliche Stille, in die nur ein einziger wimmernder Laut hineinklang wie eines alten Hundes. Aber da schob sich links von dem grossen silbernen Schwan, der mit Narzissen gefuellt war, die grosse Maske des Alten hervor mit ihrem grauen Laecheln. Er hob sein Weinglas meinem Vater zu. Und nun sah ich, wie mein Vater, gerade als Christine Brahe hinter seinem Sessel vorueberkam, nach seinem Glase griff und es wie etwas sehr Schweres eine Handbreit ueber den Tisch hob. Und noch in dieser Nacht reisten wir.

Bibliothèque Nationale.

Ich sitze und lese einen Dichter. Es sind viele Leute im Saal aber man spuert sie nicht. Sie sind in den Buechern. Manchmal bewegen sie sich in den Blaettern, wie Menschen, die schlafen und sich umwenden zwischen zwei Traeumen. Ach, wie gut ist es doch, unter lesenden Menschen zu sein. Warum sind sie nicht immer so? Du kannst hingehen zu einem und ihn leise anruehren: er fuehlt nichts. Und stoesst du einen Nachbar beim Aufstehen ein wenig an und entschuldigst dich, so nickt er nach der Seite, auf der er deine Stimme hoert, sein Gesicht wendet sich dir zu und sieht dich nicht, und sein Haar ist wie das Haar eines Schlafenden. Wie wohl das tut. Und ich sitze und habe einen Dichter. Was fuer ein Schicksal. Es sind jetzt vielleicht dreihundert Leute im Saale, die lesen; aber es ist unmoeglich, dass sie jeder einzelne einen Dichter haben. (Weiss Gott, was sie haben.) Dreihundert Dichter giebt es nicht. Aber sieh nur, was fuer ein Schicksal, ich, vielleicht der armsaeligste von diesen Lesenden, ein Auslaender: ich habe einen Dichter. Obwohl ich arm bin. Obwohl mein Anzug, den ich taeglich trage, anfaengt, gewisse Stellen zu bekommen, obwohl gegen meine Schuhe sich das und jenes einwenden liesse. Zwar mein Kragen ist rein, meine Waesche auch, und ich koennte, wie ich bin, in eine beliebige Konditorei gehen, womoeglich auf den grossen Boulevards, und koennte mit meiner Hand getrost in einen Kuchenteller greifen und etwas nehmen. Man wuerde nichts Auffaelliges darin finden und mich nicht schelten und hinausweisen, denn es ist immerhin eine Hand aus den guten Kreisen, eine Hand, die vierbis fuenfmal taeglich gewaschen wird. Ja, es ist nichts hinter den Naegeln, der Schreibfinger ist ohne Tinte, und besonders die Gelenke sind tadellos. Bis dorthin waschen arme Leute sich nicht, das ist eine bekannte Tatsache. Man kann also aus ihrer Reinlichkeit gewisse Schluesse ziehen. Man zieht sie auch. In den Geschaeften zieht man sie. Aber es giebt doch ein paar Existenzen, auf dem Boulevard Saint-Michel zum Beispiel und in der rue Racine, die lassen sich nicht irremachen, die pfeifen auf die Gelenke. Die sehen mich an und wissen es. Die wissen, dass ich eigentlich zu ihnen gehoere, dass ich nur ein bisschen Komoedie spiele. Es ist ja Fasching. Und sie wollen mir den Spass nicht verderben; sie grinsen nur so ein bisschen und zwinkern mit den Augen. Kein Mensch hats gesehen. Im uebrigen behandeln sie mich wie einen Herrn. Es muss nur jemand in der Naehe sein, dann tun sie sogar untertaenig. Tun, als ob ich einen Pelz anhaette und mein Wagen hinter mir herfuehre. Manchmal gebe ich ihnen zwei Sous und zittere, sie koennten sie abweisen; aber sie nehmen sie an. Und es waere alles in Ordnung, wenn sie nicht wieder ein wenig gegrinst und gezwinkert haetten. Wer sind diese Leute? Was wollen sie von mir? Warten sie auf mich? Woran erkennen sie mich? Es ist wahr, mein Bart sieht etwas vernachlaessigt aus, ein ganz, ganz klein wenig erinnert er an ihre kranken, alten, verblichenen Baerte, die mir immer Eindruck gemacht haben. Aber habe ich nicht das Recht, meinen Bart zu vernachlaessigen? Viele beschaeftigte Menschen tun das, und es faellt doch niemandem ein, sie deshalb gleich zu den Fortgeworfenen zu zaehlen. Denn das ist mir klar, dass das die Fortgeworfenen sind, nicht nur Bettler; nein, es sind eigentlich keine Bettler, man muss Unterschiede machen. Es sind Abfaelle, Schalen von Menschen, die das Schicksal ausgespieen hat. Feucht vom Speichel des Schicksals kleben sie an einer Mauer, an einer Laterne, an einer Plakatsaeule, oder sie rinnen langsam die Gasse herunter mit einer dunklen, schmutzigen Spur hinter sich her. Was in aller Welt wollte diese Alte von mir, die, mit einer Nachttischschublade, in der einige Knoepfe und Nadeln herumrollten, aus irgendeinem Loch herausgekrochen war? Weshalb ging sie immer neben mir und beobachtete mich? Als ob sie versuchte, mich zu erkennen mit ihren Triefaugen, die aussahen, als haette ihr ein Kranker gruenen Schleim in die blutigen Lider gespuckt. Und wie kam damals jene graue, kleine Frau dazu, eine Viertelstunde lang vor einem Schaufenster an meiner Seite zu stehen, waehrend sie mir einen alten, langen Bleistift zeigte, der unendlich langsam aus ihren schlechten, geschlossenen Haenden sich herausschob. Ich tat, als betrachtete ich die ausgelegten Sachen und merkte nichts. Sie aber wusste, dass ich sie gesehen hatte, sie wusste, dass ich stand und nachdachte, was sie eigentlich taete. Denn dass es sich nicht um den Bleistift handeln konnte, begriff ich wohl: ich fuehlte, dass das ein Zeichen war, ein Zeichen fuer Eingeweihte, ein Zeichen, das die Fortgeworfenen kennen; ich ahnte, sie bedeutete mir, ich muesste irgendwohin kommen oder etwas tun. Und das Seltsamste war, dass ich immerfort das Gefuehl nicht los wurde, es bestuende tatsaechlich eine gewisse Verabredung, zu der dieses Zeichen gehoerte, und diese Szene waere im Grunde etwas, was ich haette erwarten muessen.

Das war vor zwei Wochen. Aber nun vergeht fast kein Tag ohne eine solche Begegnung. Nicht nur in der Daemmerung, am Mittag in den dichtesten Strassen geschieht es, dass ploetzlich ein kleiner Mann oder eine alte Frau da ist, nickt, mir etwas zeigt und wieder verschwindet, als waere nun alles Noetige getan. Es ist moeglich, dass es ihnen eines Tages einfaellt, bis in meine Stube zu kommen, sie wissen bestimmt, wo ich wohne, und sie werden es schon einrichten, dass der Concierge sie nicht aufhaelt. Aber hier, meine Lieben, hier bin ich sicher vor euch. Man muss eine besondere Karte haben, um in diesen Saal eintreten zu koennen. Diese Karte habe ich vor euch voraus. Ich gehe ein wenig scheu, wie man sich denken kann, durch die Strassen, aber schliesslich stehe ich vor einer Glastuer, oeffne sie, als ob ich zuhause waere, weise an der naechsten Tuer meine Karte vor (ganz genau wie ihr mir eure Dinge zeigt, nur mit dem Unterschiede, dass man mich versteht und begreift, was ich meine—), und dann bin ich zwischen diesen Buechern, bin euch weggenommen, als ob ich gestorben waere, und sitze und lese einen Dichter.

Ihr wisst nicht, was das ist, ein Dichter?—Verlaine... Nichts? Keine Erinnerung? Nein. Ihr habt ihn nicht unterschieden unter denen, die ihr kanntet? Unterschiede macht ihr keine, ich weiss. Aber es ist ein anderer Dichter, den ich lese, einer, der nicht in Paris wohnt, ein ganz anderer. Einer, der ein stilles Haus hat im Gebirge. Der klingt wie eine Glocke in reiner Luft. Ein gluecklicher Dichter, der von seinem Fenster erzaehlt und von den Glastueren seines Buecherschrankes, die eine liebe, einsame Weite nachdenklich spiegeln. Gerade der Dichter ist es, der ich haette werden wollen; denn er weiss von den Maedchen so viel, und ich haette auch viel von ihnen gewusst. Er weiss von Maedchen, die vor hundert Jahren gelebt haben; es tut nichts mehr, dass sie tot sind, denn er weiss alles. Und das ist die Hauptsache. Er spricht ihre Namen aus, diese leisen, schlankgeschriebenen Namen mit den altmodischen Schleifen in den langen Buchstaben und die erwachsenen Namen ihrer aelteren Freundinnen, in denen schon ein klein wenig Schicksal mitklingt, ein klein wenig Enttaeuschung und Tod. Vielleicht liegen in einem Fach seines Mahagonischreibtisches ihre verblichenen Briefe und die geloesten Blaetter ihrer Tagebuecher, in denen Geburtstage stehen, Sommerpartien, Geburtstage. Oder es kann sein, dass es in der bauchigen Kommode im Hintergrunde seines Schlafzimmers eine Schublade giebt, in der ihre Fruehjahrskleider aufgehoben sind; weisse Kleider, die um Ostern zum erstenmal angezogen wurden, Kleider aus getupftem Tuell, die eigentlich in den Sommer gehoeren, den man nicht erwarten konnte. O was fuer ein glueckliches Schicksal, in der stillen Stube eines ererbten Hauses zu sitzen unter lauter ruhigen, sesshaften Dingen und draussen im leichten, lichtgruenen Garten die ersten Meisen zu hoeren, die sich versuchen, und in der Ferne die Dorfuhr. Zu sitzen und auf einen warmen Streifen Nachmittagssonne zu sehen und vieles von vergangenen Maedchen zu wissen und ein Dichter zu sein. Und zu denken, dass ich auch so ein Dichter geworden waere, wenn ich irgendwo haette wohnen duerfen, irgendwo auf der Welt, in einem von den vielen verschlossenen Landhaeusern, um die sich niemand bekuemmert. Ich haette ein einziges Zimmer gebraucht (das lichte Zimmer im Giebel). Da haette ich drinnen gelebt mit meinen alten Dingen, den Familienbildern, den Buechern. Und einen Lehnstuhl haette ich gehabt und Blumen und Hunde und einen starken Stock fuer die steinigen Wege. Und nichts sonst. Nur ein Buch in gelbli ches, elfenbeinfarbiges Leder gebunden mit einem alten blumigen Muster als Vorsatz: dahinein haette ich geschrieben. Ich haette viel geschrieben, denn ich haette viele Gedanken gehabt und Erinnerungen von Vielen. Aber es ist anders gekommen, Gott wird wissen, warum. Meine alten Moebel faulen in einer Scheune, in die ich sie habe stellen duerfen, und ich selbst, ja, mein Gott, ich habe kein Dach ueber mir, und es regnet mir in die Augen.

Manchmal gehe ich an kleinen Laeden vorbei in der rue de Seine etwa. Haendler mit Altsachen oder kleine Buchantiquare oder Kupferstichverkaeufer mit ueberfuellten Schaufenstern. Nie tritt jemand bei ihnen ein, sie machen offenbar keine Geschaefte. Sieht man aber hinein, so sitzen sie, sitzen und lesen, unbesorgt; sorgen nicht um morgen, aengstigen sich nicht um ein Gelingen, haben einen Hund, der vor ihnen sitzt, gut aufgelegt, oder eine Katze, die die Stille noch groesser macht, indem sie die Buecherreihen entlang streicht, als wischte sie die Namen von den Ruecken. Ach, wenn das genuegte: ich wuenschte manchmal, mir so ein volles Schaufenster zu kaufen und mich mit einem Hund dahinterzusetzen fuer zwanzig Jahre.

Es ist gut, es laut zu sagen: "Es ist nichts geschehen." Noch einmal: "Es ist nichts geschehen." Hilft es?

Dass mein Ofen wieder einmal geraucht hat und ich ausgehen musste, das ist doch wirklich kein Unglueck. Dass ich mich matt und erkaeltet fuehle, hat nichts zu bedeuten. Dass ich den ganzen Tag in den Gassen umhergelaufen bin, ist meine eigene Schuld. Ich haette ebensogut im Louvre sitzen koennen. Oder nein, das haette ich nicht. Dort sind gewisse Leute, die sich waermen wollen. Sie sitzen auf den Samtbaenken, und ihre Fuesse stehen wie grosse leere Stiefel nebeneinander auf den Gittern der Heizungen. Es sind aeusserst bescheidene Maenner, die dankbar sind, wenn die Diener in den dunklen Uniformen mit den vielen Orden sie dulden. Aber wenn ich eintrete, so grinsen sie. Grinsen und nicken ein wenig. Und dann, wenn ich vor den Bildern hin und her gehe, behalten sie mich im Auge, immer im Auge, immer in diesem umgeruehrten, zusammengeflossenen Auge. Es war also gut, dass ich nicht ins Louvre gegangen bin. Ich bin immer unterwegs gewesen. Weiss der Himmel in wie vielen Staedten, Stadtteilen, Friedhoefen, Bruecken und Durchgaengen. Irgendwo habe ich einen Mann gesehen, der einen Gemuesewagen vor sich herschob. Er schrie: Chou fleur, Chou-fleur, das fleur mit eigentuemlich truebem eu. Neben ihm ging eine eckige, haessliche Frau, die ihn von Zeit zu Zeit anstiess. Und wenn sie ihn anstiess, so schrie er. Manchmal schrie er auch von selbst, aber dann war es umsonst gewesen, und er musste gleich darauf wieder schreien, weil man vor einem Hause war, welches kaufte. Habe ich schon gesagt, dass er blind war? Nein? Also er war blind. Er war blind und schrie. Ich faelsche, wenn ich das sage, ich unterschlage den Wagen, den er schob, ich tue, als haette ich nicht bemerkt, dass er Blumenkohl ausrief. Aber ist das wesentlich? Und wenn es auch wesentlich waere, kommt es nicht darauf an, was die ganze Sache fuer mich gewesen ist? Ich habe einen alten Mann gesehen, der blind war und schrie. Das habe ich gesehen. Gesehen. Wird man es glauben, dass es solche Haeuser giebt? Nein, man wird sagen, ich faelsche. Diesmal ist es Wahrheit, nichts weggelassen, natuerlich auch nichts hinzugetan. Woher sollte ich es nehmen? Man weiss, dass ich arm bin. Man weiss es. Haeuser? Aber, um genau zu sein, es waren Haeuser, die nicht mehr da waren. Haeuser, die man abgebrochen hatte von oben bis unten. Was da war, das waren die anderen Haeuser, die danebengestanden hatten, hohe Nachbarhaeuser. Offenbar waren sie in Gefahr, umzufallen, seit man nebenan alles weggenommen hatte; denn ein ganzes Geruest von langen, geteerten Mastbaeumen war schraeg zwischen den Grund des Schuttplatzes und die blossgelegte Mauer gerammt. Ich weiss nicht, ob ich schon gesagt habe, dass ich diese Mauer meine. Aber es war sozusagen nicht die erste Mauer der vorhandenen Haeuser (was man doch haette annehmen muessen), sondern die letzte der frueheren. Man sah ihre Innenseite. Man sah in den verschiedenen Stockwerken Zimmerwaende, an denen noch die Tapeten klebten, da und dort den Ansatz des Fussbodens oder der Decke. Neben den Zimmerwaenden blieb die ganze Mauer entlang noch ein schmutzigweisser Raum, und durch diesen kroch in unsaeglich widerlichen, wurmweichen, gleichsam verdauenden Bewegungen die offene, rostfleckige Rinne der Abortroehre. Von den Wegen, die das Leuchtgas gegangen war, waren graue, staubige Spuren am Rande der Decken geblieben, und sie bogen da und dort, ganz unerwartet, rund um und kamen in die farbige Wand hineingelaufen und in ein Loch hinein, das schwarz und ruecksichtslos ausgerissen war. Am unvergesslichsten aber waren die Waende selbst. Das zaehe Leben dieser Zimmer hatte sich nicht zertreten lassen. Es war noch da, es hielt sich an den Naegeln, die geblieben waren, es stand auf dem bandbreiten Rest der Fussboeden, es war unter den Ansaetzen der Ecken, wo es noch ein klein wenig Innenraum gab, zusammengekrochen. Man konnte sehen, dass es in der Farbe war, die es langsam, Jahr um Jahr, verwandelt hatte: Blau in schimmliches Gruen, Gruen in Grau und Gelb in ein altes, abgestandenes Weiss, das fault. Aber es war auch in den frischeren Stellen, die sich hinter Spiegeln, Bildern und Schraenken erhalten hatten; denn es hatte ihre Umrisse gezogen und nachgezogen und war mit Spinnen und Staub auch auf diesen versteckten Plaetzen gewesen, die jetzt blosslagen. Es war in jedem Streifen, der abgeschunden war, es war in den feuchten Blasen am unteren Rande der Tapeten, es schwankte in den abgerissenen Fetzen, und aus den garstigen Flecken, die vor langer Zeit entstanden waren, schwitzte es aus. Und aus diesen blau, gruen und gelb gewesenen Waenden, die eingerahmt waren von den Bruchbahnen der zerstoerten Zwischenmauern, stand die Luft dieser Leben heraus, die zaehe, traege, stockige Luft, die kein Wind noch zerstreut hatte. Da standen die Mittage und die Krankheiten und das Ausgeatmete und der jahrealte Rauch und der Schweiss, der unter den Schultern ausbricht und die Kleider schwer macht, und das Fade aus den Munden und der Fuselgeruch gaerender Fuesse. Da stand das Scharfe vom Urin und das Brennen vom Russ und grauer Kartoffeldunst und der schwere, glatte Gestank von alterndem Schmalze. Der suesse, lange Geruch von vernachlaessigten Saeuglingen war da und der Angstgeruch der Kinder, die in die Schule gehen, und das Schwuele aus den Betten mannbarer Knaben. Und vieles hatte sich dazugesellt, was von unten gekom men war, aus dem Abgrund der Gassc, die verdunstete, und anderes war von oben herabgesickert mit dem Regen, der ueber den Staedten nicht rein ist. Und manches hatte die schwachen, zahm gewordenen Hauswinde, die immer in derselben Strasse bleiben, zugetragen, und es war noch vieles da, wovon man den Ursprung nicht wusste. Ich habe doch gesagt, dass man alle Mauern abgebrochen hatte bis auf die letzte—? Nun von dieser Mauer spreche ich fortwaeh rend. Man wird sagen, ich haette lange davorgestanden; aber ich will einen Eid geben dafuer, dass ich zu laufen begann, sobald ich die Mauer erkannt hatte. Denn das ist das Schreckliche, dass ich sie erkannt habe. Ich erkenne das alles hier, und darum geht es so ohne weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir. Ich war etwas erschoepft nach alledem, man kann wohl sagen angegriffen, und darum war es zuviel fuer mich, dass auch er noch auf mich warten musste. Er wartete in der kleinen Cremerie, wo ich zwei Spiegeleier essen wollte; ich war hungrig, ich war den ganzen Tag nicht dazu gekommen zu essen. Aber ich konnte auch jetzt nichts zu mir nehmen; ehe die Eier noch fertig waren, trieb es mich wieder hinaus in die Strassen, die ganz dickfluessig von Menschen mir entgegenrannen. Denn es war Fasching und Abend, und die Leute hatten alle Zeit und trieben umher und rieben sich einer am andern. Und ihre Gesichter waren voll von dem Licht, das aus den Schaubuden kam, und das Lachen quoll aus ihren Munden wie Eiter aus offenen Stellen. Sie lachten immer mehr und draengten sich immer enger zusammen, je ungeduldiger ich versuchte vorwaerts zu kommen. Das Tuch eines Frauenzimmers hakte sich irgendwie an mir fest, ich zog sie hinter mir her, und die Leute hielten mich auf und lachten, und ich fuehlte, dass ich auch lachen sollte, aber ich konnte es nicht. Jemand warf mir eine Hand Confetti in die Augen, und es brannte wie eine Peitsche. An den Ecken waren die Menschen festgekeilt, einer in den andern geschoben, und es war keine Weiterbewegung in ihnen, nur ein leises, weiches Auf und Ab, als ob sie sich stehend paarten. Aber obwohl sie standen und ich am Rande der Fahrbahn, wo es Risse im Gedraenge gab, hinlief wie ein Rasender, war es in Wahrheit doch so, dass sie sich bewegten und ich mich nicht ruehrte. Denn es veraenderte sich nichts; wenn ich aufsah, gewahrte ich immer noch dieselben Haeuser auf der einen Seite und auf der anderen die Schaubuden. Vielleicht auch stand alles fest, und es war nur ein Schwindel in mir und ihnen, der alles zu drehen schien. Ich hatte keine Zeit, darueber nachzudenken, ich war schwer von Schweiss, und es kreiste ein betaeubender Schmerz in mir, als ob in meinem Blute etwas zu Grosses mittriebe, das die Adern ausdehnte, wohin es kam. Und dabei fuehlte ich, dass die Luft laengst zu Ende war und dass ich nur mehr Ausgeatmetes einzog, das meine Lungen stehen liessen.

Aber nun ist es vorbei; ich habe es ueberstanden. Ich sitze in meinem Zimmer bei der Lampe; es ist ein wenig kalt, denn ich wage es nicht, den Ofen zu versuchen; was, wenn er rauchte und ich muesste wieder hinaus? Ich sitze und denke: wenn ich nicht arm waere, wuerde ich mir ein anderes Zimmer mieten, ein Zimmer mit Moebeln, die nicht so aufgebraucht sind, nicht so voll von frueheren Mietern wie diese hier. Zuerst war es mir wirklich schwer, den Kopf in diesen Lehnstuhl zu legen; es ist da naemlich eine gewisse schmierig-graue Mulde in seinem gruenen Bezug, in die alle Koepfe zu passen scheinen. Laengere Zeit gebrauchte ich die Vorsicht, ein Taschentuch unter meine Haare zu legen, aber jetzt bin ich zu muede dazu; ich habe gefunden, dass es auch so geht und dass die kleine Vertiefung genau fuer meinen Hinterkopf gemacht ist, wie nach Mass. Aber ich wuerde mir, wenn ich nicht arm waere, vor allem einen guten Ofen kaufen, und ich wuerde das reine, starke Holz heizen, welches aus dem Gebirge kommt, und nicht diese trostlosen tetes-de-moineau, deren Dunst das Atmen so bang macht und den Kopf so wirr. Und dann muesste jemand da sein, der ohne grobes Geraeusch aufraeumt und der das Feuer besorgt, wie ich es brauche; denn oft, wenn ich eine Viertelstunde vor dem Ofen knien muss und ruetteln, die Stirnhaut gespannt von der nahen Glut und mit Hitze in den offenen Augen, gebe ich alles aus, was ich fuer den Tag an Kraft habe, und wenn ich dann unter die Leute komme, haben sie es natuerlich leicht. Ich wuerde manchmal, wenn grosses Gedraenge ist, einen Wagen nehmen, vorbeifahren, ich wuerde taeglich in einem Duval essen... und nicht mehr in die Cremerien kriechen... Ob er wohl auch in einem Duval gewesen waere? Nein. Dort haette er nicht auf mich warten duerfen. Sterbende laesst man nicht hinein. Sterbende? Ich sitze ja jetzt in meiner Stube; ich kann ja versuchen, ruhig ueber das nachzudenken, was mir begegnet ist. Es ist gut, nichts im Ungewissen zu lassen. Also ich trat ein und sah zuerst nur, dass der Tisch, an dem ich oefters zu sitzen pflegte, von jemandem anderen eingenommen war. Ich gruesste nach dem kleinen Buffet hin, bestellte und setzte mich nebenan. Aber da fuehlte ich ihn, obwohl er sich nicht ruehrte. Gerade seine Regungslosigkeit fuehlte ich und begriff sie mit einem Schlage. Die Verbindung zwischen uns war hergestellt, und ich wusste, dass er erstarrt war vor Entsetzen. Ich wusste, dass das Entsetzen ihn gelaehmt hatte, Entsetzen ueber etwas, was in ihm geschah. Vielleicht brach ein Gefaess in ihm, vielleicht trat ein Gift, das er lange gefuerchtet hatte, gerade jetzt in seine Herzkammer ein, vielleicht ging ein grosses Geschwuer auf in seinem Gehirn wie eine Sonne, die ihm die Welt verwandelte. Mit unbeschreiblicher Anstrengung zwang ich mich, nach ihm hinzusehen, denn ich hoffte noch, dass alles Einbildung sei. Aber es geschah, dass ich aufsprang und hinausstuerzte; denn ich hatte mich nicht geirrt. Er sass da in einem dicken, schwarzen Wintermantel, und sein graues, gespanntes Gesicht hing tief in ein wollenes Halstuch. Sein Mund war geschlossen, als waere er mit grosser Wucht zugefallen, aber es war nicht moeglich zu sagen, ob seine Augen noch schauten: beschlagene, rauchgraue Brillenglaeser lagen davor und zitterten ein wenig. Seine Nasenfluegel waren aufgerissen, und das lange Haar ueber seinen Schlaefen, aus denen alles weggenommen war, welkte wie in zu grosser Hitze. Seine Ohren waren lang, gelb, mit grossen Schatten hinter sich. Ja, er wusste, dass er sich jetzt von allem entfernte, nicht nur von den Menschen. Ein Augenblick noch, und alles wird seinen Sinn verloren haben, und dieser Tisch und die Tasse und der Stuhl, an den er sich klammert, alles Taegliche und Naechste wird unverstaendlich geworden sein, fremd und schwer. So sass er da und wartete, bis es geschehen sein wuerde. Und wehrte sich nicht mehr.

Und ich wehre mich noch. Ich wehre mich, obwohl ich weiss, dass mir das Herz schon heraushaengt und dass ich doch nicht mehr leben kann, auch wenn meine Quaeler jetzt von mir abliessen. Ich sage mir: es ist nichts geschehen, und doch habe ich jenen Mann nur begreifen koennen, weil auch in mir etwas vor sich geht, das anfaengt, mich von allem zu entfernen und abzutrennen. Wie graute mir immer, wenn ich von einem Sterbenden sagen hoerte: er konnte schon niemanden mehr erkennen. Dann stellte ich mir ein einsames Gesicht vor, das sich aufhob aus Kissen und suchte, nach etwas Bekanntem suchte, nach etwas schon einmal Gesehenem suchte, aber es war nichts da. Wenn meine Furcht nicht so gross waere, so wuerde ich mich damit troesten, dass es nicht unmoeglich ist, alles anders zu sehen und doch zu leben. Aber ich fuerchte mich, ich fuerchte mich namenlos vor dieser Veraenderung. Ich bin ja noch gar nicht in dieser Welt eingewoehnt gewesen, die mir gut scheint. Was soll ich in einer anderen? Ich wuerde so gerne unter den Bedeutungen bleiben, die mir lieb geworden sind, und wenn schon etwas sich veraendern muss, so moechte ich doch wenigstens unter den Hunden leben duerfen, die eine verwandte Welt haben und dieselben Dinge.

Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und sagen. Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn ich sie schreiben heissen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine. Die Zeit der anderen Auslegung wird anbrechen, und es wird kein Wort auf dem anderen bleiben, und jeder Sinn wird wie Wolken sich aufloesen und wie Wasser niedergehen. Bei aller Furcht bin ich schliesslich doch wie einer, der vor etwas Grossem steht, und ich erinnere mich, dass es frueher oft aehnlich in mir war, eh ich zu schreiben begann. Aber diesmal werde ich geschrieben werden. Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird. Oh, es fehlt nur ein kleines, und ich koennte das alles begreifen und gutheissen. Nur ein Schritt, und mein tiefes Elend wuerde Seligkeit sein. Aber ich kann diesen Schritt nicht tun, ich bin gefallen und kann mich nicht mehr aufheben, weil ich zerbrochen bin. Ich habe ja immer noch geglaubt, es koennte eine Huelfe kommen. Da liegt es vor mir in meiner eigenen Schrift, was ich gebetet habe, Abend fuer Abend. Ich habe es mir aus den Buechern, in denen ich es fand, abgeschrieben, damit es mir ganz nahe waere und aus meiner Hand entsprungen wie Eigenes. Und ich will es jetzt noch einmal schreiben, hier vor meinem Tisch kniend will ich es schreiben; denn so habe ich es laenger, als wenn ich es lese, und jedes Wort dauert an und hat Zeit zu verhallen.

’Mecontent de tous et mecontent de moi, je voudrais bien me racheter et menorgueillir un peu dans le silence et la solitude de la nuit. Ames de ceux que j’ai aimes, ames de ceux que j’ai chantes, fortifiez-moi, soutenez-moi, eloignez de moi le mensonge et les vapeurs corruptrices du monde; et vous, Seigneur mon Dieu! accordez-moi la grace de produire quelques beaux vers qui me prouvent a moi-meme que je ne suis pas le dernier des hommes, que je ne suis pas inferieur a ceux que je meprise.’

’Die Kinder loser und verachteter Leute, die die Geringsten im Lande waren. Nun bin ich ihr Saitenspiel worden und muss ihr Maerlein sein.

... sie haben ueber mich einen Weg gemacht...

... es war ihnen so leicht, mich zu beschaedigen, dass sie keiner Huelfe dazu durften.

... nun aber geusset sich aus meiner Seele ueber mich, und mich hat ergriffen die elende Zeit.

Des Nachts wird mein Gebein durchbohret allenthalben; und die mich jagen, legen sich nicht schlafen.

Durch die Menge der Kraft werde ich anders und anders gekleidet; und man guertet mich damit wie mit dem Loch meines Rocks...

Meine Eingeweide sieden und hoeren nicht auf; mich hat ueberfallen die elende Zeit...

Meine Harfe ist eine Klage worden, und meine Pfeife ein Weinen.’

Der Arzt hat mich nicht verstanden. Nichts. Es war ja auch schwer zu erzaehlen. Man wollte einen Versuch machen mit dem Elektrisieren. Gut. Ich bekam einen Zettel: ich sollte um ein Uhr in der Salpetrere sein. Ich war dort. Ich musste lange an verschiedenen Baracken vorueber, durch mehrere Hoefe gehen, in denen da und dort Leute mit weissen Hauben wie Straeflinge unter den leeren Baeumen standen. Endlich kam ich in einen langen, dunklen, gangartigen Raum, der auf der einen Seite vier Fenster aus mattem, gruenlichem Glase hatte, eines vom anderen durch eine breite, schwarze Zwischenwand getrennt. Davor lief eine Holzbank hin, an allem vorbei, und auf dieser Bank sassen sie, die mich kannten, und warteten. Ja, sie waren alle da. Als ich mich an die Daemmerung des Raumes gewoehnt hatte, merkte ich, dass unter denen, welche Schulter an Schulter in endloser Reihe dasassen, auch einige andere Leute sein konnten, kleine Leute, Handwerker, Bedienernnen und Lastkutscher. Unten an der Schmalseite des Ganges auf besonderen Stuehlen hatten sich zwei dicke Frauen ausgebreitet, die sich unterhielten, vermutlich Conciergen. Ich sah nach der Uhr; es war fuenf Minuten vor Eins. Nun in fuenf, sagen wir in zehn Minuten, musste ich drankommen; es war also nicht so schlimm. Die Luft war schlecht, schwer, voll Kleider und Atem. An einer gewissen Stelle schlug die starke, steigernde Kuehle von Aether aus einer Tuerspalte. Ich begann auf und ab zu gehen. Es kam mir in den Sinn, dass man mich hierher gewiesen hatte, unter diese Leute, in diese ueberfuellte, allgemeine Sprechstunde. Es war sozusagen die erste oeffentliche Bestaetigung, dass ich zu den Fortgeworfenen gehoerte; hatte der Arzt es mir angesehen? Aber ich hatte meinen Besuch in einem leidlich guten Anzuge gemacht, ich hatte meine Karte hineingeschickt. Trotzdem, er musste es irgendwie erfahren haben, vielleicht hatte ich mich selbst verraten. Nun, da es einmal Tatsache war, fand ich es auch gar nicht so arg; die Leute sassen still und achteten nicht auf mich. Einige hatten Schmerzen und schwenkten ein wenig das eine Bein, um sie leichter auszuhalten. Verschiedene Maenner hatten den Kopf in die flachen Haende gelegt, andere schliefen tief mit schweren, verschuetteten Gesichtern. Ein dicker Mann mit rotem, angeschwollenem Halse sass voruebergebeugt da, stierte auf den Fussboden und spie von Zeit zu Zeit klatschend auf einen Fleck, der ihm dazu passend schien. Ein Kind schluchzte in einer Ecke; die langen magern Beine hatte es zu sich auf die Bank gezogen, und nun hielt es sie umfasst und an sich gepresst, als muesste es von ihnen Abschied nehmen. Eine kleine, blasse Frau, der ein mit runden, schwarzen Blumen geputzter Krepphut schief auf den Haaren sass, hatte die Grimasse eines Laechelns um die duerftigen Lippen, aber ihre wunden Lider gingen bestaendig ueber. Nicht weit von ihr hatte man ein Maedchen hingesetzt mit rundem glatten Gesicht und herausgedraengten Augen, die ohne Ausdruck waren; sein Mund stand offen, so dass man das weisse, schleimige Zahnfleisch sah mit den alten, verkuemmerten Zaehnen. Und viele Verbaende gab es. Verbaende, die den ganzen Kopf Schichte um Schichte umzogen, bis nur noch ein einziges Auge da war, das niemandem mehr gehoerte. Verbaende, die verbargen, und Verbaende, die zeigten, was darunter war. Verbaende, die man geoeffnet hatte und in denen nun, wie in einem schmutzigen Bett, eine Hand lag, die keine mehr war; und ein eingebundenes Bein, das aus der Reihe herausstand, gross wie ein ganzer Mensch. Ich ging auf und ab und gab mir Muehe, ruhig zu sein. Ich beschaeftigte mich viel mit der gegenueberliegenden Wand. Ich bemerkte, dass sie eine Anzahl einfluegeliger Tueren enthielt und nicht bis an die Decke reichte, so dass dieser Gang von den Raeumen, die daneben liegen mussten, nicht ganz abgetrennt war. Ich sah nach der Uhr; ich war eine Stunde auf und ab gegangen. Eine Weile spaeter kamen die Aerzte. Zuerst ein paar junge Leute, die mit gleichgueltigen Gesichtern vorbeigingen, schliesslich der, bei dem ich gewesen war, in lichten Handschuhen, Chapeau ae huit reflets, tadellosem Ueberzieher. Als er mich sah, hob er ein wenig den Hut und laechelte zerstreut. Ich hatte nun Hoffnung, gleich gerufen zu werden, aber es verging wieder eine Stunde. Ich kann mich nicht erinnern, womit ich sie verbrachte. Sie verging. Ein alter Mann kam in einer fleckigen Schuerze, eine Art Waerter, und beruehrte mich an der Schulter. Ich trat in eines der Nebenzimmer. Der Arzt und die jungen Leute sassen um einen Tisch und sahen mich an, man gab mir einen Stuhl. So. Und nun sollte ich erzaehlen, wie das eigentlich mit mir waere. Moeglichst kurz, s’il vous plaît. Denn viel Zeit haetten die Herren nicht. Mir war seltsam zumut. Die jungen Leute sassen und sahen mich an mit jener ueberlegenen, fachlichen Neugier, die sie gelernt hatten. Der Arzt, den ich kannte, strich seinen schwarzen Spitzbart und laechelte zerstreut. Ich dachte, dass ich in Weinen ausbrechen wuerde, aber ich hoerte mich franzoesisch sagen: "Ich hatte bereits die Ehre, Ihnen, mein Herr, alle Auskuenfte zu geben, die ich geben kann. Halten Sie es fuer noetig, dass diese Herren eingeweiht werden, so sind Sie nach unserer Unterredung gewiss imstande, dies mit einigen Worten zu tun, waehrend es mir sehr schwer faellt." Der Arzt erhob sich mit hoeflichem Laecheln, trat mit den Assistenten ans Fenster und sagte ein paar Worte, die er mit einer waagerechten, schwankenden Handbewegung begleitete. Nach drei Minuten kam einer von den jungen Leuten, kurzsichtig und fahrig, an den Tisch zurueck und sagte, indem er versuchte, mich strenge anzusehen: "Sie schlafen gut, mein Herr?" "Nein, schlecht." Worauf er wieder zu der Gruppe zurueck sprang. Dort verhandelte man noch eine Weile, dann wandte sich der Arzt an mich und teilte mir mit, dass man mich rufen lassen wuerde. Ich erinnerte ihn, dass ich auf ein Uhr bestellt worden sei. Er laechelte und machte ein paar schnelle, sprunghafte Bewegungen mit seinen kleinen wei ssen Haenden, die bedeuten wollten, dass er ungemein beschaeftigt sei. Ich kehrte also in meinen Gang zurueck, in dem die Luft viel lastender geworden war, und fing wieder an, hin und her zu gehen, obwohl ich mich todmuede fuehlte. Schliesslich machte der feuchte, angehaeufte Geruch mich schwindlig; ich blieb an der Eingangstuer stehen und oeffnete sie ein wenig. Ich sah, dass draussen noch Nachmittag und etwas Sonne war, und das tat mir unsagbar wohl. Aber ich hatte kaum eine Minute so gestanden, da hoerte ich, dass man mich rief. Eine Frauenperson, die zwei Schritte entfernt bei einem kleinen Tische sass, zischte mir etwas zu. Wer mich geheissen haette, die Tuere oeffnen. Ich sagte, ich koennte die Luft nicht vertragen. Gut, das sei meine Sache, aber die Tuere muesse geschlossen bleiben. Ob es denn nicht anginge, ein Fenster aufzumachen. Nein, das sei verboten. Ich beschloss, das Aufundabgehen wieder aufzunehmen, weil es schliesslich eine Art Betaeubung war und niemanden kraenkte. Aber der Frau an dem kleinen Tische missfiel jetzt auch das. Ob ich denn keinen Platz haette. Nein, den haette ich nicht. Das Herumgehen sei aber nicht gestattet; ich muesste mir einen Platz suchen. Es wuerde schon noch einer da sein. Die Frau hatte recht. Es fand sich wirklich sogleich ein Platz neben dem Maedchen mit den herausdraengenden Augen. Da sass ich nun in dem Gefuehle, dass dieser Zustand unbedingt auf etwas Fuerchterliches vorbereiten muesse. Links war also das Maedchen mit dem faulenden Zahnfleisch; was rechts von mir war, konnte ich erst nach einer Weile erkennen. Es war eine ungeheuere, unbewegliche Masse, die ein Gesicht hatte und eine grosse, schwere, reglose Hand. Die Seite des Gesichtes, die ich sah, war leer, ganz ohne Zuege und ohne Erinnerungen, und es war un heimlich, dass der Anzug wie der einer Leiche war, die man fuer den Sarg angekleidet hatte. Die schmale, schwarze Halsbinde war in derselben losen unpersoenlichen Weise um den Kragen geschnallt, und dem Rock sah man es an, dass er von anderen ueber diesen willenlosen Koerper gezogen worden war. Die Hand hatte man auf diese Hose gelegt, dorthin wo sie lag, und sogar das Haar war wie von Leichenwaescherinnen gekaemmt und war, wie das Haar ausgestopfter Tiere, steif geordnet. Ich betrachtete das alles mit Aufmerksamkeit, und es fiel mir ein, dass dies also der Platz sei, der fuer mich bestimmt gewesen war, denn ich glaubte nun endlich an diejenige Stelle meines Lebens gekommen zu sein, an der ich bleiben wuerde. Ja, das Schicksal geht wunderbare Wege.

Ploetzlich erhoben sich ganz in der Naehe rasch hintereinander die erschreckten, abwehrenden Schreie eines Kindes, denen ein leises, zugehaltenes Weinen folgte. Waehrend ich mich anstrengte, herauszufinden, wo das koennte gewesen sein, verzitterte wieder ein kleiner, unterdrueckter Schrei, und ich hoerte Stimmen, die fragten, eine Stimme, die halblaut befahl, und dann schnurrte irgend eine gleichgueltige Maschine los und kuemmerte sich um nichts. Jetzt erinnerte ich mich jener halben Wand, und es war mir klar, dass das alles von jenseits der Tueren kam und dass man dort an der Arbeit war. Wirklich erschien von Zeit zu Zeit der Waerter mit der fleckigen Schuerze und winkte. Ich dachte gar nicht mehr daran, dass er mich meinen koennte. Galt es mir? Nein. Zwei Maenner waren da mit einem Rollstuhl; sie hoben die Masse hinein, und ich sah jetzt, dass es ein alter, lahmer Mann war, der noch eine andere, kleinere, vom Leben abgenutzte Seite hatte mit einem offenen, trueben, traurigen Auge. Sie fuhren ihn hinein, und neben mir entstand eine Menge Platz. Und ich sass und dachte, was sie wohl dem bloeden Maedchen tun wollten und ob es auch schreien wuerde. Die Maschinen dahinten schnurrten so angenehm fabrikmaessig, es hatte gar nichts Beunruhigendes.

Ploetzlich aber war alles still, und in die Stille sagte eine ueberlegene, selbstgefaellige Stimme, die ich zu kennen glaubte:

"Riez!" Pause. "Riez. Mais riez, riez." Ich lachte schon. Es war unerklaerlich, weshalb der Mann da drueben nicht lachen wollte. Eine Maschine ratterte los, verstummte aber sofort wieder, Worte wurden gewechselt, dann erhob sich wieder dieselbe energische Stimme und befahl: "Dites-nous le mot: avant." Buchstabierend: "a-v-a-n-t"... Stille. "On nentend rien. Encore une fois:... "

Und da, als es drueben so warm und schwammig lallte: da zum erstenmal seit vielen, vielen Jahren war es wieder da. Das, was mir das erste, tiefe Entsetzen eingejagt hatte, wenn ich als Kind im Fieber lag: das Grosse. Ja, so hatte ich immer gesagt, wenn sie alle um mein Bett standen und mir den Puls fuehlten und mich fragten, was mich erschreckt habe: Das Grosse. Und wenn sie den Doktor holten und er war da und redete mir zu, so bat ich ihn, er moechte nur machen, dass das Grosse wegginge, alles andere waere nichts. Aber er war wie die andern. Er konnte es nicht fortnehmen, obwohl ich damals doch klein war und mir leicht zu helfen gewesen waere. Und jetzt war es wieder da. Es war spaeter einfach ausgeblieben, auch in Fiebernaechten war es nicht wiedergekommen, aber jetzt war es da, obwohl ich kein Fieber hatte. Jetzt war es da. Jetzt wuchs es aus mir heraus wie eine Geschwulst, wie ein zweiter Kopf, und war ein Teil von mir, obwohl es doch gar nicht zu mir gehoeren konnte, weil es so gross war. Es war da, wie ein grosses totes Tier, das einmal, als es noch lebte, meine Hand gewesen war oder mein Arm. Und mein Blut ging durch mich und durch es, wie durch einen und denselben Koerper. Und mein Herz musste sich sehr anstrengen, um das Blut in das Grosse zu treiben: es war fast nicht genug Blut da. Und das Blut trat ungern ein in das Grosse und kam krank und schlecht zurueck. Aber das Grosse schwoll an und wuchs mir vor das Gesicht wie eine warme blaeuliche Beule und wuchs mir vor den Mund, und ueber meinem letzten Auge war schon der Schatten von seinem Rande.

Ich kann mich nicht erinnern, wie ich durch die vielen Hoefe hinausgekommen war. Es war Abend, und ich verirrte mich in der fremden Gegend und ging Boulevards mit endlosen Mauern in einer Richtung hinauf und, wenn dann kein Ende da war, in der entgegengesetzten Richtung zurueck bis an irgendeinen Platz. Dort begann ich eine Strasse zu gehen, und es kamen andere Strassen, die ich nie gesehen hatte, und wieder andere. Elektrische Bahnen rasten manchmal ueberhell und mit hartem, klopfendem Gelaeute heran und vorbei. Aber auf ihren Tafeln standen Namen, die ich nicht kannte. Ich wusste nicht, in welcher Stadt ich war und ob ich hier irgendwo eine Wohnung hatte und was ich tun musste, um nicht mehr gehen zu muessen.

Und jetzt auch noch diese Krankheit, die mich immer schon so eigentuemlich beruehrt hat. Ich bin sicher, dass man sie unterschaetzt. Genau wie man die Bedeutung anderer Krankheiten uebertreibt. Diese Krankheit hat keine bestimmten Eigenheiten, sie nimmt die Eigenheiten dessen an, den sie ergreift. Mit einer somnambulen Sicherheit holt sie aus einem jeden seine tiefste Gefahr heraus, die vergangen schien, und stellt sie wieder vor ihn hin, ganz nah, in die naechste Stunde. Maenner, die einmal in der Schulzeit das huelflose Laster versucht haben, dessen betrogene Vertraute die armen, harten Knabenhaende sind, finden sich wieder darueber, oder es faengt eine Krankheit, die sie als Kinder ueberwunden haben, wieder in ihnen an; oder eine verlorene Gewohnheit ist wieder da, ein gewisses zoegerndes Wenden des Kopfes, das ihnen vor Jahren eigen war. Und mit dem, was kommt, hebt sich ein ganzes Gewirr irrer Erinnerungen, das daranhaengt wie nasser Tang an einer versunkenen Sache. Leben, von denen man nie erfahren haette, tauchen empor und mischen sich unter das, was wirklich gewesen ist, und verdraengen Vergangenes, das man zu kennen glaubte: denn in dem, was aufsteigt, ist eine ausgeruhte, neue Kraft, das aber, was immer da war, ist muede von zu oftem Erinnern.

Ich liege in meinem Bett, fuenf Treppen hoch, und mein Tag, den nichts unterbricht, ist wie ein Zifferblatt ohne Zeiger. Wie ein Ding, das lange verloren war, eines Morgens auf seiner Stelle liegt, geschont und gut, neuer fast als zur Zeit des Verlustes, ganz als ob es bei irgend jemandem in Pflege gewesen waere—: so liegt da und da auf meiner Bettdecke Verlorenes aus der Kindheit und ist wie neu. Alle verlorenen Aengste sind wieder da.

Die Angst, dass ein kleiner Wollfaden, der auf dem Saum der Decke heraussteht, hart sei, hart und scharf wie eine staehlerne Nadel; die Angst, dass dieser kleine Knopf meines Nachthemdes groesser sei als mein Kopf, gross und schwer; die Angst, dass dieses Kruemchen Brot, das jetzt von meinem Bette faellt, glaesern und zerschlagen unten ankommen wuerde, und die drueckende Sorge, dass damit eigentlich alles zerbrochen sei, alles fuer immer; die Angst, dass der Streifen Rand eines aufgerissenen Briefes etwas Verbotenes sei, das niemand sehen duerfe, etwas unbeschreiblich Kostbares, fuer das keine Stelle in der Stube sicher genug sei; die Angst, dass ich, wenn ich einschliefe, das Stueck Kohle verschlucken wuerde, das vor dem Ofen liegt; die Angst, dass irgendeine Zahl in meinem Gehirn zu wachsen beginnt, bis sie nicht mehr Raum hat in mir; die Angst, dass das Granit sei, worauf ich liege, grauer Granit; die Angst, dass ich schreien koennte und dass man vor meiner Tuere zusammenliefe und sie schliesslich aufbraeche, die Angst, dass ich mich verraten koennte und alles das sagen, wovor ich mich fuerchte, und die Angst, dass ich nichts sagen koennte, weil alles unsagbar ist,—und die anderen Aengste... die Aengste.

Ich habe um meine Kindheit gebeten, und sie ist wiedergekommen, und ich fuehle, dass sie immer noch so schwer ist wie damals und dass es nichts genuetzt hat, aelter zu werden.

Gestern war mein Fieber besser, und heute faengt der Tag wie Fruehling an, wie Fruehling in Bildern. Ich will versuchen, auszugehen in die Bibliothèque Nationale zu meinem Dichter, den ich so lange nicht gelesen habe, und vielleicht kann ich spaeter langsam durch die Gaerten gehen. Vielleicht ist Wind ueber dem grossen Teich, der so wirkliches Wasser hat, und es kommen Kinder, die ihre Schiffe mit den roten Segeln hineinlassen und zuschauen.

Heute habe ich es nicht erwartet, ich bin so mutig ausgegangen, als waere das das Natuerlichste und Einfachste. Und doch, es war wieder etwas da, das mich nahm wie Papier, mich zusammenknuellte und fortwarf, es war etwas Unerhoertes da.

Der Boulevard St-Michel war leer und weit, und es ging sich leicht auf seiner leisen Neigung. Fensterfluegel oben oeffneten sich mit glaesernem Aufklang, und ihr Glaenzen flog wie ein weisser Vogel ueber die Strasse. Ein Wagen mit hellroten Raedern kam vorueber, und weiter unten trug jemand etwas Lichtgruenes. Pferde liefen in blinkernden Geschirren auf dem dunkel gespritzten Fahrdamm, der rein war. Der Wind war erregt, neu, mild, und alles stieg auf: Gerueche, Rufe, Glocken.

Ich kam an einem der Cafehaeuser vorbei, in denen am Abend die falschen roten Zigeuner spielen. Aus den offenen Fenstern kroch mit schlechtem Gewissen die uebernaechtige Luft. Glattgekaemmte Kellner waren dabei, vor der Tuere zu scheuern. Der eine stand gebueckt und warf, handvoll nach handvoll, gelblichen Sand unter die Tische. Da stiess ihn einer von den Voruebergehenden an und zeigte die Strasse hinunter. Der Kellner, der ganz rot im Gesicht war, schaute eine Weile scharf hin, dann verbreitete sich ein Lachen auf seinen bartlosen Wangen, als waere es darauf verschuettet worden. Er winkte den andern Kellnern, drehte das lachende Gesicht ein paarmal schnell von rechts nach links, um alle herbeizurufen und selbst nichts zu versaeumen. Nun standen alle und blickten hinuntersehend oder -suchend, laechelnd oder aergerlich, dass sie noch nicht entdeckt hatten, was Laecherliches es gaebe.

Ich fuehlte, dass ein wenig Angst in mir anfing. Etwas draengte mich auf die andere Seite hinueber; aber ich begann nur schneller zu gehen und ueberblickte unwillkuerlich die wenigen Leute vor mir, an denen ich nichts Besonderes bemerkte. Doch ich sah, dass der eine, ein Laufbursche mit einer blauen Schuerze und einem leeren Henkelkorb ueber der einen Schulter, jemandem nachschaute. Als er genug hatte, drehte er sich auf derselben Stelle nach den Haeusern um und machte zu einem lachenden Kommis hinueber die schwankende Bewegung vor der Stirne, die allen gelaeufig ist. Dann blitzte er mit den schwarzen Aeugen und kam mir befriedigt und sich wiegend entgegen.

Ich erwartete, sobald mein Auge Raum hatte, irgendeine ungewoehnliche und auffallende Figur zu sehen, aber es zeigte sich, dass vor mir niemand ging, als ein grosser hagerer Mann in einem dunklen Ueberzieher und mit einem weichen, schwarzen Hut auf dem kurzen, fahlblonden Haar. Ich vergewisserte mich, dass weder an der Kleidung, noch in dem Benehmen dieses Mannes etwas Laecherliches sei, und versuchte schon, an ihm vorueber den Boulevard hinunter zu schauen, als er ueber irgend etwas stolperte. Da ich nahe hinter ihm folgte, nahm ich mich in acht, aber als die Stelle kam, war da nichts, rein nichts. Wir gingen beide weiter, er und ich, der Abstand zwischen uns blieb derselbe. Jetzt kam ein Strassenuebergang, und da geschah es, dass der Mann vor mir mit ungleichen Beinen die Stufen des Gangsteigs hinunterhuepfte in der Art etwa, wie Kinder manchmal waehrend des Gehens aufhuepfen oder springen, wenn sie sich freuen. Auf den jenseitigen Gangsteig kam er einfach mit einem langen Schritt hinauf. Aber kaum war er oben, zog er das eine Bein ein wenig an und huepfte auf dem anderen einmal hoch und gleich darauf wieder und wieder. Jetzt konnte man diese ploetzliche Bewegung wieder ganz gut fuer ein Stolpern halten, wenn man sich einredete, es waere da eine Kleinigkeit gewesen, ein Kern, die glitschige Schale einer Frucht, irgend etwas; und das Seltsame war, dass der Mann selbst an das Vorhandensein eines Hindernisses zu glauben schien, denn er sah sich jedesmal mit jenem halb aergerlichen, halb vorwurfsvollen Blick, den die Leute in solchen Augenblicken haben, nach der laestigen Stelle um. Noch einmal rief mich etwas Warnendes auf die andere Seite der Strasse, aber ich folgte nicht und blieb immerfort hinter diesem Manne, indem ich meine ganze Aufmerksamkeit auf seine Beine richtete. Ich muss gestehen, dass ich mich merkwuerdig erleichtert fuehlte, als etwa zwanzig Schritte lang jenes Huepfen nicht wiederkam, aber da ich nun meine Aeugen aufhob, bemerkte ich, dass dem Manne ein anderes Aergernis entstanden war. Der Kragen seines Ueberziehers hatte sich aufgestellt; und wie er sich auch, bald mit einer Hand, bald mit beiden umstaendlich bemuehte, ihn niederzulegen, es wollte nicht gelingen. Das kam vor. Es beunruhigte mich nicht. Aber gleich darauf gewahrte ich mit grenzenloser Verwunderung, dass in den beschaeftigten Haenden dieses Menschen zwei Bewegungen waren: eine heimliche, rasche, mit welcher er den Kragen unmerklich hochklappte, und jene andere ausfuehrliche, anhaltende, gleichsam uebertrieben buchstabierte Bewegung, die das Umlegen des Kragens bewerkstelligen sollte. Diese Beobachtung verwirrte mich so sehr, dass zwei Minuten vergingen, ehe ich erkannte, dass im Halse des Mannes, hinter dem hochgeschobenen Ueberzieher und den nervoes agierenden Haenden dasselbe schreckliche, zweisilbige Huepfen war, das seine Beine eben verlassen hatte. Von diesem Augenblick an war ich an ihn gebunden. Ich begriff, dass dieses Huepfen in seinem Koerper herumirrte, dass es versuchte, hier und da auszubrechen. Ich verstand seine Angst vor den Leuten, und ich begann selber vorsichtig zu pruefen, ob die Voruebergehenden etwas merkten. Ein kalter Stich fuhr mir durch den Ruecken, als seine Beine ploetzlich einen kleinen, zuckenden Sprung machten, aber niemand hatte es gesehen, und ich dachte mir aus, dass auch ich ein wenig stolpern wollte, im Falle jemand aufmerksam wurde. Das waere gewiss ein Mittel, Neugierige glauben zu machen, es haette da doch ein kleines, unscheinbares Hindernis im Wege gelegen, auf das wir zufaellig beide getreten haetten. Aber waehrend ich so auf Huelfe sann, hatte er selbst einen neuen, ausgezeichneten Ausweg gefunden. Ich habe vergessen zu sagen, dass er einen Stock trug, nun, es war ein einfacher Stock, aus dunklem Holze mit einem schlichten, rund gebogenen Handgriff. Und es war ihm in seiner suchenden Angst in den Sinn gekommen, diesen Stock zunaechst mit einer Hand (denn wer weiss, wozu die zweite noch noetig sein wuerde) auf den Ruecken zu halten, gerade ueber die Wirbelsaeule, ihn fest ins Kreuz zu druecken und das Ende der runden Kruecke in den Kragen zu schieben, so dass man es hart und wie einen Halt hinter dem Halswirbel und dem ersten Rueckenwirbel spuerte. Das war eine Haltung, die nicht auffaellig, hoechstens ein wenig uebermuetig war; der unerwartete Fruehlingstag konnte das entschuldigen. Niemandem fiel es ein, sich umzusehen, und nun ging es. Es ging vortrefflich. Freilich beim naechsten Strassenuebergange kamen zwei Huepfer aus, zwei kleine, halbunterdrueckte Huepfer, die vollkommen belanglos waren; und der eine, wirklich sichtbare Sprung war so geschickt angebracht (es lag gerade ein Spritzschlauch quer ueber dem Weg), dass nichts zu befuerchten war. Ja, noch ging alles gut; von Zeit zu Zeit griff auch die zweite Hand an den Stock und presste ihn fester an, und die Gefahr war gleich wieder ueberstanden. Ich konnte nichts dagegen tun, dass meine Angst dennoch wuchs. Ich wusste, dass, waehrend er ging und mit unendlicher Anstrengung versuchte, gleichgueltig und zerstreut auszusehen, das furchtbare Zucken in seinem Koerper sich anhaeufte; auch in mir war die Angst, mit der er es wachsen und wachsen fuehlte, und ich sah, wie er sich an den Stock klammerte, wenn es innen in ihm zu ruetteln begann. Dann war der Ausdruck dieser Haende so unerbittlich und streng, dass ich alle Hoffnung in seinen Willen setzte, der gross sein musste. Aber was war da ein Wille. Der Augenblick musste kommen, da seine Kraft zu Ende war, er konnte nicht weit sein. Und ich, der ich hinter ihm herging mit stark schlagendem Herzen, ich legte mein bisschen Kraft zusammen wie Geld, und indem ich auf seine Haende sah, bat ich ihn, er moechte nehmen, wenn er es brauchte. Ich glaube, dass er es genommen hat; was konnte ich dafuer, dass es nicht mehr war.

Auf der Place St-Michel waren viele Fahrzeuge und hin und her eilende Leute, wir waren oft zwischen zwei Wagen und dann holte er Atem und liess sich ein wenig gehen, wie um auszuruhen, und ein wenig huepfte es und nickte ein wenig. Vielleicht war das die List, mit der die gefangene Krankheit ihn ueberwinden wollte. Der Wille war an zwei Stellen durchbrochen, und das Nachgeben hatte in den besessenen Muskeln einen leisen, lockenden Reiz zurueckgelassen und den zwingenden Zweitakt. Aber der Stock war noch an seinem Platz, und die Haende sahen boese und zornig aus; so betraten wir die Bruecke, und es ging. Es ging. Nun kam etwas Unsicheres in den Gang, nun lief er zwei Schritte, und nun stand er. Stand. Die linke Hand loeste sich leise vom Stock ab und hob sich so langsam empor, dass ich sie vor der Luft zittern sah; er schob den Hut ein wenig zurueck und strich sich ueber die Stirn. Er wandte ein wenig den Kopf, und sein Blick schwankte ueber Himmel, Haeuser und Wasser hin, ohne zu fassen, und dann gab er nach. Der Stock war fort, er spannte die Arme aus, als ob er auffliegen wollte, und es brach aus ihm aus wie eine Naturkraft und bog ihn vor und riss ihn zurueck und liess ihn nicken und neigen und schleuderte Tanzkraft aus ihm heraus unter die Menge. Denn schon waren viele Leute um ihn, und ich sah ihn nicht mehr. Was haette es fuer einen Sinn gehabt, noch irgendwohin zu gehen, ich war leer. Wie ein leeres Papier trieb ich an den Haeusern entlang, den Boulevard wieder hinauf.

Ein Briefentwurf.

Ich versuche es, Dir zu schreiben, obwohl es eigentlich nichts giebt nach einem notwendigen Abschied. Ich versuche es dennoch, ich glaube, ich muss es tun, weil ich die Heilige gesehen habe im Pantheon, die einsame, heilige Frau und das Dach und die Tuer und drin die Lampe mit dem bescheidnen Lichtkreis und drueben die schlafende Stadt und den Fluss und die Ferne im Mondschein. Die Heilige wacht ueber der schlafenden Stadt. Ich habe geweint. Ich habe geweint, weil das alles auf einmal so unerwartet da war. Ich habe davor geweint, ich wusste mir nicht zu helfen.

Ich bin in Paris, die es hoeren freuen sich, die meisten beneiden mich. Sie haben recht. Es ist eine grosse Stadt, gross, voll merkwuerdiger Versuchungen. Was mich betrifft, ich muss zugeben, dass ich ihnen in gewisser Beziehung erlegen bin. Ich glaube, es laesst sich nicht anders sagen. Ich bin diesen Versuchungen erlegen, und das hat gewisse Veraenderungen zur Folge gehabt, wenn nicht in meinem Charakter, so doch in meiner Weltanschauung, jedenfalls in meinem Leben. Eine vollkommen andere Auffassung aller Dinge hat sich unter diesen Einfluessen in mir herausgebildet, und es sind gewisse Unterschiede da, die mich von den Menschen mehr als alles Bisherige abtrennen. Eine veraenderte Welt. Ein neues Leben voll neuer Bedeutungen. Ich habe es augenblicklich etwas schwer, weil alles zu neu ist. Ich bin ein Anfaenger in meinen eigenen Verhaeltnissen.

Ob es nicht moeglich waere, einmal das Meer zu sehen?

Ja, aber denke nur, ich bildete mir ein, Du koenntest kommen. Haettest Du mir vielleicht sagen koennen, ob es einen Arzt giebt? Ich habe vergessen, mich danach zu erkundigen. Uebrigens brauche ich es jetzt nicht mehr.

Erinnerst Du Dich an Baudelaires unglaubliches Gedicht ’Une Charogne’? Es kann sein, dass ich es jetzt verstehe. Abgesehen von der letzten Strophe war er im Recht. Was sollte er tun, da ihm das widerfuhr? Es war seine Aufgabe, in diesem Schrecklichen, scheinbar nur Widerwaertigen das Seiende zu sehen, das unter allem Seienden gilt. Auswahl und Ablehnung giebt es nicht. Haeltst Du es fuer einen Zufall, dass Flaubert seinen Saint-Julien-l’Hospitalier geschrieben hat? Es kommt mir vor, als waere das das Entscheidende: ob einer es ueber sich bringt, sich zu dem Aussaetzigen zu legen und ihn zu erwaermen mit der Herzwaerme der Liebesnaechte, das kann nicht anders als gut ausgehen. Glaube nur nicht, dass ich hier an Enttaeuschungen leide, im Gegenteil. Es wundert mich manchmal, wie bereit ich alles Erwartete aufgebe fuer das Wirkliche, selbst wenn es arg ist.

Mein Gott, wenn etwas davon sich teilen liesse. Aber waere es dann, waere es dann? Nein, es ist nur um den Preis des Alleinseins.

Die Existenz des Entsetzlichen in jedem Bestandteil der Luft. Du atmest es ein mit Durchsichtigem; in dir aber schlaegt es sich nieder, wird hart, nimmt spitze, geometrische Formen an zwischen den Organen; denn alles, was sich an Qual und Grauen begeben hat auf den Richt plaetzen, in den Folterstuben, den Tollhaeusern, den Operationssaelen, unter den Brueckenboegen im Nachherbst: alles das ist von einer zaehen Unvergaenglichkeit, alles das besteht auf sich und haengt, eifersuechtig auf alles Seiende, an seiner schrecklichen Wirklichkeit. Die Menschen moechten vieles davon vergessen duerfen; ihr Schlaf feilt sanft ueber solche Furchen im Gehirn, aber Traeume draengen ihn ab und ziehen die Zeichnungen nach. Und sie wachen auf und keuchen und lassen einer Kerze Schein sich aufloesen in der Finsternis und trinken, wie gezuckertes Wasser, die halbhelle Beruhigung. Aber, ach, auf welcher Kante haelt sich diese Sicherheit. Nur eine geringste Wendung, und schon wieder steht der Blick ueber Bekanntes und Freundliches hinaus, und der eben noch so troestliche Kontur wird deutlicher als ein Rand von Grauen. Huete dich vor dem Licht, das den Raum hohler macht; sieh dich nicht um, ob nicht vielleicht ein Schatten hinter deinem Aufsitzen aufsteht wie dein Herr. Besser vielleicht, du waerest in der Dunkelheit geblieben und dein unabgegrenztes Herz haette versucht, all des Ununterscheidbaren schweres Herz zu sein. Nun hast du dich zusammengenommen in dich, siehst dich vor dir aufhoeren in deinen Haenden, ziehst von Zeit zu Zeit mit einer ungenauen Bewegung dein Gesicht nach. Und in dir ist beinah kein Raum; und fast stillt es dich, dass in dieser Engheit in dir unmoeglich sehr Grosses sich aufhalten kann; dass auch das Unerhoerte binnen werden muss und sich beschraenken den Verhaeltnissen nach. Aber draussen, draussen ist es ohne Absehen; und wenn es da draussen steigt, so fuellt es sich auch in dir, nicht in den Gefaessen, die teilweise in deiner Macht sind, oder im Phlegma deiner gleichmuetigen Organe: im Kapillaren nimmt es zu, roehrig aufwaerts gesaugt in die aeussersten Veraestelungen deines zahlloszwei gigen Daseins. Dort hebt es sich, dort uebersteigt es dich, kommt hoeher als dein Atem, auf den du dich hinauffluechtest wie auf deine letzte Stelle. Ach, und wohin dann, wohin dann? Dein Herz treibt dich aus dir hinaus, dein Herz ist hinter dir her, und du stehst fast schon ausser dir und kannst nicht mehr zurueck. Wie ein Kaefer, auf den man tritt, so quillst du aus dir hinaus, und dein bisschen obere Haerte und Anpassung ist ohne Sinn.

O Nacht ohne Gegenstaende. O stumpfes Fenster hinaus, O sorgsam verschlossene Tueren; Einrichtungen von alters her, uebernommen, beglaubigt, nie ganz verstanden. O Stille im Stiegenhaus. Stille aus den Nebenzimmern, Stille hoch oben an der Decke. O Mutter: o du Einzige, die alle diese Stille verstellt hat, einst in der Kindheit. Die sie auf sich nimmt, sagt: erschrick nicht, ich bin es. Die den Mut hat, ganz in der Nacht diese Stille zu sein fuer das, was sich fuerchtet, was verkommt vor Furcht. Du zuendest ein Licht an, und schon das Geraeusch bist du. Und du haelst es vor dich und sagst: ich bin es, erschrick nicht. Und du stellst es hin, langsam, und es ist kein Zweifel: du bist es, du bist das Licht um die gewohnten herzlichen Dinge, die ohne Hintersinn da sind, gut, einfaeltig, eindeutig. Und wenn es unruhigt in der Wand irgendwo, oder einen Schritt macht in den Dielen: so laechelst du nur, laechelst, laechelst durchsichtig auf hellem Grund in das bangsame Gesicht, das an dir forscht, als waerst du eins und unterm Geheimnis mit jedem Halblaut, abgeredet mit ihm und einverstanden. Gleicht eine Macht deiner Macht in der irdischen Herrschaft? Sieh, Koenige liegen und starren, und der Geschichtenerzaehler kann sie nicht ablenken. An den seligen Bruesten ihrer Lieblingin ueberkriecht sie das Grauen und macht sie schlottrig und lustlos. Du aber kommst und haeltst das Ungeheuere hinter dir und bist ganz und gar vor ihm; nicht wie ein Vorhang, den es da oder da aufschlagen kann. Nein, als haettest du es ueberholt auf den Ruf hin, der dich bedurfte. Als waerest du weit allem zuvorgekommen, was kommen kann, und haettest im Ruecken nur dein Hereilen, deinen ewigen Weg, den Flug deiner Liebe.

Der Mouleur, an dem ich jeden Tag vorueberkomme, hat zwei Masken neben seiner Tuer ausgehaengt. Das Gesicht der jungen Ertraenkten, das man in der Morgue abnahm, weil es schoen war, weil es laechelte, weil es so taeuschend laechelte, als wuesste es. Und darunter sein wissendes Gesicht. Diesen harten Knoten aus fest zusammengezogenen Sinnen. Diese unerbittliche Selbstverdichtung fortwaehrend ausdampfen wollender Musik. Das Antlitz dessen, dem ein Gott das Gehoer verschlossen hat, damit es keine Klaenge gaebe, ausser seinen. Damit er nicht beirrt wuerde durch das Truebe und Hinfaellige der Geraeusche. Er, in dem ihre Klarheit und Dauer war; damit nur die tonlosen Sinne ihm Welt eintruegen, lautlos, eine gespannte, wartende Welt, unfertig, vor der Erschaffung des Klanges.

Weltvollendender: wie, was als Regen faellt ueber die Erde und an die Gewaesser, nachlaessig niederfaellt, zufaellig fallend,—unsichtbarer und froh von Gesetz wieder aufstehend aus allem und steigt und schwebt und die Himmel bildet: so erhob sich aus dir der Aufstieg unserer Niederschlaege und umwoelbte die Welt mit Musik.

Deine Musik: dass sie haette um die Welt sein duerfen; nicht um uns. Dass man dir ein Hammerklavier erbaut haette in der Thebaïs; und ein Engel haette dich hingefuehrt vor das einsame Instrument, durch die Reihen der Wuestengebirge, in denen Koenige ruhen und Hetaeren und Anachoreten. Und er haette sich hoch geworfen und fort, aengstlich, dass du begaennest.

Und dann haettest du ausgestroemt, Stroemender, ungehoert; an das All zurueckgebend, was nur das All ertraegt. Die Beduinen waeren in der Ferne vorbeigejagt, aberglaeubisch; die Kaufleute aber haetten sich hingeworfen am Rande deiner Musik, als waerst du der Sturm. Einzelne Loewen nur haetten dich weit bei Nacht umkreist, erschrocken vor sich selbst, von ihrem bewegten Blute bedroht.

Denn wer holt dich jetzt aus den Ohren zurueck, die luestern sind? Wer treibt sie aus den Musiksaelen, die Kaeuflichen mit dem unfruchtbaren Gehoer, das hurt und niemals empfaengt? da strahlt Samen aus, und sie halten sich unter wie Dirnen und spielen damit, oder er faellt, waehrend sie daliegen in ihren ungetanen Befriedigungen, wie Samen Onans zwischen sie alle. Wo aber, Herr, ein Jungfraeulicher unbeschlafenen Ohrs laege bei deinem Klang: er stuerbe an Seligkeit oder er truege Unendliches aus und sein befruchtetes Hirn muesste bersten an lauter Geburt.

Ich unterschaetze es nicht. Ich weiss, es gehoert Mut dazu. Aber nehmen wir fuer einen Augenblick an, es haette ihn einer, diesen Courage de luxe, ihnen nachzugehen, um dann fuer immer (denn wer koennte das wieder vergessen oder verwechseln?) zu wissen, wo sie hernach hineinkriechen und was sie den vielen uebrigen Tag beginnen und ob sie schlafen bei Nacht. Dies ganz besonders waere festzustellen: ob sie schlafen. Aber mit dem Mut ist es noch nicht getan. Denn sie kommen und gehen nicht wie die uebrigen Leute, denen zu folgen eine Kleinigkeit waere. Sie sind da und wieder fort, hingestellt und weggenommen wie Bleisoldaten. Es sind ein wenig abgelegene Stellen, wo man sie findet, aber durchaus nicht versteckte. Die Buesche treten zurueck, der Weg wendet sich ein wenig um den Rasenplatz herum: da stehen sie und haben eine Menge durchsichtigen Raumes um sich, als ob sie unter einem Glassturz stuenden. Du koenntest sie fuer nachdenkliche Spaziergaenger halten, diese unscheinbaren Maenner von kleiner, in jeder Beziehung bescheidener Gestalt. Aber du irrst. Siehst du die linke Hand, wie sie nach etwas greift in der schiefen Tasche des alten Ueberziehers; wie sie es findet und herausholt und den kleinen Gegenstand linkisch und auffaellig in die Luft haelt? Es dauert keine Minute, so sind zwei, drei Voegel da, Spatzen, die neugierig heranhuepfen. Und wenn es dem Manne gelingt, ihrer sehr genauen Auffassung von Unbeweglichkeit zu entsprechen, so ist kein Grund, warum sie nicht noch naeher kommen sollen. Und schliesslich steigt der erste und schwirrt eine Weile nervoes in der Hoehe jener Hand, die (weiss Gott) ein kleines Stueck abgenutzten suessen Brotes mit anspruchslosen, ausdruecklich verzichtenden Fingern hinbietet. Und je mehr Menschen sich um ihn sammeln, in entsprechendem Abstand natuerlich, desto weniger hat er mit ihnen gemein. Wie ein Leuchter steht er da, der ausbrennt, und leuchtet mit dem Rest von Docht und ist ganz warm davon und hat sich nie geruehrt. Und wie er lockt, wie er anlockt, das koennen die vielen, kleinen, dummen Voegel gar nicht beurteilen. Wenn die Zuschauer nicht waeren und man liesse ihn lange genug dastehen, ich bin sicher, dass auf einmal ein Engel kaeme und ueberwaende sich und aesse den alten, suesslichen Bissen aus der verkuemmerten Hand. Dem sind nun, wie immer, die Leute im Wege. Sie sorgen dafuer, dass nur Voegel kommen; sie finden das reichlich, und sie behaupten, er erwarte sich nichts anderes. Was sollte sie auch erwarten, diese alte, verregnete Puppe, die ein wenig schraeg in der Erde steckt wie die Schiffsfiguren in den kleinen Gaerten zuhause; kommt auch bei ihr diese Haltung davon her, dass sie einmal irgendwo vorne gestanden hat auf ihrem Leben, wo die Bewegung am groessten ist? Ist sie nun so verwaschen, weil sie einmal bunt war? Willst du sie fragen?

Nur die Frauen frag nichts, wenn du eine fuettern siehst. Denen koennte man sogar folgen; sie tun es so im Vorbeigehen; es waere ein Leichtes. Aber lass sie. Sie wissen nicht, wie es kam. Sie haben auf einmal eine Menge Brot in ihrem Handsack, und sie halten grosse Stuecke hinaus aus ihrer duennen Mantille, Stuecke, die ein bisschen gekaut sind und feucht. Das tut ihnen wohl, dass ihr Speichel ein wenig in die Welt kommt, dass die kleinen Voegel mit diesem Beigeschmack herumfliegen, wenn sie ihn natuerlich auch gleich wieder vergessen.

Da sass ich an deinen Buechern, Eigensinniger, und versuchte sie zu meinen wie die andern, die dich nicht beisammen lassen und sich ihren Anteil genommen haben, befriedigt. Denn da begriff ich noch nicht den Ruhm, diesen oeffentlichen Abbruch eines Werdenden, in dessen Bauplatz die Menge einbricht, ihm die Steine verschiebend.

Junger Mensch irgendwo, in dem etwas aufsteigt, was ihn erschauern macht, nuetz es, dass dich keiner kennt. Und wenn sie dir widersprechen, die dich fuer nichts nehmen, und wenn sie dich ganz aufgeben, die, mit denen du umgehst, und wenn sie dich ausrotten wollen, um deiner lieben Gedanken willen, was ist diese deutliche Gefahr, die dich zusammenhaelt in dir, gegen die listige Feindschaft spaeter des Ruhms, die dich unschaedlich macht, indem sie dich ausstreut.

Bitte keinen, dass er von dir spraeche, nicht einmal veraechtlich. Und wenn die Zeit geht und du merkst, wie dein Name herumkommt unter den Leuten, nimm ihn nicht ernster als alles, was du in ihrem Munde findest. Denk: er ist schlecht geworden, und tu ihn ab. Nimm einen andern an, irgendeinen, damit Gott dich rufen kann in der Nacht. Und verbirg ihn vor allen. Du Einsamster, Abseitiger, wie haben sie dich eingeholt auf deinem Ruhm. Wie lang ist es her, da waren sie wider dich von Grund aus, und jetzt gehen sie mit dir um, wie mit ihresgleichen. Und deine Worte fuehren sie mit sich in den Kaefigen ihres Duenkels und zeigen sie auf den Plaetzen und reizen sie ein wenig von ihrer Sicherheit aus. Alle deine schrecklichen Raubtiere. Da las ich dich erst, da sie mir ausbrachen und mich anfielen in meiner Wueste, die Verzweifelten. Verzweifelt, wie du selber warst am Schluss, du, dessen Bahn falsch eingezeichnet steht in allen Karten. Wie ein Sprung geht sie durch die Himmel, diese hoffnungslose Hyperbel deines Weges, die sich nur einmal heranbiegt an uns und sich entfernt voll Entsetzen. Was lag dir daran, ob eine Frau bleibt oder fortgeht und ob einen der Schwindel ergreift und einen der Wahnsinn und ob Tote lebendig sind und Lebendige scheintot: was lag dir daran? Dies alles war so natuerlich fuer dich; da gingst du durch, wie man durch einen Vorraum geht, und hieltst dich nicht auf. Aber dort weiltest du und warst gebueckt, wo unser Geschehen kocht und sich niederschlaegt und die Farbe veraendert, innen. Innerer als dort, wo je einer war; eine Tuer war dir aufgesprungen, und nun warst du bei den Kolben im Feuerschein. Dort, wohin du nie einen mitnahmst, Misstrauischer, dort sassest du und unterschiedest Uebergaenge. Und dort, weil das Aufzeigen dir im Blute war und nicht das Bilden oder das Sagen, dort fasstest du den ungeheuren Entschluss, dieses Winzige, das du selber zuerst nur durch Glaeser gewahrtest, ganz allein gleich so zu vergroessern, dass es vor Tausenden sei, riesig, vor allen. Dein Theater entstand. Du konntest nicht warten, dass dieses fast raumlose von den Jahrhunderten zu Tropfen zusammengepresste Leben von den anderen Kuensten gefunden und allmaehlich versichtbart werde fuer ein zelne, die sich nach und nach zusammenfinden zur Einsicht und die endlich verlangen, gemeinsam die erlauchten Geruechte bestaetigt zu sehen im Gleichnis der vor ihnen aufgeschlagenen Szene. Dies konntest du nicht abwarten, du warst da, du musstest das kaum Messbare: ein Gefuehl, das um einen halben Grad stieg, den Ausschlagswinkel eines von fast nichts beschwerten Willens, den du ablasest von ganz nah, die leichte Truebung in einem Tropfen Sehnsucht und dieses Nichts von Farbenwechsel in einem Atom von Zutrauen: dieses musstest du feststellen und aufbehalten; denn in solchen Vorgaengen war jetzt das Leben, unser Leben, das in uns hineingeglitten war, das sich nach innen zurueckgezogen hatte, so tief, dass es kaum noch Vermutungen darueber gab.

So wie du warst, auf das Zeigen angelegt, ein zeitlos tragischer Dichter, musstest du dieses Kapillare mit einem Schlag umsetzen in die ueberzeugendsten Gebaerden, in die vorhandensten Dinge. Da gingst du an die beispiellose Gewalttat deines Werkes, das immer ungeduldiger, immer verzweifelter unter dem Sichtbaren nach den Aequivalenten suchte fuer das innen Gesehene. Da war ein Kaninchen, ein Bodenraum, ein Saal, in dem einer auf und nieder geht: da war ein Glasklirren im Nebenzimmer, ein Brand vor den Fenstern, da war die Sonne. Da war eine Kirche und ein Felsental, das einer Kirche glich. Aber das reichte nicht aus; schliesslich mussten die Tuerme herein und die ganzen Gebirge; und die Lawinen, die die Landschaften begraben, verschuetteten die mit Greifbarem ueberladene Buehne um des Unfasslichen willen. Da konntst du nicht mehr. Die beiden Enden, die du zusammengebogen hattest, schnellten aus einander; deine wahnsinnige Kraft entsprang aus dem elastischen Stab, und dein Werk war wie nicht. Wer begriffe es sonst, dass du zum Schluss nicht vom Fenster fortwolltest, eigensinnig wie du immer warst. Die Voruebergehenden wolltest du sehen; denn es war dir der Gedanke gekommen, ob man nicht eines Tages etwas machen koennte aus ihnen, wenn man sich entschloesse anzufangen.

Damals zuerst fiel es mir auf, dass man von einer Frau nichts sagen koenne; ich merkte, wenn sie von ihr erzaehlten, wie sie sie aussparten, wie sie die anderen nannten und beschrieben, die Umgebungen, die Oertlichkeiten, die Gegenstaende bis an eine bestimmte Stelle heran, wo das alles aufhoerte, sanft und gleichsam vorsichtig aufhoerte mit dem leichten, niemals nachgezogenen Kontur, der sie einschloss. Wie war sie? fragte ich dann. "Blond, ungefaehr wie du", sagten sie und zaehlten allerhand auf, was sie sonst noch wussten; aber darueber wurde sie wieder ganz ungenau, und ich konnte mir nichts mehr vorstellen. Sehen eigentlich konnte ich sie nur, wenn Maman mir die Geschichte erzaehlte, die ich immer wieder verlangte—. —Dann pflegte sie jedesmal, wenn sie zu der Szene mit dem Hunde kam, die Augen zu schliessen und das ganz verschlossene, aber ueberall durchscheinende Gesicht irgendwie instaendig zwischen ihre beiden Haende zu halten, die es kalt an den Schlaefen beruehrten. "Ich hab es gesehen, Malte", beschwor sie: "Ich hab es gesehen." Das war schon in ihren letzten Jahren, da ich dies von ihr gehoert habe. In der Zeit, wo sie niemanden mehr sehen wollte und wo sie immer, auch auf Reisen, das kleine, dichte, silberne Sieb bei sich hatte, durch das sie alle Getraenke seihte. Speisen von fester Form nahm sie nie mehr zu sich, es sei denn etwas Biskuit oder Brot, das sie, wenn sie allein war, zerbroeckelte und Kruemel fuer Kruemel ass, wie Kinder Kruemel essen. Ihre Angst vor Nadeln beherrschte sie damals schon voellig. Zu den anderen sagte sie nur, um sich zu entschuldigen: "Ich vertrage rein nichts mehr, aber es muss euch nicht stoeren, ich befinde mich ausgezeichnet dabei." Zu mir aber konnte sie sich ploetzlich hinwenden (denn ich war schon ein bisschen erwachsen) und mit einem Laecheln, das sie sehr anstrengte, sagen: "Was es doch fuer viele Nadeln giebt, Malte, und wo sie ueberall herumliegen, und wenn man bedenkt, wie leicht sie herausfallen..." Sie hielt darauf, es recht scherzend zu sagen; aber das Entsetzen schuettelte sie bei dem Gedanken an alle die schlecht befestigten Nadeln, die jeden Augenblick irgendwo hineinfallen konnten.

Wenn sie aber von Ingeborg erzaehlte, dann konnte ihr nichts geschehen; dann schonte sie sich nicht; dann sprach sie lauter, dann lachte sie in der Erinnerung an Ingeborgs Lachen, dann sollte man sehen, wie schoen Ingeborg gewesen war. "Sie machte uns alle froh", sagte sie, "deinen Vater auch, Malte, buchstaeblich froh. Aber dann, als es hiess, dass sie sterben wuerde, obwohl sie doch nur ein wenig krank schien, und wir gingen alle herum und verbargen es, da setzte sie sich einmal im Bette auf und sagte so vor sich hin, wie einer, der hoeren will, wie etwas klingt: ’Ihr muesst euch nicht so zusammennehmen; wir wissen es alle, und ich kann euch beruhigen, es ist gut so wie es kommt, ich mag nicht mehr.’ Stell dir vor, sie sagte: ’Ich mag nicht mehr’; sie, die uns alle froh machte. Ob du das einmal verstehen wirst, wenn du gross bist, Malte? Denk daran spaeter, vielleicht faellt es dir ein. Es waere ganz gut, wenn es jemanden gaebe, der solche Sachen versteht."

’Solche Sachen’ beschaeftigten Maman, wenn sie allein war, und sie war immer allein diese letzten Jahre.

"Ich werde ja nie darauf kommen, Malte", sagte sie manchmal mit ihrem eigentuemlich kuehnen Laecheln, das von niemandem gesehen sein wollte und seinen Zweck ganz erfuellte, indem es gelaechelt ward. "Aber dass es keinen reizt, das herauszufinden; wenn ich ein Mann waere, ja gerade wenn ich ein Mann waere, wuerde ich darueber nachdenken, richtig der Reihe und Ordnung nach und von Anfang an. Denn einen Anfang muss es doch geben, und wenn man ihn zu fassen bekaeme, das waere immer schon etwas. Ach Malte, wir gehen so hin, und mir kommt vor, dass alle zerstreut sind und beschaeftigt und nicht recht achtgeben, wenn wir hingehen. Als ob eine Sternschnuppe fiele und es sieht sie keiner und keiner hat sich etwas gewuenscht. Vergiss nie, dir etwas zu wuenschen, Malte. Wuenschen, das soll man nicht aufgeben. Ich glaube, es giebt keine Erfuellung, aber es giebt Wuensche, die lange vorhalten, das ganze Leben lang, so dass man die Erfuellung doch gar nicht abwarten koennte." Maman hatte Ingeborgs kleinen Sekretaer hinauf in ihr Zimmer stellen lassen, davor fand ich sie oft, denn ich durfte ohne weiteres bei ihr eintreten. Mein Schritt verging voellig in dem Teppich, aber sie fuehlte mich und hielt mir eine ihrer Haende ueber die andere Schulter hin. Diese Hand war ganz ohne Gewicht, und sie kuesste sich fast wie das elfenbeinerne Kruzifix, das man mir abends vor dem Einschlafen reichte. An diesem niederen Schreibschrank, der mit einer Platte sich vor ihr aufschlug, sass sie wie an einem Instrument. "Es ist so viel Sonne drin", sagte sie, und wirklich, das Innere war merkwuerdig hell, von altem, gelbem Lack, auf dem Blumen gemalt waren, immer eine rote und eine blaue. Und wo drei nebeneinanderstanden, gab es eine violette zwischen ihnen, die die beiden anderen trennte. Diese Farben und das Gruen des schmalen, waagerechten Rankenwerks waren ebenso verdunkelt in sich, wie der Grund strahlend war, ohne eigentlich klar zu sein. Das ergab ein seltsam gedaempftes Verhaeltnis von Toenen, die in innerlichen gegenseitigen Beziehungen standen, ohne sich ueber sie auszusprechen.

Maman zog die kleinen Laden heraus, die alle leer waren.

"Ach, Rosen", sagte sie und hielt sich ein wenig vor in den trueben Geruch hinein, der nicht alle wurde. Sie hatte dabei immer die Vorstellung, es koennte sich ploetzlich noch etwas finden in einem geheimen Fach, an das niemand gedacht hatte und das nur dem Druck irgendeiner versteckten Feder nachgab. "Auf einmal springt es vor, du sollst sehen", sagte sie ernst und aengstlich und zog eilig an allen Laden. Was aber wirklich an Papieren in den Faechern zurueckgeblieben war, das hatte sie sorgfaeltig zusammengelegt und eingeschlossen, ohne es zu lesen. "Ich verstuende es doch nicht, Malte, es waere sicher zu schwer fuer mich." Sie hatte die Ueberzeugung, dass alles zu kompliziert fuer sie sei. "Es giebt keine Klassen im Leben fuer Anfaenger, es ist immer gleich das Schwierigste, was von einem verlangt wird." Man versicherte mir, dass sie erst seit dem schrecklichen Tode ihrer Schwester so geworden sei, der Graefin Oellegaard Skeel, die verbrannte, da sie sich vor einem Balle am Leuchterspiegel die Blumen im Haar anders anstecken wollte. Aber in letzter Zeit schien ihr doch Ingeborg das, was am schwersten zu begreifen war.

Es war mitten im Sommer, am Donnerstag nach Ingeborgs Beisetzung. Von dem Platze auf der Terrasse, wo der Tee genommen wurde, konnte man den Giebel des Erbbegraebnisses sehen zwischen den riesigen Ulmen hin. Es war so gedeckt worden, als ob nie eine Person mehr an diesem Tisch gesessen haette, und wir sassen auch alle recht ausgebreitet herum. Und jeder hatte etwas mitgebracht, ein Buch oder einen Arbeitskorb, so dass wir sogar ein wenig beengt waren. Abelone (Mamans juengste Schwester) verteilte den Tee, und alle waren beschaeftigt, etwas herumzureichen, nur dein Grossvater sah von seinem Sessel aus nach dem Hause hin. Es war die Stunde, da man die Post erwartete, und es fuegte sich meistens so, dass Ingeborg sie brachte, die mit den Anordnungen fuer das Essen laenger drin zurueckgehalten war. In den Wochen ihrer Krankheit hatten wir nun reichlich Zeit gehabt, uns ihres Kommens zu entwoehnen; denn wir wussten ja, dass sie nicht kommen koenne. Aber an diesem Nachmittag, Malte, da sie wirklich nicht mehr kommen konnte—: da kam sie. Vielleicht war es unsere Schuld; vielleicht haben wir sie gerufen. Denn ich erinnere mich, dass ich auf einmal dasass und angestrengt war, mich zu besinnen, was denn eigentlich nun anders sei. Es war mir ploetzlich nicht moeglich zu sagen, was; ich hatte es voellig vergessen. Ich blickte auf und sah alle andern dem Hause zugewendet, nicht etwa auf eine besondere, auffaellige Weise, sondern so recht ruhig und alltaeglich in ihrer Erwartung. Und da war ich daran—(mir wird ganz kalt, Malte, wenn ich es denke) aber, Gott behuet mich, ich war daran zu sagen: "Wo bleibt nur—" Da schoss schon Cavalier, wie er immer tat, unter dem Tisch hervor und lief ihr entgegen. Ich hab es gesehen, Malte, ich hab es gesehen. Er lief ihr entgegen, obwohl sie nicht kam; fuer ihn kam sie. Wir begriffen, dass er ihr entgegenlief. Zweimal sah er sich nach uns um, als ob er fragte. Dann raste er auf sie zu, wie immer, Malte, genau wie immer, und erreichte sie; denn er begann rund herum zu springen, Malte, um etwas, was nicht da war, und dann hinauf an ihr, um sie zu lecken, gerade hinauf. Wir hoerten ihn winseln vor Freude, und wie er so in die Hoehe schnellte, mehrmals rasch hintereinander, haette man wirklich meinen koennen, er verdecke sie uns mit seinen Spruengen. Aber da heulte es auf einmal, und er drehte sich von seinem eigenen Schwunge in der Luft um und stuerzte zurueck, merkwuerdig ungeschickt, und lag ganz eigentuemlich flach da und ruehrte sich nicht. Von der andern Seite trat der Diener aus dem Hause mit den Briefen. Er zoegerte eine Weile; offenbar war es nicht ganz leicht, auf unsere Gesichter zuzugehen. Und dein Vater winkte ihm auch schon, zu bleiben. Dein Vater, Malte, liebte keine Tiere; aber nun ging er doch hin, langsam wie mir schien, und bueckte sich ueber den Hund. Er sagte etwas zu dem Diener, irgend etwas Kurzes, Einsilbiges. Ich sah, wie der Diener hinzusprang, um Cavalier aufzuheben. Aber da nahm dein Vater selbst das Tier und ging damit, als wuesste er genau wohin, ins Haus hinein.

Einmal, als es ueber dieser Erzaehlung fast dunkel geworden war war ich nahe daran, Maman von der ’Hand’ zu erzaehlen: in diesem Augenblick haette ich es gekonnt. Ich atmete schon auf, um anzufangen, aber da fiel mir ein, wie gut ich den Diener begriffen hatte, dass er nicht hatte kommen koennen auf ihre Gesichter zu. Und ich fuerchtete mich trotz der Dunkelheit vor Mamans Gesicht, wenn es sehen wuerde, was ich gesehen habe. Ich holte rasch noch einmal Atem, damit es den Anschein habe, als haette ich nichts anderes gewollt. Ein paar Jahre hernach, nach der merkwuerdigen Nacht in der Galerie auf Urnekloster, ging ich tagelang damit um, mich dem kleinen Erik anzuvertrauen. Aber er hatte sich nach unserem naechtlichen Gespraech wieder ganz vor mir zugeschlossen, er vermied mich; ich glaube, dass er mich verachtete. Und gerade deshalb wollte ich ihm von der ’Hand’ erzaehlen. Ich bildete mir ein, ich wuerde in seiner Meinung gewinnen (und das wuenschte ich dringend aus irgendeinem Grunde), wenn ich ihm begreiflich machen koennte, dass ich das wirklich erlebt hatte. Erik aber war so geschickt im Ausweichen, dass es nicht dazu kam. Und dann reisten wir ja auch gleich. So ist es, wunderlich genug, das erstemal, dass ich (und schliesslich auch nur mir selber) eine Begebenheit erzaehle, die nun weit zurueckliegt in meiner Kindheit.

Wie klein ich damals noch gewesen sein muss, sehe ich daran, dass ich auf dem Sessel kniete, um bequem auf den Tisch hinaufzureichen, auf dem ich zeichnete. Es war am Abend, im Winter, wenn ich nicht irre, in der Stadtwohnung. Der Tisch stand in meinem Zimmer, zwischen den Fenstern, und es war keine Lampe im Zimmer, als die, die auf meine Blaetter schien und auf Mademoiselles Buch; denn Mademoiselle sass neben mir, etwas zurueckgerueckt, und las. Sie war weit weg, wenn sie las, ich weiss nicht, ob sie im Buche war; sie konnte lesen, stundenlang, sie blaetterte selten um, und ich hatte den Eindruck, als wuerden die Seiten immer voller unter ihr, als schaute sie Worte hinzu, bestimmte Worte, die sie noetig hatte und die nicht da waren. Das kam mir so vor, waehrend ich zeichnete. Ich zeichnete langsam, ohne sehr entschiedene Absicht, und sah alles, wenn ich nicht weiter wusste, mit ein wenig nach rechts geneigtem Kopfe an; so fiel mir immer am raschesten ein, was noch fehlte. Es waren Offiziere zu Pferd, die in die Schlacht ritten, oder sie waren mitten drin, und das war viel einfacher, weil dann fast nur der Rauch zu machen war, der alles einhuellte. Maman freilich behauptet nun immer, dass es Inseln gewesen waren, was ich malte; Inseln mit grossen Baeumen und einem Schloss und einer Treppe und Blumen am Rand, die sich spiegeln sollten im Wasser. Aber ich glaube, das erfindet sie, oder es muss spaeter gewesen sein.

Es ist ausgemacht, dass ich an jenem Abend einen Ritter zeichnete, einen einzelnen, sehr deutlichen Ritter auf einem merkwuerdig bekleideten Pferd. Er wurde so bunt, dass ich oft die Stifte wechseln musste, aber vor allem kam doch der rote in Betracht, nach dem ich immer wieder griff. Nun hatte ich ihn noch einmal noetig; da rollte er (ich sehe ihn noch) quer ueber das beschienene Blatt an den Rand und fiel, ehe ichs verhindern konnte, an mir vorbei hinunter und war fort. Ich brauchte ihn wirklich dringend, und es war recht aergerlich, ihm nun nachzuklettern. Ungeschickt, wie ich war, kostete es mich allerhand Veranstaltungen, hinunterzukommen; meine Beine schienen mir viel zu lang, ich konnte sie nicht unter mir hervorziehen; die zu lange ein gehaltene knieende Stellung hatte meine Glieder dumpf gemacht; ich wusste nicht, was zu mir und was zum Sessel gehoerte. Endlich kam ich doch, etwas konfus, unten an und befand mich auf einem Fell, das sich unter dem Tisch bis gegen die Wand hinzog. Aber da ergab sich eine neue Schwierigkeit. Eingestellt auf die Helligkeit da oben und noch ganz begeistert fuer die Farben auf dem weissen Papier, vermochten meine Augen nicht das geringste unter dem Tisch zu erkennen, wo mir das Schwarze so zugeschlossen schien, dass ich bange war, daran zu stossen. Ich verliess mich also auf mein Gefuehl und kaemmte, knieend und auf die linke gestuetzt, mit der andern Hand in dem kuehlen, langhaarigen Teppich herum, der sich recht vertraulich anfuehlte; nur dass kein Bleistift zu spueren war. Ich bildete mir ein, eine Menge Zeit zu verlieren, und wollte eben schon Mademoiselle anrufen und sie bitten, mir die Lampe zu halten, als ich merkte, dass fuer meine unwillkuerlich angestrengten Augen das Dunkel nach und nach durchsichtiger wurde. Ich konnte schon hinten die Wand unterscheiden, die mit einer hellen Leiste abschloss; ich orientierte mich ueber die Beine des Tisches; ich erkannte vor allem meine eigene, ausgespreizte Hand, die sich ganz allein, ein bisschen wie ein Wassertier, da unten bewegte und den Grund untersuchte. Ich sah ihr, weiss ich noch, fast neugierig zu; es kam mir vor, als koennte sie Dinge, die ich sie nicht gelehrt hatte, wie sie da unten so eigenmaechtig herumtastete mit Bewegungen, die ich nie an ihr beobachtet hatte. Ich verfolgte sie, wie sie vordrang, es interessierte mich, ich war auf allerhand vorbereitet. Aber wie haette ich darauf gefasst sein sollen, dass ihr mit einem Male aus der Wand eine andere Hand entgegenkam, eine groessere, ungewoehnlich magere Hand, wie ich noch nie eine gesehen hatte. Sie suchte in aehnlicher Weise von der anderen Seite her, und die beiden gespreizten Haende bewegten sich blind aufeinander zu. Meine Neugierde war noch nicht aufgebraucht, aber ploetzlich war sie zu Ende, und es war nur Grauen da. Ich fuehlte, dass die eine von den Haenden mir gehoerte und dass sie sich da in etwas einliess, was nicht wieder gutzumachen war. Mit allem Recht, das ich auf sie hatte, hielt ich sie an und zog sie flach und langsam zurueck, indem ich die andere nicht aus den Augen liess, die weitersuchte. Ich begriff, dass sie es nicht aufgeben wuerde, ich kann nicht sagen, wie ich wieder hinaufkam. Ich sass ganz tief im Sessel, die Zaehne schlugen mir aufeinander, und ich hatte so wenig Blut im Gesicht, dass mir schien, es waere kein Blau mehr in meinen Augen. Mademoiselle—, wollte ich sagen und konnte es nicht, aber da erschrak sie von selbst, sie warf ihr Buch hin und kniete sich neben den Sessel und rief meinen Namen; ich glaube, dass sie mich ruettelte. Aber ich war ganz bei Bewusstsein. Ich schluckte ein paarmal; denn nun wollte ich es erzaehlen.

Aber wie? Ich nahm mich unbeschreiblich zusammen, aber es war nicht auszudruecken, so dass es einer begriff. Gab es Worte fuer dieses Ereignis, so war ich zu klein, welche zu finden. Und ploetzlich ergriff mich die Angst, sie koennten doch, ueber mein Alter hinaus, auf einmal da sein, diese Worte, und es schien mir fuerchterlicher als alles, sie dann sagen zu muessen. Das Wirkliche da unten noch einmal durchzumachen, anders, abgewandelt, von Anfang an; zu hoeren, wie ich es zugebe, dazu hatte ich keine Kraft mehr. Es ist natuerlich Einbildung, wenn ich nun behaupte, ich haette in jener Zeit schon gefuehlt, dass da etwas in mein Leben gekommen sei, geradeaus in meines, womit ich allein wuerde herumgehen muessen, immer und immer. Ich sehe mich in meinem kleinen Gitterbett liegen und nicht schlafen und irgendwie ungenau voraussehen, dass so das Leben sein wuerde: voll lauter besonderer Dinge, die nur fuer Einen gemeint sind und die sich nicht sagen lassen. Sicher ist, dass sich nach und nach ein trauriger und schwerer Stolz in mir erhob. Ich stellte mir vor, wie man herumgehen wuerde, voll von Innerem und schweigsam. Ich empfand eine ungestueme Sympathie fuer die Erwachsenen; ich bewunderte sie, und ich nahm mir vor, ihnen zu sagen, dass ich sie bewunderte. Ich nahm mir vor, es Mademoiselle zu sagen bei der naechsten Gelegenheit.

Und dann kam eine von diesen Krankheiten, die darauf ausgingen, mir zu beweisen, dass dies nicht das erste eigene Erlebnis war. Das Fieber wuehlte in mir und holte von ganz unten Erfahrungen, Bilder, Tatsachen heraus, von denen ich nicht gewusst hatte; ich lag da, ueberhaeuft mit mir, und wartete auf den Augenblick, da mir befohlen wuerde, dies alles wieder in mich hineinzuschichten, ordentlich, der Reihe nach. Ich begann, aber es wuchs mir unter den Haenden, es straeubte sich, es war viel zu viel. Dann packte mich die Wut, und ich warf alles in Haufen in mich hinein und presste es zusammen; aber ich ging nicht wieder darueber zu. Und da schrie ich, halb offen wie ich war, schrie ich und schrie. Und wenn ich anfing hinauszusehen aus mir, so standen sie seit lange um mein Bett und hielten mir die Haende, und eine Kerze war da, und ihre grossen Schatten ruehrten sich hinter ihnen. Und mein Vater befahl mir, zu sagen, was es gaebe. Es war ein freundlicher, gedaempfter Befehl, aber ein Befehl war es immerhin. Und er wurde ungeduldig, wenn ich nicht antwortete.

Maman kam nie in der Nacht—, oder doch, einmal kam sie. Ich hatte geschrieen und geschrieen, und Mademoiselle war gekommen und Sieversen, die Haushaelterin, und Georg, der Kutscher; aber das hatte nichts genutzt. Und da hatten sie endlich den Wagen nach den Eltern geschickt, die auf einem grossen Balle waren, ich glaube beim Kronprinzen. Und auf einmal hoerte ich ihn hereinfahren in den Hof, und ich wurde still, sass und sah nach der Tuer. Und da rauschte es ein wenig in den anderen Zimmern, und Maman kam herein in der grossen Hofrobe, die sie gar nicht in acht nahm, und lief beinah und liess ihren weissen Pelz hinter sich fallen und nahm mich in die blossen Arme. Und ich befuehlte, erstaunt und entzueckt wie nie, ihr Haar und ihr kleines, gepflegtes Gesicht und die kalten Steine an ihren Ohren und die Seide am Rand ihrer Schultern, die nach Blumen dufteten. Und wir blieben so und weinten zaertlich und kuessten uns, bis wir fuehlten, dass der Vater da war und dass wir uns trennen mussten. "Er hat hohes Fieber", hoerte ich Maman schuechtern sagen, und der Vater griff nach meiner Hand und zaehlte den Puls. Er war in der Jaegermeisteruniform mit dem schoenen, breiten, gewaesserten blauen Band des Elefanten. "Was fuer ein Unsinn, uns zu rufen", sagte er ins Zimmer hinein, ohne mich anzusehen. Sie hatten versprochen, zurueckzukehren, wenn es nichts Ernstliches waere. Und Ernstliches war es ja nichts. Auf meiner Decke aber fand ich Mamans Tanzkarte und weisse Kamelien, die ich noch nie gesehen hatte und die ich mir auf die Augen legte, als ich merkte, wie kuehl sie waren.

Aber was lang war, das waren die Nachmittage in solchen Krankheiten. Am Morgen nach der schlechten Nacht kam man immer in Schlaf, und wenn man erwachte und meinte, nun waere es wieder frueh, so war es Nachmittag und blieb Nachmittag und hoerte nicht auf Nachtmittag zu sein. Da lag man so in dem aufgeraeumten Bett und wuchs vielleicht ein wenig in den Gelenken und war viel zu muede, um sich irgend etwas vorzustellen. Der Geschmack vom Apfelmus hielt lange vor, und das war schon alles moegliche, wenn man ihn irgendwie auslegte, unwillkuerlich, und die reinliche Saeure an Stelle von Gedanken in sich herumgehen liess. Spaeter, wenn die Kraefte wiederkamen, wurden die Kissen hinter einem aufgebaut, und man konnte aufsitzen und mit Soldaten spielen; aber sie fielen so leicht um auf dem schiefen Bett-Tisch und dann immer gleich die ganze Reihe; und man war doch noch nicht so ganz im Leben drin, um immer wieder von vorn anzufangen. Ploetzlich war es zuviel, und man bat, alles recht rasch fortzunehmen, und es tat wohl, wieder nur die zwei Haende zu sehen, ein bisschen weiter hin auf der leeren Decke.

Wenn Maman mal eine halbe Stunde kam und Maerchen vorlas (zum richtigen, langen Vorlesen war Sieversen da), so war das nicht um der Maerchen willen. Denn wir waren einig darueber, dass wir Maerchen nicht liebten. Wir hatten einen anderen Begriff vom Wunderbaren. Wir fanden, wenn alles mit natuerlichen Dingen zuginge, so waere das immer am wunderbarsten. Wir gaben nicht viel darauf, durch die Luft zu fliegen, die Feen enttaeuschten uns, und von den Verwandlungen in etwas anderes erwarteten wir uns nur eine sehr oberflaechliche Abwechslung. Aber wir lasen doch ein bisschen, um beschaeftigt auszusehen; es war uns nicht angenehm, wenn irgend jemand eintrat, erst erklaeren zu muessen, was wir gerade taten; besonders Vater gegenueber waren wir von einer uebertriebenen Deutlichkeit.

Nur wenn wir ganz sicher waren, nicht gestoert zu sein, und es daemmerte draussen, konnte es geschehen, dass wir uns Erinnerungen hingaben, gemeinsamen Erinnerungen, die uns beiden alt schienen und ueber die wir laechelten; denn wir waren beide gross geworden seither. Es fiel uns ein, dass es eine Zeit gab, wo Maman wuenschte, dass ich ein kleines Maedchen waere und nicht dieser Junge, der ich nun einmal war. Ich hatte das irgendwie erraten, und ich war auf den Gedanken gekommen, manchmal nachmittags an Mamans Tuere zu klopfen. Wenn sie dann fragte, wer da waere, so war ich gluecklich, draussen "Sophie" zu rufen, wobei ich meine kleine Stimme so zierlich machte, dass sie mich in der Kehle kitzelte. Und wenn ich dann eintrat (in dem kleinen, maedchenhaften Hauskleid, das ich ohnehin trug, mit ganz hinaufgerollten Armeln), so war ich einfach Sophie, Mamans kleine Sophie, die sich haeuslich beschaeftigte und der Maman einen Zopf flechten musste, damit keine Verwechslung stattfinde mit dem boesen Malte, wenn er je wiederkaeme. Erwuenscht war dies durchaus nicht; es war sowohl Maman wie Sophie angenehm, dass er fort war, und ihre Unterhaltungen (die Sophie immerzu mit der gleichen, hohen Stimme fortsetzte) bestanden meistens darin, dass sie Maltes Unarten aufzaehlten und sich ueber ihn beklagten. "Ach ja, dieser Malte", seufzte Maman. Und Sophie wusste eine Menge ueber die Schlechtigkeiten der Jungen im allgemeinen, als kennte sie einen ganzen Haufen.

"Ich moechte wohl wissen, was aus Sophie geworden ist", sagte Maman dann ploetzlich bei solchen Erinnerungen. Darueber konnte nun Malte freilich keine Auskunft geben. Aber wenn Maman vorschlug, dass sie gewiss gestorben sei, dann widersprach er eigensinnig und beschwor sie, dies nicht zu glauben, so wenig sich sonst auch beweisen liesse.

Wich das jetzt ueberdenke, kann ich mich wundern, dass ich aus der Welt dieser Fieber doch immer wieder ganz zurueckkam und mich hineinfand in das ueberaus gemeinsame Leben, wo jeder im Gefuehl unterstuetzt sein wollte, bei Bekanntem zu sein, und wo man sich so vorsichtig im Verstaendlichen vertrug. Da wurde etwas erwartet, und es kam oder es kam nicht, ein Drittes war ausgeschlossen. Da gab es Dinge, die traurig waren, einfuer allemal, es gab angenehme Dinge und eine ganze Menge nebensaechlicher. Wurde aber einem eine Freude bereitet, so war es eine Freude, und er hatte sich danach zu benehmen. Im Grunde war das alles sehr einfach, und wenn man es erst heraus hatte, so machte es sich wie von selbst. In diese verabredeten Grenzen ging denn auch alles hinein; die langen, gleichmaessigen Schulstunden, wenn draussen der Sommer war; die Spaziergaenge, von denen man franzoesisch erzaehlen musste; die Besuche, fuer die man hereingerufen wurde und die einen drollig fanden, wenn man gerade traurig war, und sich an einem belustigten wie an dem betruebten Gesicht gewisser Voegel, die kein anderes haben. Und die Geburtstage natuerlich, zu denen man Kinder eingeladen bekam, die man kaum kannte, verlegene Kinder, die einen verlegen machten, oder dreiste, die einem das Gesicht zerkratzten, und zerbrachen, was man gerade bekommen hatte, und die dann ploetzlich fortfuhren, wenn alles aus Kaesten und Laden herausgerissen war und zu Haufen lag. Wenn man aber allein spielte, wie immer,so konnte es doch geschehen, dass man diese vereinbarte, im ganzen harmlose Welt unversehens ueberschritt und unter Verhaeltnisse geriet, die voellig verschieden waren und gar nicht abzusehen. Mademoiselle hatte zuzeiten ihre Migraene, die ungemein heftig auftrat, und das waren die Tage, an denen ich schwer zu finden war. Ich weiss, der Kutscher wurde dann in den Park geschickt, wenn es Vater einfiel, nach mir zu fragen, und ich war nicht da. Ich konnte oben von einem der Gastzimmer aus sehen, wie er hinauslief und am Anfang der langen Allee nach mir rief. Diese Gastzimmer befanden sich, eines neben dem anderen, im Giebel von Ulsgaard und standen, da wir in dieser Zeit sehr selten Hausbesuch hatten, fast immer leer. Anschliessend an sie aber war jener grosse Eckraum, der eine so starke Verlockung fuer mich hatte. Es war nichts darin zu finden als eine alte Bueste, die, ich glaube, den Admiral Juel darstellte, aber die Waende waren ringsum mit tiefen grauen Wandschraenken verschalt, derart, dass sogar das Fenster erst ueber den Schraenken angebracht war in der leeren, geweissten Wand. Den Schluessel hatte ich an einer der Schranktueren entdeckt, und er schloss alle anderen. So hatte ich in kurzem alles unter sucht: die Kammerherrenfraecke aus dem achtzehnten Jahrhundert, die ganz kalt waren von den eingewebten Silberfaeden, und die schoen gestickten Westen dazu; die Trachten des Dannebrog—und des Elefantenordens, die man erst fuer Frauenkleider hielt, so reich und umstaendlich waren sie und so sanft im Futter anzufuehlen. Dann wirkliche Roben, die, von ihren Unterlagen auseinander gehalten, steif dahingen wie die Marionetten eines zu grossen Stueckes, das so endgueltig aus der Mode war, dass man ihre Koepfe anders verwendet hatte. Daneben aber waren Schraenke, in denen es dunkel war, wenn man sie aufmachte, dunkel von hochgeschlossenen Uniformen, die viel gebrauchter aussahen als alles das andere und die eigentlich wuenschten, nicht erhalten zu sein.

Niemand wird es verwunderlich finden, dass ich das alles herauszog und ins Licht neigte; dass ich das und jenes an mich hielt oder umnahm; dass ich ein Kostuem, welches etwa passen konnte, hastig anzog und darin, neugierig und aufgeregt, in das naechste Fremdenzimmer lief, vor den schmalen Pfeilerspiegel, der aus einzelnen ungleich gruenen Glasstuecken zusammengesetzt war. Ach, wie man zitterte, drin zu sein, und wie hinreissend war es, wenn man es war. Wenn da etwas aus dem Trueben heraus sich naeherte, langsamer als man selbst, denn der Spiegel glaubte es gleichsam nicht und wollte, schlaefrig wie er war, nicht gleich nachsprechen, was man ihm vorsagte. Aber schliesslich musste er natuerlich. Und nun war es etwas sehr Ueberraschendes, Fremdes, ganz anders, als man es sich gedacht hatte, etwas Ploetzliches, Selbstaendiges, das man rasch ueberblickte, um sich im naechsten Augenblick doch zu erkennen, nicht ohne eine gewisse Ironie, die um ein Haar das ganze Vergnuegen zerstoeren konnte. Wenn man aber sofort zu reden begann, sich zu verbeugen, wenn man sich zuwinkte, sich, fortwaehrend zurueckblickend, entfernte und dann entschlossen und angeregt wiederkam, so hatte man die Einbildung auf seiner Seite, solang es einem gefiel.

Ich lernte damals den Einfluss kennen, der unmittelbar von einer bestimmten Tracht ausgehen kann. Kaum hatte ich einen dieser Anzuege angelegt, musste ich mir eingestehen, dass er mich in seine Macht bekam; dass er mir meine Bewegungen, meinen Gesichtsausdruck, ja sogar meine Einfaelle vorschrieb; meine Hand, ueber die die Spitzenmanschette fiel und wieder fiel, war durchaus nicht meine gewoehnliche Hand; sie bewegte sich wie ein Akteur, ja, ich moechte sagen, sie sah sich selber zu, so uebertrieben das auch klingt. Diese Verstellungen gingen indessen nie so weit, dass ich mich mir selber entfremdet fuehlte; im Gegenteil, je vielfaeltiger ich mich abwandelte, desto ueberzeugter wurde ich von mir selbst. Ich wurde kuehner und kuehner; ich warf mich immer hoeher; denn meine Geschicklichkeit im Auffangen war ueber allen Zweifel. Ich merkte nicht die Versu chung in dieser rasch wachsenden Sicherheit. Zu meinem Verhaengnis fehlte nur noch, dass der letzte Schrank, den ich bisher meinte nicht oeffnen zu koennen, eines Tages nachgab, um mir, statt bestimmter Trachten, allerhand vages Maskenzeug auszuliefern, dessen phantastisches Ungefaehr mir das Blut in die Wangen trieb. Es laesst sich nicht aufzaehlen, was da alles war. Ausser einer Bautta, deren ich mich entsinne, gab es Dominos in verschiedenen Farben, es gab Frauenroecke, die hell laeuteten von den Muenzen, mit denen sie benaeht waren; es gab Pierrots, die mir albern vorkamen, und faltige, tuerkische Hosen und persische Muetzen, aus denen kleine Kampfersaeckchen herausglitten, und Kronreifen mit dummen, ausdruckslosen Steinen. Dies alles verachtete ich ein wenig; es war von so duerftiger Unwirklichkeit und hing so abgebalgt und armsaelig da und schlappte willenlos zusammen, wenn man es herauszerrte ans Licht. Was mich aber in eine Art von Rausch versetzte, das waren die geraeumigen Maentel, die Tuecher, die Schals, die Schleier, alle diese nachgiebigen, grossen, unverwendeten Stoffe, die weich und schmeichelnd waren oder so gleitend, dass man sie kaum zu fassen bekam, oder so leicht, dass sie wie ein Wind an einem vorbeiflogen, oder einfach schwer mit ihrer ganzen Last. In ihnen erst sah ich wirklich freie und unendlich bewegliche Moeglichkeiten: eine Sklavin zu sein, die verkauft wird, oder Jeanne d’Arc zu sein oder ein alter Koenig oder ein Zauberer; das alles hatte man jetzt in der Hand, besonders da auch Masken da waren, grosse drohende oder erstaunte Gesichter mit echten Baerten und vollen oder hochgezogenen Augenbrauen. Ich hatte nie Masken gesehen vorher, aber ich sah sofort ein, dass es Masken geben muesse. Ich musste lachen, als mir einfiel, dass wir einen Hund hatten, der sich ausnahm, als truege er eine. Ich stellte mir seine herzlichen Augen vor, die immer wie von hinten hineinsahen in das behaarte Gesicht. Ich lachte noch, waehrend ich mich verkleidete, und ich vergass darueber voellig, was ich eigentlich vorstellen wollte. Nun, es war neu und spannend, das erst nachtraeglich vor dem Spiegel zu entscheiden. Das Gesicht, das ich vorband, roch eigentuemlich hohl, es legte sich fest ueber meines, aber ich konnte bequem durchsehen, und ich waehlte erst, als die Maske schon sass, allerhand Tuecher, die ich in der Art eines Turbans um den Kopf wand, so dass der Rand der Maske, der unten in einen riesigen gelben Mantel hineinreichte, auch oben und seitlich fast ganz verdeckt war. Schliesslich, als ich nicht mehr konnte, hielt ich mich fuer hinreichend vermummt. Ich ergriff noch einen grossen Stab, den ich, soweit der Arm reichte, neben mir hergehen liess, und schleppte so, nicht ohne Muehe, aber, wie mir vorkam, voller Wuerde, in das Fremdenzimmer hinein auf den Spiegel zu.

Das war nun wirklich grossartig, ueber alle Erwartung. Der Spiegel gab es auch augenblicklich wieder, es war zu ueberzeugend. Es waere gar nicht noetig gewesen, sich viel zu bewegen; diese Erscheinung war vollkommen, auch wenn sie nichts tat. Aber es galt zu erfahren, was ich eigentlich sei, und so drehte ich mich ein wenig und erhob schliesslich die beiden Arme: grosse, gleichsam beschwoerende Bewegungen, das war, wie ich schon merkte, das einzig Richtige. Doch gerade in diesem feierlichen Moment vernahm ich, gedaempft durch meine Vermummung, ganz in meiner Naehe einen vielfach zusammengesetzten Laerm; sehr erschreckt, verlor ich das Wesen da drueben aus den Augen und war arg verstimmt, zu gewahren, dass ich einen kleinen, runden Tisch umgeworfen hatte mit weiss der Himmel was fuer, wahrscheinlich sehr zerbrechlichen Gegenstaenden. Ich bueckte mich so gut ich konnte und fand meine schlimmste Erwartung bestaetigt: es sah aus, als sei alles entzwei. Die beiden ueberfluessigen, gruen-violetten Porzellanpapageien waren natuerlich, jeder auf eine andere boshafte Art, zerschlagen. Eine Dose, aus der Bonbons rollten, die aussahen wie seidig eingepuppte Insekten, hatte ihren Deckel weit von sich geworfen, man sah nur seine eine Haelfte, die andere war ueberhaupt fort. Das Aergerlichste aber war ein in tausend winzige Scherben zerschellter Flacon, aus dem der Rest irgendeiner alten Essenz herausgespritzt war, der nun einen Fleck von sehr widerlicher Physiognomie auf dem klaren Parkett bildete. Ich trocknete ihn schnell mit irgendwas auf, das an mir herunterhing, aber er wurde nur schwaerzer und unangenehmer. Ich war recht verzweifelt. Ich erhob mich und suchte nach irgendeinem Gegenstand, mit dem ich das alles gutmachen konnte. Aber es fand sich keiner. Auch war ich so behindert im Sehen und in jeder Bewegung, dass die Wut in mir aufstieg gegen meinen unsinnigen Zustand, den ich nicht mehr begriff. Ich zerrte an allem, aber es schloss sich nur noch enger an. Die Schnuere des Mantels wuergten mich, und das Zeug auf meinem Kopfe drueckte, als kaeme immer noch mehr hinzu. Dabei war die Luft truebe geworden und wie beschlagen mit dem aeltlichen Dunst der verschuetteten Fluessigkeit. Heiss und zornig stuerzte ich vor den Spiegel und sah muehsam durch die Maske durch, wie meine Haende arbeiteten. Aber darauf hatte er nur gewartet. Der Augenblick der Vergeltung war fuer ihn gekommen. Waehrend ich in masslos zunehmender Beklemmung mich anstrengte, mich irgendwie aus meiner Vermummung hinauszuzwaengen, noetigte er mich, ich weiss nicht womit, aufzusehen und diktierte mir ein Bild, nein, eine Wirklichkeit, eine fremde, unbegreifliche monstroese Wirklichkeit, mit der ich durchtraenkt wurde gegen meinen Willen: denn jetzt war er der Staerkere, und ich war der Spiegel. Ich starrte diesen grossen, schrecklichen Unbekannten vor mir an, und es schien mir ungeheuerlich, mit ihm allein zu sein. Aber in demselben Moment, da ich dies dachte, geschah das Aeusserste: ich verlor allen Sinn, ich fiel einfach aus. Eine Sekunde lang hatte ich eine unbeschreibliche, wehe und vergebliche Sehnsucht nach mir, dann war nur noch er: es war nichts ausser ihm.

Ich rannte davon, aber nun war er es, der rannte. Er stiess ueberall an, er kannte das Haus nicht, er wusste nicht wohin; er geriet eine Treppe hinunter, er fiel auf dem Gange ueber eine Person her, die sich schreiend freimachte. Eine Tuer ging auf, es traten mehrere Menschen heraus: Ach, ach, was war das gut, sie zu kennen. Das war Sieversen, die gute Sieversen, und das Hausmaedchen und der Silberdiener: nun musste es sich entscheiden. Aber sie sprangen nicht herzu und retteten; ihre Grausamkeit war ohne Grenzen. Sie standen da und lachten, mein Gott, sie konnten dastehn und lachen. Ich weinte, aber die Maske liess die Traenen nicht hinaus, sie rannen innen ueber mein Gesicht und trockneten gleich und rannen wieder und trockneten. Und endlich kniete ich hin vor ihnen, wie nie ein Mensch gekniet hat; ich kniete und hob meine Haende zu ihnen auf und flehte: "Herausnehmen, wenn es noch geht, und behalten", aber sie hoerten es nicht; ich hatte keine Stimme mehr.

Sieversen erzaehlte bis an ihr Ende, wie ich umgesunken waere und wie sie immer noch weitergelacht haetten in der Meinung, das gehoere dazu. Sie waren es so gewoehnt bei mir. Aber dann waere ich doch immerzu liegengeblieben und haette nicht geantwortet. Und der Schrecken, als sie endlich entdeckten, dass ich ohne Besinnung sei und dalag wie ein Stueck in allen den Tuechern, rein wie ein Stueck.

Die Zeit ging unberechenbar schnell, und auf einmal war es schon wieder so weit, dass der Prediger Dr. Jespersen geladen werden musste. Das war dann fuer alle Teile ein muehsames und langwieriges Fruehstueck. Gewohnt an die sehr fromme Nachbarschaft, die sich jedesmal ganz aufloeste um seinetwillen, war er bei uns durchaus nicht an seinem Platz; er lag sozusagen auf dem Land und schnappte. Die Kiemenatmung, die er an sich ausgebildet hatte, ging beschwerlich vor sich, es bildeten sich Blasen, und das Ganze war nicht ohne Gefahr. Gespraechsstoff war, wenn man genau sein will, ueberhaupt keiner da; es wurden Reste veraeussert zu unglaublichen Preisen, es war eine Liquidation aller Bestaende. Dr. Jespersen musste sich bei uns darauf beschraenken, eine Art von Privatmann zu sein; das gerade aber war er nie gewesen. Er war, soweit er denken konnte, im Seelenfach angestellt. Die Seele war eine oeffentliche Institution fuer ihn, die er vertrat, und er brachte es zuwege, niemals ausser Dienst zu sein, selbst nicht im Umgang mit seiner Frau, "seiner bescheidenen, treuen, durch Kindergebaeren seligwerdenden Rebekka", wie Lavater sich in einem anderen Fall ausdrueckte. (Was uebrigens meinen Vater betraf, so war seine Haltung Gott gegenueber vollkommen korrekt und von tadelloser Hoeflichkeit. In der Kirche schien es mir manchmal, als waere er geradezu Jaegermeister bei Gott, wenn er dastand und abwartete und sich verneigte. Maman dagegen erschien es fast verletzend, dass jemand zu Gott in einem hoeflichen Verhaeltnis stehen konnte. Waere sie in eine Religion mit deutlichen und ausfuehrlichen Gebraeuchen geraten, es waere eine Seligkeit fuer sie gewesen, stundenlang zu knien und sich hinzuwerfen und sich recht mit dem grossen Kreuz zu gebaerden vor der Brust und um die Schultern herum. Sie lehrte mich nicht eigentlich beten, aber es war ihr eine Beruhigung, dass ich gerne kniete und die Haende bald gekruemmt und bald aufrecht faltete, wie es mir gerade ausdrucksvoller schien. Ziemlich in Ruhe gelassen, machte ich fruehzeitig eine Reihe von Entwicklungen durch, die ich erst viel spaeter in einer Zeit der Verzweiflung auf Gott bezog, und zwar mit solcher Heftigkeit, dass er sich bildete und zersprang, fast in demselben Augenblick. Es ist klar, dass ich ganz von vorn anfangen musste hernach. Und bei diesem Anfang meinte ich manchmal, Maman noetig zu haben, obwohl es ja natuerlich richtiger war, ihn allein durchzumachen. Und da war sie ja auch schon lange tot.) Dr. Jespersen gegenueber konnte Maman beinah ausgelassen sein. Sie liess sich in Gespraeche mit ihm ein, die er ernst nahm, und wenn er dann sich reden hoerte, meinte sie, das genuege, und vergass ihn ploetzlich, als waere er schon fort. "Wie kann er nur", sagte sie manchmal von ihm, "herumfahren und hineingehen zu den Leuten, wenn sie gerade sterben."

Er kam auch zu ihr bei dieser Gelegenheit, aber sie hat ihn sicher nicht mehr gesehen. Ihre Sinne gingen ein, einer nach dem andern, zuerst das Gesicht. Es war im Herbst, man sollte schon in die Stadt ziehen, aber da erkrankte sie gerade, oder vielmehr, sie fing gleich an zu sterben, langsam und trostlos abzusterben an der ganzen Oberflaeche. Die Aerzte kamen, und an einem bestimmten Tag waren sie alle zusammen da und beherrschten das ganze Haus. Es war ein paar Stunden lang, als gehoerte es nun dem Geheimrat und seinen Assistenten und als haetten wir nichts mehr zu sagen. Aber gleich danach verloren sie alles Interesse, kamen nur noch einzeln, wie aus purer Hoeflichkeit, um eine Zigarre anzunehmen und ein Glas Portwein. Und Maman starb indessen.

Man wartete nur noch auf Mamans einzigen Bruder, den Grafen Christian Brahe, der, wie man sich noch erinnern wird, eine Zeitlang in tuerkischen Diensten gestanden hatte, wo er, wie es immer hiess, sehr ausgezeichnet worden war. Er kam eines Morgens an in Begleitung eines fremdartigen Dieners, und es ueberraschte mich, zu sehen, dass er groesser war als Vater und scheinbar auch aelter. Die beiden Herren wechselten sofort einige Worte, die sich, wie ich vermutete, auf Maman bezogen. Es entstand eine Pause. Dann sagte mein Vater: "Sie ist sehr entstellt." Ich begriff diesen Ausdruck nicht, aber es froestelte mich, da ich ihn hoerte. Ich hatte den Eindruck, als ob auch mein Vater sich haette ueberwinden muessen, ehe er ihn aussprach. Aber es war wohl vor allem sein Stolz, der litt, indem er dies zugab.

Mehrere Jahre spaeter erst hoerte ich wieder von dem Grafen Christian reden. Es war auf Urnekloster, und Mathilde Brahe war es, die mit Vorliebe von ihm sprach. Ich bin indessen sicher, dass sie die einzelnen Episoden ziemlich eigenmaechtig ausgestaltete, denn das Leben meines Onkels, von dem immer nur Geruechte in die Oeffent lichkeit und selbst in die Familie drangen, Geruechte, die er nie widerlegte, war geradezu grenzenlos auslegbar. Urnekloster ist jetzt in seinem Besitz. Aber niemand weiss, ob er es bewohnt. Vielleicht reist er immer noch, wie es seine Gewohnheit war; vielleicht ist die Nachricht seines Todes aus irgendeinem aeussersten Erdteil unterwegs, von der Hand des fremden Dieners geschrieben in schlechtem Englisch oder in irgendeiner unbekannten Sprache. Vielleicht auch giebt dieser Mensch kein Zeichen von sich, wenn er eines Tages allein zurueckbleibt. Vielleicht sind sie beide laengst verschwunden und stehen nur noch auf der Schiffsliste eines verschollenen Schiffes unter Namen, die nicht die ihren waren.

Freilich, wenn damals auf Urnekloster ein Wagen einfuhr, so erwartete ich immer, ihn eintreten zu sehen, und mein Herz klopfte auf eine besondere Art. Mathilde Brahe behauptete: so kaeme er, das waere so seine Eigenheit, ploetzlich da zu sein, wenn man es am wenigsten fuer moeglich hielte. Er kam nie, aber meine Einbildungskraft beschaeftigte sich wochenlang mit ihm, ich hatte das Gefuehl, als waeren wir einander eine Beziehung schuldig, und ich haette gern etwas Wirkliches von ihm gewusst.

Als indessen bald darauf mein Interesse umschlug und infolge gewisser Begebenheiten ganz auf Christine Brahe ueberging, bemuehte ich mich eigentuemlicherweise nicht, etwas von ihren Lebensumstaenden zu erfahren. Dagegen beunruhigte mich der Gedanke, ob ihr Bildnis wohl in der Galerie vorhanden sei. Und der Wunsch, das festzustellen, nahm so einseitig und quaelend zu, dass ich mehrere Naechte nicht schlief, bis, ganz unvermutet, diejenige da war, in der ich, weiss Gott, aufstand und hinaufging mit meinem Licht, das sich zu fuerchten schien.

Was mich angeht, so dachte ich nicht an Furcht. Ich dachte ueberhaupt nicht; ich ging. Die hohen Tueren gaben so spielend nach vor mir und ueber mir, die Zimmer, durch die ich kam, hielten sich ruhig. Und endlich merkte ich an der Tiefe, die mich anwehte, dass ich in die Galerie getreten sei. Ich fuehlte auf der rechten Seite die Fenster mit der Nacht, und links mussten die Bilder sein. Ich hob mein Licht so hoch ich konnte. Ja: da waren die Bilder.

Erst nahm ich mir vor, nur nach den Frauen zu sehen, aber dann erkannte ich eines und ein anderes, das aehnlich in Ulsgaard hing, und wenn ich sie so von unten beschien, so ruehrten sie sich und wollten ans Licht, und es schien mir herzlos, das nicht wenigstens abzuwarten. Da war immer wieder Christian der Vierte mit der schoen geflochtenen Cadenette neben der breiten, langsam gewoelbten Wange. Da waren vermutlich seine Frauen, von denen ich nur Kirstine Munk kannte; und ploetzlich sah mich Frau Ellen Marsvin an, argwoehnisch in ihrer Witwentracht und mit derselben Perlenschnur auf der Krempe des hohen Huts. Da waren Koenig Christians Kinder: immer wieder frische aus neuen Frauen, die ’unvergleichliche’ Eleonore auf einem weissen Passgaenger in ihrer glaenzendsten Zeit, vor der Heimsuchung. Die Gyldenloeves: Hans Ulrik, von dem die Frauen in Spanien meinten, dass er sich das Antlitz male, so voller Blut war er, und Ulrik Christian, den man nicht wieder vergass. Und beinahe alle Ulfelds. Und dieser da, mit dem einen schwarzuebermalten Auge, konnte wohl Henrik Holck sein, der mit dreiunddreissig Jahren Reichsgraf war und Feldmarschall, und das kam so: ihm traeumte auf dem Wege zu Jungfrau Hilleborg Krafse, es wuerde ihm statt der Braut ein blosses Schwert gegeben: und er nahm sichs zu Herzen und kehrte um und begann sein kurzes, verwegenes Leben, das mit der Pest endete. Die kannte ich alle. Auch die Gesandten vom Kongress zu Nimwegen hatten wir auf Ulsgaard, die einander ein wenig glichen, weil sie alle auf einmal gemalt worden waren, jeder mit der schmalen, gestutzten Bartbraue ueber dem sinnlichen, fast schauenden Munde. Dass ich Herzog Ulrich erkannte, ist selbstverstaendlich, und Otte Brahe und Claus Daa und Sten Rosensparre, den Letzten seines Geschlechts; denn von ihnen allen hatte ich Bilder im Saal zu Ulsgaard gesehen, oder ich hatte in alten Mappen Kupferstiche gefunden, die sie darstellten.

Aber dann waren viele da, die ich nie gesehen hatte; wenige Frauen, aber es waren Kinder da. Mein Arm war laengst muede geworden und zitterte, aber ich hob doch immer wieder das Licht, um die Kinder zu sehen. Ich begriff sie, diese kleinen Maedchen, die einen Vogel auf der Hand trugen und ihn vergassen. Manchmal sass ein kleiner Hund bei ihnen unten, ein Ball lag da, und auf dem Tisch nebenan gab es Fruechte und Blumen; und dahinter an der Saeule hing, klein und vorlaeufig, das Wappen der Grubbe oder der Bille oder der Rosenkrantz. So viel hatte man um sie zusammengetragen, als ob eine Menge gutzumachen waere. Sie aber standen einfach in ihren Kleidern und warteten; man sah, dass sie warteten. Und da musste ich wieder an die Frauen denken und an Christine Brahe, und ob ich sie erkennen wuerde. Ich wollte rasch bis ganz ans Ende laufen und von dort zurueckgehen und suchen, aber da stiess ich an etwas. Ich drehte mich so jaeh herum, dass der kleine Erik zuruecksprang und fluesterte: "Gieb acht mit deinem Licht." "Du bist da?" sagte ich atemlos, und ich war nicht im klaren, ob das gut sei oder ganz und gar schlimm. Er lachte nur, und ich wusste nicht, was weiter. Mein Licht flackerte, und ich konnte den Ausdruck seines Gesichts nicht recht erkennen. Es war doch wohl schlimm, dass er da war. Aber da sagte er, indem er naeher kam: "Ihr Bild ist nicht da, wir suchen es immer noch oben." Mit seiner halben Stimme und dem einen beweglichen Auge wies er irgendwie hinauf. Und ich begriff, dass er den Boden meinte. Aber auf einmal kam mir ein merkwuerdiger Gedanke.

"Wir?" fragte ich, "ist sie denn oben?"

"Ja", nickte er und stand dicht neben mir.

"Sie sucht selber mit?" "Ja, wir suchen."

"Man hat es also fortgestellt, das Bild?"

"Ja, denk nur", sagte er empoert. Aber ich begriff nicht recht, was sie damit wollte.

"Sie will sich sehen", fluesterte er ganz nah.

"Ja so", machte ich, als ob ich verstuende. Da blies er mir das Licht aus. Ich sah, wie er sich vorstreckte, ins Helle hinein, mit ganz hochgezogenen Augenbrauen. Dann wars dunkel. Ich trat unwillkuerlich zurueck. "Was machst du denn?" rief ich unterdrueckt und war ganz trocken im Halse. Er sprang mir nach und haengte sich an meinen Arm und kicherte. "Was denn?" fuhr ich ihn an und wollte ihn abschuetteln, aber er hing fest. Ich konnte es nicht hindern, dass er den Arm um meinen Hals legte. "Soll ich es sagen?" zischte er, und ein wenig Speichel spritzte mir ins Ohr.

"Ja, ja, schnell."

Ich wusste nicht, was ich redete. Er umarmte mich nun voellig und streckte sich dabei.

"Ich hab ihr einen Spiegel gebracht", sagte er und kicherte wieder. "Einen Spiegel?"

"Ja, weil doch das Bild nicht da ist."

"Nein, nein", machte ich.

Er zog mich auf einmal etwas weiter nach dem Fenster hin und kniff mich so scharf in den Oberarm, dass ich schrie.

"Sie ist nicht drin", blies er mir ins Ohr.

Ich stiess ihn unwillkuerlich von mir weg, etwas knackte an ihm, mir war, als haette ich ihn zerbrochen.

"Geh, geh", und jetzt musste ich selber lachen, "nicht drin, wieso denn nicht drin?"

"Du bist dumm", gab er boese zurueck und fluesterte nicht mehr. Seine Stimme war umgeschlagen, als begaenne er nun ein neues, noch ungebrauchtes Stueck. "Man ist entweder drin", diktierte er altklug und streng, "dann ist man nicht hier; oder wenn man hier ist, kann man nicht drin sein." "Natuerlich", antwortete ich schnell, ohne nachzudenken. Ich hatte Angst, er koennte sonst fortgehen und mich allein lassen. Ich griff sogar nach ihm. "Wollen wir Freunde sein?" schlug ich vor. Er liess sich bitten. "Mir ists gleich", sagte er keck.

Ich versuchte unsere Freundschaft zu beginnen, aber ich wagte nicht, ihn zu umarmen. "Lieber Erik", brachte ich nur heraus und ruehrte ihn irgendwo ein bisschen an. Ich war auf einmal sehr muede. Ich sah mich um; ich verstand nicht mehr, wie ich hierher gekommen war und dass ich mich nicht gefuerchtet hatte. Ich wusste nicht recht, wo die Fenster waren und wo die Bilder. Und als wir gingen, musste er mich fuehren.

"Sie tun dir nichts", versicherte er grossmuetig und kicherte wieder.

Lieber, lieber Erik; vielleicht bist du doch mein einziger Freund gewesen. Denn ich habe nie einen gehabt. Es ist schade, dass du auf Freundschaft nichts gabst. Ich haette dir manches erzaehlen moegen. Vielleicht haetten wir uns vertragen. Man kann nicht wissen. Ich erinnere mich, dass damals dein Bild gemalt wurde. Der Grossvater hatte jemanden kommen lassen, der dich malte. Jeden Morgen eine Stunde. Ich kann mich nicht besinnen, wie der Maler aussah, sein Name ist mir entfallen, obwohl Mathilde Brahe ihn jeden Augenblick wiederholte.

Ob er dich gesehen hat, wie ich dich seh? Du trugst einen Anzug von heliotropfarbenem Samt. Mathilde Brahe schwaermte fuer diesen Anzug. Aber das ist nun gleichgueltig. Nur ob er dich gesehen hat, moechte ich wissen. Nehmen wir an, dass es ein wirklicher Maler war.Nehmen wir an, dass er nicht daran dachte, dass du sterben koenntest, ehe er fertig wuerde; dass er die Sache gar nicht sentimental ansah; dass er einfach arbeitete. Dass die Ungleichheit deiner beiden braunen Augen ihn entzueckte; dass er keinen Moment sich schaemte fuer das unbewegliche; dass er den Takt hatte, nichts hinzuzulegen auf den Tisch zu deiner Hand, die sich vielleicht ein wenig stuetzte—. Nehmen wir sonst noch alles Noetige an und lassen es gelten: so ist ein Bild da, dein Bild, in der Galerie auf Urnekloster das letzte. (Und wenn man geht, und man hat sie alle gesehen, so ist da noch ein Knabe. Einen Augenblick: wer ist das? Ein Brahe. Siehst du den silbernen Pfahl im schwarzen Feld und die Pfauenfedern? Da steht auch der Name: Erik Brahe. War das nicht ein Erik Brahe, der hingerichtet worden ist? Natuerlich, das ist bekannt genug. Aber um den kann es sich nicht handeln. Dieser Knabe ist als Knabe gestorben, gleichviel wann. Kannst du das nicht sehen?)

Wenn Besuch da war und Erik wurde gerufen, so versicherte das Fraeulein Mathilde Brahe jedesmal, es sei geradezu unglaublich, wie sehr er der alten Graefin Brahe gliche, meiner Grossmutter. Sie soll eine sehr grosse Dame gewesen sein. Ich habe sie nicht gekannt. Dagegen erinnere ich mich sehr gut an die Mutter meines Vaters, die eigentliche Herrin auf Ulsgaard. Das war sie wohl immer geblieben, wie sehr sie es auch Maman uebelnahm, dass sie als des Jaegermeisters Frau ins Haus gekommen war. Seither tat sie bestaendig, als zoege sie sich zurueck, und schickte die Dienstleute mit jeder Kleinigkeit weiter zu Maman hinein, waehrend sie in wichtigen Angelegenheiten ruhig entschied und verfuegte, ohne irgend jemandem Rechenschaft abzulegen. Maman, glaube ich, wuenschte es gar nicht anders. Sie war so wenig gemacht, ein grosses Haus zu uebersehen, ihr fehlte voellig die Einteilung der Dinge in nebensaechliche und wichtige. Alles, wovon man ihr sprach, schien ihr immer das Ganze zu sein, und sie vergass darueber das andere, das doch auch noch da war. Sie beklagte sich nie ueber ihre Schwiegermutter. Und bei wem haette sie sich auch beklagen sollen? Vater war ein aeusserst respektvoller Sohn, und Grossvater hatte wenig zu sagen. Frau Margarete Brigge war immer schon, soweit ich denken kann, eine hochgewachsene, unzugaengliche Greisin. Ich kann mir nicht anders vorstellen, als dass sie viel aelter gewesen sei, als der Kammerherr. Sie lebte mitten unter uns ihr Leben, ohne auf jemanden Ruecksicht zu nehmen. Sie war auf keinen von uns angewiesen und hatte immer eine Art Gesellschafterin, eine alternde Komtesse Oxe, um sich, die sie sich durch ihrgendeine Wohltat unbegrenzt verpflichtet hatte. Dies musste eine einzelne Ausnahme gewesen sein, denn wohltun war sonst nicht ihre Art. Sie liebte keine Kinder, und Tiere durften nicht in ihre Naehe. Ich weiss nicht, ob sie sonst etwas liebte. Es wurde erzaehlt, dass sie als ganz junges Maedchen dem schoenen Felix Lichnowski verlobt gewesen sei, der dann in Frankfurt so grausam ums Leben kam. Und in der Tat war nach ihrem Tode ein Bildnis des Fuersten da, das, wenn ich nicht irre, an die Familie zurueckgegeben worden ist. Vielleicht, denke ich mir jetzt, versaeumte sie ueber diesem eingezogenen laendlichen Leben, das das Leben auf Ulsgaard von Jahr zu Jahr mehr geworden war, ein anderes, glaenzendes: ihr natuerliches. Es ist schwer zu sagen, ob sie es betrauerte. Vielleicht verachtete sie es dafuer, dass es nicht gekommen war, dass es die Gelegenheit verfehlt hatte, mit Geschick und Talent gelebt worden zu sein. Sie hatte alles dies so weit in sich hineingenommen und hatte darueber Schalen angesetzt, viele, sproede, ein wenig metallisch glaenzende Schalen, deren jeweilig oberste sich neu und kuehl ausnahm. Bisweilen freilich verriet sie sich doch durch eine naive Ungeduld, nicht genuegend beachtet zu sein; zu meiner Zeit konnte sie sich dann bei Tische ploetzlich verschlucken auf irgendeine deutliche und komplizierte Art, die ihr die Teilnahme aller sicherte und sie, fuer einen Augenblick wenigstens, so sensationell und spannend erscheinen liess, wie sie es im Grossen haette sein moegen. Indessen vermute ich, dass mein Vater der einzige war, der diese viel zu haeufigen Zufaelle ernst nahm. Er sah ihr, hoeflich voruebergeneigt, zu, man konnte merken, wie er ihr in Gedanken seine eigene, ordentliche Luftroehre gleichsam anbot und ganz zur Verfuegung stellte. Der Kammerherr hatte natuerlich gleichfalls zu essen aufgehoert; er nahm einen kleinen Schluck Wein und enthielt sich jeder Meinung. Er hatte bei Tische ein einziges Mal die seinige seiner Gemahlin gegenueber aufrechterhalten. Das war lange her; aber die Geschichte wurde doch noch boshaft und heimlich weitergegeben; es gab fast ueberall jemanden, der sie noch nicht gehoert hatte. Es hiess, dass die Kammerherrin zu einer gewissen Zeit sich sehr ueber Weinfiecke ereifern konnte, die durch Ungeschicklichkeit ins Tischzeug gerieten; dass ein solcher Fleck, bei welchem Anlass er auch passieren mochte, von ihr bemerkt und unter dem heftigsten Tadel sozusagen blossgestellt wurde. Dazu waere es auch einmal gekommen, als man mehrere und namhafte Gaeste hatte. Ein paar unschuldige Flecke, die sie uebertrieb, wurden der Gegenstand ihrer hoehnischen Anschuldigungen, und wie sehr der Grossvater sich auch bemuehte, sie durch kleine Zeichen und scherzhafte Zurufe zu ermahnen, so waere sie doch eigensinnig bei ihren Vorwuerfen geblieben, die sie dann allerdings mitten im Satze stehen lassen musste. Es geschah naemlich etwas nie Dagewesenes und voellig Unbegreifliches. Der Kammerherr hatte sich den Rotwein geben lassen, der gerade herumgereicht worden war, und war nun in aller Aufmerksamkeit dabei, sein Glas selber zu fuellen. Nur dass er, wunderbarerweise, einzugiessen nicht aufhoerte, als es laengst voll war, sondern unter zunehmender Stille langsam und vorsichtig weitergoss, bis Maman, die nie an sich halten konnte, auflachte und damit die ganze Angelegenheit nach dem Lachen hin in Ordnung brachte. Denn nun stimmten alle erleichtert ein, und der Kammerherr sah auf und reichte dem Diener die Flasche. Spaeter gewann eine andere Eigenheit die Oberhand bei meiner Grossmutter. Sie konnte es nicht ertragen, dass jemand im Hause erkrankte. Einmal, als die Koechin sich verletzt hatte und sie sah sie zufaellig mit der eingebundenen Hand, behauptete sie, das Jodoform im ganzen Hause zu riechen, und war schwer zu ueberzeugen, dass man die Person daraufhin nicht entlassen koenne. Sie wollte nicht an das Kranksein erinnert werden. Hatte jemand die Unvorsichtigkeit, vor ihr irgendein kleines Unbehagen zu aeussern, so war das nichts anderes als eine persoenliche Kraenkung fuer sie, und sie trug sie ihm lange nach.

In jenem Herbst, als Maman starb, schloss sich die Kammerherrin mit Sophie Oxe ganz in ihren Zimmern ein und brach allen Verkehr mit uns ab. Nicht einmal ihr Sohn wurde angenommen. Es ist ja wahr, dieses Sterben fiel recht unpassend. Die Zimmer waren kalt, die Oefen rauchten, und die Maeuse waren ins Haus gedrungen; man war nirgends sicher vor ihnen. Aber das allein war es nicht, Frau Margarete Brigge war empoert, dass Maman starb; dass da eine Sache auf der Tagesordnung stand, von der zu sprechen sie ablehnte; dass die junge Frau sich den Vortritt anmasste vor ihr, die einmal zu sterben gedachte zu einem durchaus noch nicht festgesetzten Termin. Denn daran, dass sie wuerde sterben muessen, dachte sie oft. Aber sie wollte nicht gedraengt sein. Sie wuerde sterben, gewiss, wann es ihr gefiel, und dann konnten sie ja alle ruhig sterben, hinterher, wenn sie es so eilig hatten. Mamans Tod verzieh sie uns niemals ganz. Sie alterte uebrigens rasch waehrend des folgenden Winters. Im Gehen war sie immer noch hoch, aber im Sessel sank sie zusammen, und ihr Gehoer wurde schwieriger. Man konnte sitzen und sie gross ansehen, stundenlang, sie fuehlte es nicht. Sie war irgendwo drinnen; sie kam nur noch selten und nur fuer Augenblicke in ihre Sinne, die leer waren, die sie nicht mehr bewohnte. Dann sagte sie etwas zu der Komtesse, die ihr die Mantille richtete, und nahm mit den grossen, frisch gewaschenen Haenden ihr Kleid an sich, als waere Wasser vergossen oder als waeren wir nicht ganz reinlich.

Sie starb gegen den Fruehling zu, in der Stadt, eines Nachts. Sophie Oxe, deren Tuer offenstand, hatte nichts gehoert. Da man sie am Morgen fand, war sie kalt wie Glas.

Gleich darauf begann des Kammerherrn grosse und schreckliche Krankheit. Es war, als haette er ihr Ende abgewartet, um so ruecksichtslos sterben zu koennen, wie er musste.

Es war in dem Jahr nach Mamans Tode, dass ich Abelone zuerst bemerkte. Abelone war immer da. Das tat ihr grossen Eintrag. Und dann war Abelone unsympathisch, das hatte ich ganz frueher einmal bei irgendeinem Anlass festgestellt, und es war nie zu einer ernstlichen Durchsicht dieser Meinung gekommen. Zu fragen, was es mit Abelone fuer eine Bewandtnis habe, das waere mir bis dahin beinah laecherlich erschienen. Abelone war da, und man nutzte sie ab, wie man eben konnte. Aber auf einmal fragte ich mich: Warum ist Abelone da? Jeder bei uns hatte einen bestimmten Sinn da zu sein, wenn er auch keineswegs immer so augenscheinlich war, wie zum Beispiel die Anwendung des Fraeuleins Oxe. Aber weshalb war Abelone da? Eine Zeitlang war davon die Rede gewesen, dass sie sich zerstreuen solle. Aber das geriet in Vergessenheit. Niemand trug etwas zu Abelones Zerstreuung bei. Es machte durchaus nicht den Eindruck, dass sie sich zerstreue.

Uebrigens hatte Abelone ein Gutes: sie sang. Das heisst, es gab Zeiten, wo sie sang. Es war eine starke, unbeirrbare Musik in ihr. Wenn es wahr ist, dass die Engel maennlich sind, so kann man wohl sagen, dass etwas Maennliches in ihrer Stimme war: eine strahlende, himmlische Maennlichkeit. Ich, der ich schon als Kind der Musik gegenueber so misstrauisch war (nicht, weil sie mich staerker als alles forthob aus mir, sondern, weil ich gemerkt hatte, dass sie mich nicht wieder dort ablegte, wo sie mich gefunden hatte, sondern tiefer, irgendwo ganz ins Unfertige hinein), ich ertrug diese Musik, auf der man aufrecht aufwaertssteigen konnte, hoeher und hoeher, bis man meinte, dies muesste ungefaehr schon der Himmel sein seit einer Weile. Ich ahnte nicht, dass Abelone mir noch andere Himmel oeffnen sollte.

Zunaechst bestand unsere Beziehung darin, dass sie mir von Mamans Maedchenzeit erzaehlte. Sie hielt viel darauf, mich zu ueberzeugen, wie mutig und jung Maman gewesen waere. Es gab damals niemanden nach ihrer Versicherung, der sich im Tanzen oder im Reiten mir ihr messen konnte. "Sie war die Kuehnste und unermuedlich, und dann heiratete sie auf einmal", sagte Abelone, immer noch erstaunt nach so vielen Jahren. "Es kam so unerwartet, niemand konnte es recht begreifen."

Ich interessierte mich dafuer, weshalb Abelone nicht geheiratet hatte. Sie kam mir alt vor verhaeltnismaessig, und dass sie es noch koennte, daran dachte ich nicht.

"Es war niemand da", antwortete sie einfach und wurde richtig schoen dabei. Ist Abelone schoen? fragte ich mich ueberrascht. Dann kam ich fort von Hause, auf die Adels-Akademie, und es begann eine widerliche und arge Zeit. Aber wenn ich dort zu Soroe, abseits von den andern, im Fenster stand, und sie liessen mich ein wenig in Ruh, so sah ich hinaus in die Baeume, und in solchen Augenblicken und nachts wuchs in mir die Sicherheit, dass Abelone schoen sei. Und ich fing an, ihr alle jene Briefe zu schreiben, lange und kurze, viele heimliche Briefe, darin ich von Ulsgaard zu handeln meinte und davon, dass ich ungluecklich sei. Aber es werden doch wohl, so wie ich es jetzt sehe, Liebesbriefe gewesen sein. Denn schliesslich kamen die Ferien, die erst gar nicht kommen wollten, und da war es wie auf Verabredung, dass wir uns nicht vor den anderen wiedersahen.

Es war durchaus nichts vereinbart zwischen uns, aber da der Wagen einbog in den Park, konnte ich es nicht lassen, auszusteigen, vielleicht nur, weil ich nicht anfahren wollte, wie irgendein Fremder. Es war schon voller Sommer. Ich lief in einen der Wege hinein und auf einen Goldregen zu. Und da war Abelone. Schoene, schoene Abelone.

Ich wills nie vergessen, wie das war, wenn du mich anschautest. Wie du dein Schauen trugst, gleichsam wie etwas nicht Befestigtes es aufhaltend auf zurueckgeneigtem Gesicht.

Ach, ob das Klima sich gar nicht veraendert hat? Ob es nicht milder geworden ist um Ulsgaard herum von all unserer Waerme? Ob einzelne Rosen nicht laenger bluehen jetzt im Park, bis in den Dezember hinein?

Ich will nichts erzaehlen von dir, Abelone. Nicht deshalb, weil wir einander taeuschten: weil du Einen liebtest, auch damals, den du nie vergessen hast, Liebende, und ich: alle Frauen; sondern weil mit dem Sagen nur unrecht geschieht.

Es giebt Teppiche hier, Abelone, Wandteppiche. Ich bilde mir ein, du bist da, sechs Teppiche sinds, komm, lass uns langsam voruebergehen. Aber erst tritt zurueck und sieh alle zugleich. Wie ruhig sie sind, nicht? Es ist wenig Abwechslung darin. Da ist immer diese ovale blaue Insel, schwebend im zurueckhaltend roten Grund, der blumig ist und von kleinen, mit sich beschaeftigten Tieren bewohnt. Nur dort, im letzten Teppich, steigt die Insel ein wenig auf, als ob sie leichter geworden sei. Sie traegt immer eine Gestalt, eine Frau in verschiedener Tracht, aber immer dieselbe. Zuweilen ist eine kleinere Figur neben ihr, eine Dienerin, und immer sind die wappentragenden Tiere da, gross, mit auf der Insel, mit in der Handlung. Links ein Loewe, und rechts, hell, das Einhorn; sie halten die gleichen Banner, die hoch ueber ihnen zeigen: drei silberne Monde, steigend, in blauer Binde auf rotem Feld.—Hast du gesehen, willst du beim ersten beginnen?

Sie fuettert den Falken. Wie herrlich ihr Anzug ist. Der Vogel ist auf der gekleideten Hand und ruehrt sich. Sie sieht ihm zu und langt dabei in die Schale, die ihr die Dienerin bringt, um ihm etwas zu reichen. Rechts unten auf der Schleppe haelt sich ein kleiner, seidenhaariger Hund, der aufsieht und hofft, man werde sich seiner erinnern. Und, hast du bemerkt, ein niederes Rosengitter schliesst hinten die Insel ab. Die Wappentiere steigen heraldisch hochmuetig. Das Wappen ist ihnen noch einmal als Mantel umgegeben. Eine schoene Agraffe haelt es zusammen. Es weht.

Geht man nicht unwillkuerlich leiser zu dem naechsten Teppich hin, sobald man gewahrt, wie versunken sie ist: sie bindet einen Kranz, eine kleine, runde Krone aus Blumen. Nachdenklich waehlt sie die Farbe der naechsten Nelke in dem flachen Becken, das ihr die Dienerin haelt, waehrend sie die vorige anreiht. Hinten auf einer Bank steht unbenutzt ein Korb voller Rosen, den ein Affe entdeckt hat. Diesmal sollten es Nelken sein. Der Loewe nimmt nicht mehr teil; aber rechts das Einhorn begreift.

Musste nicht Musik kommen in diese Stille, war sie nicht schon verhalten da? Schwer und still geschmueckt, ist sie (wie langsam, nicht?) an die tragbare Orgel getreten und spielt, stehend, durch das Pfeifenwerk abgetrennt von der Dienerin, die jenseits die Baelge bewegt. So schoen war sie noch nie. Wunderlich ist das Haar in zwei Flechten nach vorn genommen und ueber dem Kopfputz oben zusammengefasst, so dass es mit seinen Enden aus dem Bund aufsteigt wie ein kurzer Helmbusch. Verstimmt ertraegt der Loewe die Toene, ungern, Geheul verbeissend. Das Einhorn aber ist schoen, wie in Wellen bewegt.

Die Insel wird breit. Ein Zelt ist errichtet. Aus blauem Damast und goldgeflammt. Die Tiere raffen es auf, und schlicht beinah in ihrem fuerstlichen Kleid tritt sie vor. Denn was sind ihre Perlen gegen sie selbst. Die Dienerin hat eine kleine Truhe geoeffnet, und sie hebt nun eine Kette heraus, ein schweres, herrliches Kleinod, das immer verschlossen war. Der kleine Hund sitzt bei ihr, erhoeht, auf bereitetem Platz und sieht es an. Und hast du den Spruch entdeckt auf dem Zeltrand oben? da steht: ’A mon seul desir.’

Was ist geschehen, warum springt das kleine Kaninchen da unten, warum sieht man gleich, dass es springt? Alles ist so befangen. Der Loewe hat nichts zu tun. Sie selbst haelt das Banner. Oder haelt sie sich dran? Sie hat mit der anderen Hand nach dem Horn des Einhorns gefasst. Ist das Trauer, kann Trauer so aufrecht sein, und ein Trauerkleid so verschwiegen wie dieser gruenschwarze Samt mit den welken Stellen?

Aber es kommt noch ein Fest, niemand ist geladen dazu. Erwartung spielt dabei keine Rolle. Es ist alles da. Alles fuer immer. Der Loewe sieht sich fast drohend um: es darf niemand kommen. Wir haben sie noch nie muede gesehen; ist sie muede? oder hat sie sich nur niedergelassen, weil sie etwas Schweres haelt? Man koennte meinen, eine Monstranz. Aber sie neigt den andern Arm gegen das Einhorn hin, und das Tier baeumt sich geschmeichelt auf und steigt und stuetzt sich auf ihren Schooss. Es ist ein Spiegel, was sie haelt. Siehst du: sie zeigt dem Einhorn sein Bild—.

Abelone, ich bilde mir ein, du bist da. Begreifst du, Abelone? Ich denke, du musst begreifen. -------------Nun sind auch die Teppiche der Dame a la Licorne nicht mehr in dem alten Schloss von Boussac. Die Zeit ist da, wo alles aus den Haeusern fortkommt, sie koennen nichts mehr behalten. Die Gefahr ist sicherer geworden als die Sicherheit. Niemand aus dem Geschlecht der Delle Viste geht neben einem her und hat das im Blut. Sie sind alle vorbei. Niemand spricht deinen Namen aus, Pierre d’Aubusson, grosser Grossmeister aus uraltem Hause, auf dessen Willen hin vielleicht diese Bilder gewebt wurden, die alles preisen und nichts preisgeben. (Ach, dass die Dichter je anders von Frauen geschrieben haben, woertlicher, wie sie meinten. Es ist sicher, wir durften nichts wissen als das.) Nun kommt man zufaellig davor unter Zufaelligen und erschrickt fast, nicht geladen zu sein. Aber da sind andere und gehen vorueber, wenn es auch nie viele sind. Die jungen Leute halten sich kaum auf, es sei denn, dass das irgendwie in ihr Fach gehoert, diese Dinge einmal gesehen zu haben, auf die oder jene bestimmte Eigenschaft hin. Junge Maedchen allerdings findet man zuweilen davor. Denn es giebt eine Menge junger Maedchen in den Museen, die fortgegangen sind irgendwo aus den Haeusern, die nichts mehr behalten. Sie finden sich vor diesen Teppichen und vergessen sich ein wenig. Sie haben immer gefuehlt, dass es dies gegeben hat, solch ein leises Leben langsamer, nie ganz aufgeklaerter Gebaerden, und sie erinnern sich dunkel, dass sie sogar eine Zeitlang meinten, es wuerde ihr Leben sein. Aber dann ziehen sie rasch ein Heft hervor und beginnen zu zeichnen, gleichviel was, eine von den Blumen oder ein kleines, vergnuegtes Tier. Darauf kaeme es nicht an, hat man ihnen vorgesagt, was es gerade waere. Und darauf kommt es wirklich nicht an. Nur dass gezeichnet wird, das ist die Hauptsache; denn dazu sind sie fortgegangen eines Tages, ziemlich gewaltsam. Sie sind aus guter Familie. Aber wenn sie jetzt beim Zeichnen die Arme heben, so ergiebt sich, dass ihr Kleid hinten nicht zugeknoepft ist oder doch nicht ganz. Es sind da ein paar Knoepfe, die man nicht erreichen kann. Denn als dieses Kleid gemacht wurde, war noch nicht davon die Rede gewesen, dass sie ploetzlich allein weggehen wuerden. In der Familie ist immer jemand fuer solche Knoepfe. Aber hier, lieber Gott, wer sollte sich damit abgeben in einer so grossen Stadt. Man muesste schon eine Freundin haben; Freundinnen sind aber in derselben Lage, und da kommt es doch darauf hinaus, dass man sich gegenseitig die Kleider schliesst. Das ist laecherlich und erinnert an die Familie, an die man nicht erinnert sein will. Es laesst sich ja nicht vermeiden, dass man waehrend des Zeichnens zuweilen ueberlegt, ob es nicht doch moeglich gewesen waere zu bleiben. Wenn man haette fromm sein koennen, herzhaft fromm im gleichen Tempo mit den andern. Aber das nahm sich so unsinnig aus, das gemeinsam zu versuchen. Der Weg ist irgendwie enger geworden: Familien koennen nicht mehr zu Gott. Es blieben also nur verschiedene andere Dinge, die man zur Not teilen konnte. Da kam dann aber, wenn man ehrlich teilte, so wenig auf den einzelnen, dass es eine Schande war. Und betrog man beim Teilen, so entstanden Auseinandersetzungen. Nein, es ist wirklich besser zu zeichnen, gleichviel was. Mit der Zeit stellt sich die Aehnlichkeit schon ein. Und die Kunst, wenn man sie so allmaehlich hat, ist doch etwas recht Beneidenswertes.

Und ueber der angestrengten Beschaeftigung mit dem, was sie sich vorgenommen haben, diese jungen Maedchen, kommen sie nicht mehr dazu, aufzusehen. Sie merken nicht, wie sie bei allem Zeichnen doch nichts tun, als das unabaenderliche Leben in sich unterdruecken, das in diesen gewebten Bildern strahlend vor ihnen aufgeschlagen ist in seiner unendlichen Unsaeglichkeit. Sie wollen es nicht glauben. Jetzt, da so vieles anders wird, wollen sie sich veraendern. Sie sind ganz nahe daran, sich aufzugeben und so von sich zu denken, wie Maenner etwa von ihnen reden koennten, wenn sie nicht da sind. Das scheint ihnen ihr Fortschritt. Sie sind fast schon ueberzeugt, dass man einen Genuss sucht und wieder einen und einen noch staerkeren Genuss: dass darin das Leben besteht, wenn man es nicht auf eine alberne Art verlieren will. Sie haben schon angefangen, sich umzusehen, zu suchen; sie, deren Staerke immer darin bestanden hat, gefunden zu werden.

Das kommt, glaube ich, weil sie muede sind. Sie haben Jahrhunderte lang die ganze Liebe geleistet, sie haben immer den vollen Dialog gespielt, beide Teile. Denn der Mann hat nur nachgesprochen und schlecht. Und hat ihnen das Erlernen schwer gemacht mit seiner Zerstreutheit, mit seiner Nachlaessigkeit, mit seiner Eifersucht, die auch eine Art Nachlaessigkeit war. Und sie haben trotzdem ausgeharrt Tag und Nacht und haben zugenommen an Liebe und Elend. Und aus ihnen sind, unter dem Druck endloser Noete, die gewaltigen Liebenden hervorgegangen, die, waehrend sie ihn riefen, den Mann ueberstanden; die ueber ihn hinauswuchsen, wenn er nicht wiederkam, wie Gaspara Stampa oder wie die Portugiesin, die nicht abliessen, bis ihre Qual umschlug in eine herbe, eisige Herrlichkeit, die nicht mehr zu halten war. Wir wissen von der und der, weil Briefe da sind, die wie durch ein Wunder sich erhielten, oder Buecher mit anklagenden oder klagenden Gedichten, oder Bilder, die uns anschauen in einer Galerie durch ein Weinen durch, das dem Maler gelang, weil er nicht wusste, was es war. Aber es sind ihrer zahllos mehr gewesen; solche, die ihre Briefe verbrannt haben, und andere, die keine Kraft mehr hatten, sie zu schreiben. Greisinnen, die verhaertet waren, mit einem Kern von Koestlichkeit in sich, den sie verbargen. Formlose, stark gewordene Frauen, die, stark geworden aus Erschoepfung, sich ihren Maennern aehnlich werden liessen und die doch innen ganz anders waren, dort, wo ihre Liebe gearbeitet hatte, im Dunkel. Gebaerende, die nie gebaeren wollten, und wenn sie endlich starben an der achten Geburt, so hatten sie die Gesten und das Leichte von Maedchen, die sich auf die Liebe freuen. Und die, die blieben neben Tobenden und Trinkern, weil sie das Mittel gefunden hatten, in sich so weit von ihnen zu sein wie nirgend sonst; und kamen sie unter die Leute, so konnten sies nicht verhalten und schimmerten, als gingen sie immer mit Seligen um. Wer kann sagen, wie viele es waren und welche. Es ist, als haetten sie im voraus die Worte vernichtet, mit denen man sie fassen koennte.

Aber nun, da so vieles anders wird, ist es nicht an uns, uns zu veraendern? Koennten wir nicht versuchen, uns ein wenig zu entwickeln, und unseren Anteil Arbeit in der Liebe langsam auf uns nehmen nach und nach? Man hat uns alle ihre Muehsal erspart, und so ist sie uns unter die Zerstreuungen geglitten, wie in eines Kindes Spiellade manchmal ein Stueck echter Spitze faellt und freut und nicht mehr freut und endlich daliegt unter Zerbrochenem und Auseinandergenommenem, schlechter als alles. Wir sind verdorben vom leichten Genuss wie alle Dilettanten und stehen im Geruch der Meisterschaft. Wie aber, wenn wir unsere Erfolge verachteten, wie, wenn wir ganz von vorne begaennen die Arbeit der Liebe zu lernen, die immer fuer uns getan worden ist? Wie, wenn wir hingingen und Anfaenger wuerden, nun, da sich vieles veraendert.

O weiss ich auch, wie es war, wenn Maman die kleinen Spitzenstuecke aufrollte. Sie hatte naemlich ein einziges von den Schubfaechern in Ingeborgs Sekretaer fuer sich in Gebrauch genommen.

"Wollen wir sie sehen, Malte", sagte sie und freute sich, als sollte sie eben alles geschenkt bekommen, was in der kleinen gelblackierten Lade war. Und dann konnte sie vor lauter Erwartung das Seidenpapier gar nicht auseinanderschlagen. Ich musste es tun jedesmal. Aber ich wurde auch ganz aufgeregt, wenn die Spitzen zum Vorschein kamen. Sie waren aufgewunden um eine Holzwelle, die gar nicht zu sehen war vor lauter Spitzen. Und nun wickelten wir sie langsam ab und sahen den Mustern zu, wie sie sich abspielten, und erschraken jedesmal ein wenig, wenn eines zu Ende war. Sie hoerten so ploetzlich auf.

Da kamen erst Kanten italienischer Arbeit, zaehe Stuecke mit ausgezogenen Faeden, in denen sich alles immerzu wiederholte, deutlich wie in einem Bauerngarten. Dann war auf einmal eine ganze Reihe unserer Blicke vergittert mit venezianischer Nadelspitze, als ob wir Kloester waeren oder Gefaengnisse. Aber es wurde wieder frei, und man sah weit in Gaerten hinein, die immer kuenstlicher wurden, bis es dicht und lau an den Augen war wie in einem Treibhaus: prunkvolle Pflanzen, die wir nicht kannten, schlugen riesige Blaetter auf, Ranken griffen nacheinander, als ob ihnen schwindelte, und die grossen offenen Blueten der Points d’Alencon truebten alles mit ihren Pollen. Ploetzlich, ganz muede und wirr, trat man hinaus in die lange Bahn der Valenciennes, und es war Winter und frueh am Tag und Reif. Und man draengte sich durch das verschneite Gebuesch der Binche und kam an Plaetze, wo noch keiner gegangen war; die Zweige hingen so merkwuerdig abwaerts, es konnte wohl ein Grab darunter sein, aber das verbargen wir voreinander. Die Kaelte drang immer dichter an uns heran, und schliesslich sagte Maman, wenn die kleinen, ganz feinen Kloeppelspitzen kamen: "Oeh, jetzt bekommen wir Eisblumen an den Augen", und so war es auch, denn es war innen sehr warm in uns.

Ueber dem Wiederaufrollen seufzten wir beide, das war eine lange Arbeit, aber wir mochten es niemandem ueberlassen.

"Denk nun erst, wenn wir sie machen muessten", sagte Maman und sah foermlich erschrocken aus. Das konnte ich mir gar nicht vorstellen. Ich ertappte mich darauf, dass ich an kleine Tiere gedacht hatte, die das immerzu spinnen und die man dafuer in Ruhe laesst. Nein, es waren ja natuerlich Frauen. "Die sind gewiss in den Himmel gekommen, die das gemacht haben", meinte ich bewundernd. Ich erinnere, es fiel mir auf, dass ich lange nicht nach dem Himmel gefragt hatte. Maman atmete auf, die Spitzen waren wieder beisammen. Nach einer Weile, als ich es schon wieder vergessen hatte, sagte sie ganz langsam: "In den Himmel? Ich glaube, sie sind ganz und gar da drin. Wenn man das so sieht: das kann gut eine ewige Seligkeit sein. Man weiss ja so wenig darueber."

Oft,wenn Besuch da war, hiess es, dass Schulins sich einschraenkten. Das grosse, alte Schloss war abgebrannt vor ein paar Jahren, und nun wohnten sie in den beiden engen Seitenfluegeln und schraenkten sich ein. Aber das Gaestehaben lag ihnen nun einmal im Blut. Das konnten sie nicht aufgeben. Kam jemand unerwartet zu uns, so kam er wahrscheinlich von Schulins; und sah jemand ploetzlich nach der Uhr und musste ganz erschrocken fort, so wurde er sicher auf Lystager erwartet.

Maman ging eigentlich schon nirgends mehr hin, aber so etwas konnten Schulins nicht begreifen; es blieb nichts uebrig, man musste einmal hinueberfahren. Es war im Dezember nach ein paar fruehen Schneefaellen; der Schlitten war auf drei Uhr befohlen, ich sollte mit. Man fuhr indessen nie puenktlich bei uns. Maman, die es nicht liebte, dass der Wagen gemeldet wurde, kam meistens viel zu frueh herunter, und wenn sie niemanden fand, so fiel ihr immer etwas ein, was schon laengst haette getan sein sollen, und sie begann irgendwo oben zu suchen oder zu ordnen, so dass sie kaum wieder zu erreichen war. Schliesslich standen alle und warteten. Und sass sie endlich und war eingepackt, so zeigte es sich, dass etwas vergessen sei, und Sieversen musste geholt werden; denn nur Sieversen wusste, wo es war. Aber dann fuhr man ploetzlich los, eh Sieversen wiederkam.

An diesem Tag war es ueberhaupt nicht recht hell geworden. Die Baeume standen da, als wuessten sie nicht weiter im Nebel, und es hatte etwas Rechthaberisches, dahinein zu fahren. Zwischendurch fing es an, still weiterzuschneien, und nun wars, als wuerde auch noch das Letzte ausradiert und als fuehre man in ein weisses Blatt. Es gab nichts als das Gelaeut, und man konnte nicht sagen, wo es eigentlich war. Es kam ein Moment, da es einhielt, als waere nun die letzte Schelle ausgegeben; aber dann sammelte es sich wieder und war beisammen und streute sich wieder aus dem Vollen aus. Den Kirchturm links konnte man sich eingebildet haben. Aber der Parkkontur war ploetzlich da, hoch, beinahe ueber einem, und man befand sich in der langen Allee. Das Gelaeut fiel nicht mehr ganz ab; es war, als haengte es sich in Trauben rechts und links an die Baeume. Dann schwenkte man und fuhr rund um etwas herum und rechts an etwas vorbei und hielt in der Mitte. Georg hatte ganz vergessen, dass das Haus nicht da war, und fuer uns alle war es in diesem Augenblick da. Wir stiegen die Freitreppe hinauf, die auf die alte Terrasse fuehrte, und wunderten uns nur, dass es ganz dunkel sei. Auf einmal ging eine Tuer, links unten hinter uns, und jemand rief: "Hierher!" und hob und schwenkte ein dunstiges Licht. Mein Vater lachte: "Wir steigen hier herum wie die Gespenster", und er half uns wieder die Stufen zurueck. "Aber es war doch eben ein Haus da", sagte Maman und konnte sich gar nicht so rasch an Wjera Schulin gewoehnen, die warm und lachend herausgelaufen war. Nun musste man natuerlich schnell hinein, und an das Haus war nicht mehr zu denken. In einem engen Vorzimmer wurde man ausgezogen, und dann war man gleich mitten drin unter den Lampen und der Waerme gegenueber. Diese Schulins waren ein maechtiges Geschlecht selbstaendiger Frauen. Ich weiss nicht, ob es Soehne gab. Ich erinnere mich nur dreier Schwestern; der aeltesten, die an einen Marchese in Neapel verheiratet gewesen war, von dem sie sich nun langsam unter vielen Prozessen schied. Dann kam Zoë, von der es hiess, dass es nichts gab, was sie nicht wusste. Und vor allem war Wjera da, diese warme Wjera; Gott weiss, was aus ihr geworden ist. Die Graefin, eine Narischkin, war eigentlich die vierte Schwester und in gewisser Beziehung die juengste. Sie wusste von nichts und musste in einem fort von ihren Kindern unterrichtet werden. Und der gute Graf Schulin fuehlte sich, als ob er mit allen diesen Frauen verheiratet sei, und ging herum und kuesste sie, wie es eben kam.

Vor der Hand lachte er laut und begruesste uns eingehend. Ich wurde unter den Frauen weitergegeben und befuehlt und befragt. Aber ich hatte mir fest vorgenommen, wenn das vorueber sei, irgendwie hinauszugleiten und mich nach dem Haus umzusehen. Ich war ueberzeugt, dass es heute da sei. Das Hinauskommen war nicht so schwierig; zwischen allen den Kleidern kam man unten durch wie ein Hund, und die Tuer nach dem Vorraum zu war noch angelehnt. Aber draussen die aeussere wollte nicht nachgeben. Da waren mehrere Vorrichtungen, Ketten und Riegel, die ich nicht richtig behandelte in der Eile. Ploetzlich ging sie doch auf, aber mit lautem Geraeusch, und eh ich draussen war, wurde ich festgehalten und zurueckgezogen.

"Halt, hier wird nicht ausgekniffen", sagte Wjera Schulin belustigt. Sie beugte sich zu mir, und ich war entschlossen, dieser warmen Person nichts zu verraten. Sie aber, als ich nichts sagte, nahm ohne weiters an, eine Noetigung meiner Natur haette mich an die Tuer getrieben; sie ergriff meine Hand und fing schon an zu gehen und wollte mich, halb vertraulich, halb hochmuetig, irgendwohin mitziehen. Dieses intime Missverstaendnis kraenkte mich ueber die Massen. Ich riss mich los und sah sie boese an. "Das Haus will ich sehen", sagte ich stolz. Sie begriff nicht.

"Das grosse Haus draussen an der Treppe."

"Schaf", machte sie und haschte nach mir, "da ist doch gar kein Haus mehr." Ich bestand darauf.

"Wir gehen einmal bei Tage hin", schlug sie einlenkend vor, "jetzt kann man da nicht herumkriechen. Es sind Loecher da, und gleich dahinter sind Papas Fischteiche, die nicht zufrieren duerfen. Da faellst du hinein und wirst ein Fisch."

Damit schob sie mich vor sich her wieder in die hellen Stuben. Da sassen sie alle und sprachen, und ich sah sie mir der Reihe nach an: die gehen natuerlich nur hin, wenn es nicht da ist, dachte ich veraechtlich; wenn Maman und ich hier wohnten, so waere es immer da. Maman sah zerstreut aus, waehrend alle zugleich redeten. Sie dachte gewiss an das Haus.

Zoë setzte sich zu mir und stellte mir Fragen. Sie hatte ein gutgeordnetes Gesicht, in dem sich das Einsehen von Zeit zu Zeit erneute, als saehe sie bestaendig etwas ein. Mein Vater sass etwas nach rechts geneigt und hoerte der Marchesin zu, die lachte. Graf Schulin stand zwischen Maman und seiner Frau und erzaehlte etwas. Aber die Graefin unterbrach ihn, sah ich, mitten im Satze.

"Nein, Kind, das bildest du dir ein", sagte der Graf gutmuetig, aber er hatte auf einmal dasselbe beunruhigte Gesicht, das er vorstreckte ueber den beiden Damen. Die Graefin war von ihrer sogenannten Einbildung nicht abzubringen. Sie sah ganz angestrengt aus, wie jemand, der nicht gestoert sein will. Sie machte kleine, abwinkende Bewegungen mit ihren weichen Ringhaenden, jemand sagte "sst", und es wurde ploetzlich ganz still. Hinter den Menschen draengten sich die grossen Gegenstaende aus dem alten Hause, viel zu nah. Das schwere Familiensilber glaenzte und woelbte sich, als saehe man es durch Vergroesserungsglaeser. Mein Vater sah sich befremdet um. "Mama riecht", sagte Wjera Schulin hinter ihm, "da muessen wir immer alle still sein, sie riecht mit den Ohren", dabei aber stand sie selbst mit hochgezogenen Augenbrauen da, aufmerksam und ganz Nase.

Die Schulins waren in dieser Beziehung ein bisschen eigen seit dem Brande. In den engen, ueberheizten Stuben kam jeden Augenblick ein Geruch auf, und dann untersuchte man ihn, und jeder gab seine Meinung ab. Zoë machte sich am Ofen zu tun, sachlich und gewissenhaft, der Graf ging umher und stand ein wenig in jeder Ecke und wartete; "hier ist es nicht", sagte er dann. Die Graefin war aufgestanden und wusste nicht, wo sie suchen sollte. Mein Vater drehte sich langsam um sich selbst, als haette er den Geruch hinter sich. Die Marchesin, die sofort angenommen hatte, dass es ein garstiger Geruch sei, hielt ihr Taschentuch vor und sah von einem zum andern, ob es vorueber waere. "Hier, hier", rief Wjera von Zeit zu Zeit, als haette sie ihn. Und um jedes Wort herum war es merkwuerdig still. Was mich angeht, so hatte ich fleissig mitgerochen. Aber auf einmal (war es die Hitze in den Zimmern oder das viele nahe Licht) ueberfiel mich zum erstenmal in meinem Leben etwas wie Gespensterfurcht. Es wurde mir klar, dass alle die deutlichen grossen Menschen, die eben noch gesprochen und gelacht hatten, gebueckt herumgingen und sich mit etwas Unsichtbarem beschaeftigten; dass sie zugaben, dass da etwas war, was sie nicht sahen. Und es war schrecklich, dass es staerker war als sie alle.

Meine Angst steigerte sich. Mir war, als koennte das, was sie suchten, ploetzlich aus mir ausbrechen wie ein Ausschlag; und dann wuerden sie es sehen und nach mir zeigen. Ganz verzweifelt sah ich nach Maman hinueber. Sie sass eigentuemlich gerade da, mir kam vor, dass sie auf mich wartete. Kaum war ich bei ihr und fuehlte, dass sie innen zitterte, so wusste ich, dass das Haus jetzt erst wieder verging.

"Malte, Feigling", lachte es irgendwo. Es war Wjeras Stimme. Aber wir liessen einander nicht los und ertrugen es zusammen; und wir blieben so, Maman und ich, bis das Haus wieder ganz vergangen war.

Am reichsten an beinah unfassbaren Erfahrungen waren aber doch die Geburtstage. Man wusste ja schon, dass das Leben sich darin gefiel, keine Unterschiede zu machen; aber zu diesem Tage stand man mit einem Recht auf Freude auf, an dem nicht zu zweifeln war. Wahrscheinlich war das Gefuehl dieses Rechts ganz frueh in einem ausgebildet worden, zu der Zeit, da man nach allem greift und rein alles bekommt und da man die Dinge, die man gerade festhaelt, mit unbeirrbarer Einbildungskraft zu der grundfarbigen Intensitaet des gerade herrschenden Verlangens steigert.

Dann aber kommen auf einmal jene merkwuerdigen Geburtstage, da man, im Bewusstsein dieses Rechtes voellig befestigt, die anderen unsicher werden sieht. Man moechte wohl noch wie frueher angekleidet werden und dann alles Weitere entgegennehmen. Aber kaum ist man wach, so ruft jemand draussen, die Torte sei noch nicht da; oder man hoert, dass etwas zerbricht, waehrend nebenan der Geschenktisch geordnet wird; oder es kommt jemand herein und laesst die Tuere offen, und man sieht alles, ehe man es haette sehen duerfen. Das ist der Augenblick, wo etwas wie eine Operation an einem geschieht. Ein kurzer, wahnsinnig schmerzhafter Eingriff. Aber die Hand, die ihn tut, ist geuebt und fest. Es ist gleich vorbei. Und kaum ist es ueberstanden, so denkt man nicht mehr an sich; es gilt, den Geburtstag zu retten, die anderen zu beobachten, ihren Fehlern zuvorzukommen, sie in ihrer Einbildung zu bestaerken, dass sie alles trefflich bewaeltigen. Sie machen es einem nicht leicht. Es erweist sich, dass sie von einer beispiellosen Ungeschicklichkeit sind, beinahe stupide. Sie bringen es zuwege, mit irgendwelchen Paketen hereinzukommen, die fuer andere Leute bestimmt sind; man laeuft ihnen entgegen und muss hernach tun, als liefe man ueberhaupt in der Stube herum, um sich Bewegung zu schaffen, auf nichts Bestimmtes zu. Sie wollen einen ueberraschen und heben mit oberflaechlich nachgeahmter Erwartung die unterste Lage in den Spielzeugschachteln auf, wo weiter nichts ist als Holzwolle; da muss man ihnen ihre Verlegenheit erleichtern. Oder wenn es etwas Mechanisches war, so ueberdrehen sie das, was sie einem geschenkt haben, beim ersten Aufziehen. Es ist deshalb gut, wenn man sich beizeiten uebt, eine ueberdrehte Maus oder dergleichen unauffaellig mit dem Fuss weiterzustossen: auf diese Weise kann man sie oft taeuschen und ihnen ueber die Beschaemung forthelfen.

Das alles leistete man schliesslich, wie es verlangt wurde, auch ohne besondere Begabung. Talent war eigentlich nur noetig, wenn sich einer Muehe gegeben hatte, und brachte, wichtig und gutmuetig, eine Freude, und man sah schon von weitem, dass es eine Freude fuer einen ganz anderen war, eine vollkommen fremde Freude; man wusste nicht einmal jemanden, dem sie gepasst haette: so fremd war sie.

Dass man erzaehlte, wirklich erzaehlte, das muss vor meiner Zeit gewesen sein. Ich habe nie jemanden erzaeh len hoeren. Damals, als Abelone mir von Mamans Jugend sprach, zeigte es sich, dass sie nicht erzaehlen koenne. Der alte Graf Brahe soll es noch gekonnt haben. Ich will aufschreiben, was sie davon wusste.

Abelone muss als ganz junges Maedchen eine Zeit gehabt haben, da sie von einer eigenen, weiten Bewegtheit war. Brahes wohnten damals in der Stadt, in der Bredgade, unter ziemlicher Geselligkeit. Wenn sie abends spaet hinauf in ihr Zimmer kam, so meinte sie muede zu sein wie die anderen. Aber dann fuehlte sie auf einmal das Fenster und, wenn ich recht verstanden habe, so konnte sie vor der Nacht stehn, stundenlang, und denken: das geht mich an. "Wie ein Gefangener stand ich da", sagte sie, "und die Sterne waren die Freiheit." Sie konnte damals einschlafen, ohne sich schwer zu machen. Der Ausdruck In-den-Schlaf-fallen passt nicht fuer dieses Maedchenjahr. Schlaf war etwas, was mit einem stieg, und von Zeit zu Zeit hatte man die Augen offen und lag auf einer neuen Oberflaeche, die noch lang nicht die oberste war. Und dann war man auf vor Tag; selbst im Winter, wenn die anderen schlaefrig und spaet zum spaeten Fruehstueck kamen. Abends, wenn es dunkel wurde, gab es ja immer nur Lichter fuer alle, gemeinsame Lichter. Aber diese beiden Kerzen ganz frueh in der neuen Dunkelheit, mit der alles wieder anfing, die hatte man fuer sich. Sie standen in ihrem niederen Doppelleuchter und schienen ruhig durch die kleinen, ovalen, mit Rosen bemalten Tuellschirme, die von Zeit zu Zeit nachgerueckt werden mussten. Das hatte nichts Stoerendes; denn einmal war man durchaus nicht eilig, und dann kam es doch so, dass man manchmal aufsehen musste und nachdenken, wenn man an einem Brief schrieb oder in das Tagebuch, das frueher einmal mit ganz anderer Schrift, aengstlich und schoen, begonnen war.

Der Graf Brahe lebte ganz abseits von seinen Toechtern. Er hielt es fuer Einbildung, wenn jemand behauptete, das Leben mit andern zu teilen. ("Ja, teilen—", sagte er.) Aber es war ihm nicht unlieb, wenn die Leute ihm von seinen Toechtern erzaehlten; er hoerte aufmerksam zu, als wohnten sie in einer anderen Stadt.

Es war deshalb etwas ganz Ausserordentliches, dass er einmal nach dem Fruehstueck Abelone zu sich winkte: "Wir haben die gleichen Gewohnheiten, wie es scheint, ich schreibe auch ganz frueh. Du kannst mir helfen." Abelone wusste es noch wie gestern.

Schon am anderen Morgen wurde sie in ihres Vaters Kabinett gefuehrt, das im Rufe der Unzugaenglichkeit stand. Sie hatte nicht Zeit, es in Augenschein zu nehmen, denn man setzte sie sofort gegen dem Grafen ueber an den Schreibtisch, der ihr wie eine Ebene schien mit Buechern und Schriftstoessen als Ortschaften.

Der Graf diktierte. Diejenigen, die behaupteten, dass Graf Brahe seine Memoiren schriebe, hatten nicht voellig unrecht. Nur dass es sich nicht um politische oder militaerische Erinnerungen handelte, wie man mit Spannung erwartete. "Die vergesse ich", sagte der alte Herr kurz wenn ihn jemand auf solche Tatsachen hin anredete. Was er aber nicht vergessen wollte, das war seine Kindheit. Auf die hielt er. Und es war ganz in der Ordnung, seiner Meinung nach, dass jene sehr entfernte Zeit nun in ihm die Oberhand gewann, dass sie, wenn er seinen Blick nach innen kehrte, dalag wie in einer hellen nordischen Sommernacht, gesteigert und schlaflos.

Manchmal sprang er auf und redete in die Kerzen hinein, dass sie flackerten. Oder ganze Saetze mussten wieder durchgestrichen werden, und dann ging er heftig hin und her und wehte mit seinem nilgruenen, seidenen Schlafrock. Waehrend alledem war noch eine Person zugegen, Sten, des Grafen alter, juetlaendischer Kammerdiener, dessen Aufgabe es war, wenn der Grossvater aufsprang, die Haende schnell ueber die einzelnen losen Blaetter zu legen, die, mit Notizen bedeckt, auf dem Tische herumlagen. Seine Gnaden hatten die Vorstellung, dass das heutige Papier nichts tauge, dass es viel zu leicht sei und davonfliege bei der geringsten Gelegenheit. Und Sten, von dem man nur die lange obere Haelfte sah, teilte diesen Verdacht und sass gleichsam auf seinen Haenden, lichtblind und ernst wie ein Nachtvogel. Dieser Sten verbrachte die Sonntag-Nachmittage damit, Swedenborg zu lesen, und niemand von der Dienerschaft haette je sein Zimmer betreten moegen, weil es hiess, dass er zitiere. Die Familie Stens hatte seit je Umgang mit Geistern gehabt, und Sten war fuer diesen Verkehr ganz besonders vorausbestimmt. Seiner Mutter war etwas erschienen in der Nacht, da sie ihn gebar. Er hatte grosse, runde Augen, und das andere Ende seines Blicks kam hinter jeden zu liegen, den er damit ansah. Abelonens Vater fragte ihn oft nach den Geistern, wie man sonst jemanden nach seinen Angehoerigen fragt: "Kommen sie, Sten?" sagte er wohlwollend. "Es ist gut, wenn sie kommen." Ein paar Tage ging das Diktieren seinen Gang. Aber dann konnte Abelone ’Eckernfoerde’ nicht schreiben. Es war ein Eigenname, und sie hatte ihn nie gehoert. Der Graf, der im Grunde schon lange einen Vorwand suchte, das Schreiben aufzugeben, das zu langsam war fuer seine Erinnerungen stellte sich unwillig.

"Sie kann es nicht schreiben", sagte er scharf, "und andere werden es nicht lesen koennen. Und werden sie es ueberhaupt sehen, was ich da sage?" fuhr er boese fort und liess Abelone nicht aus den Augen.

"Werden sie ihn sehen, diesen Saint-Germain?" schrie er sie an. "Haben wir Saint-Germain gesagt? streich es durch. Schreib: der Marquis von Belmare." Abelone strich durch und schrieb. Aber der Graf sprach so schnell weiter, dass man nicht mitkonnte.

"Er mochte Kinder nicht leiden, dieser vortreffliche Belmare, aber mich nahm er auf sein Knie, so klein ich war, und mir kam die Idee, in seine Diamantknoepfe zu beissen. Das freute ihn. Er lachte und hob mir den Kopf, bis wir einander in die Augen sahen: ’Du hast ausgezeichnete Zaehne’, sagte er, ’Zaehne, die etwas unternehmen...’—Ich aber merkte mir seine Augen. Ich bin spaeter da und dort herumgekommen. Ich habe allerhand Augen gesehen, kannst du mir glauben: solche nicht wieder. Fuer diese Augen haette nichts da sein muessen, die hattens in sich. Du hast von Venedig gehoert? Gut. Ich sage dir, die haetten Venedig hier hereingesehen in dieses Zimmer, dass es da gewesen waere, wie der Tisch. Ich sass in der Ecke einmal und hoerte, wie er meinem Vater von Persien erzaehlte, manchmal mein ich noch, mir riechen die Haende davon. Mein Vater schaetzte ihn, und Seine Hoheit, der Landgraf, war so etwas wie sein Schueler. Aber es gab natuerlich genug, die ihm uebelnahmen, dass er an die Vergangenheit nur glaubte, wenn sie in ihm war. Das konnten sie nicht begreifen, dass der Kram nur Sinn hat, wenn man damit geboren wird."

"Die Buecher sind leer", schrie der Graf mit einer wuetenden Gebaerde nach den Waenden hin, "das Blut, dar auf kommt es an, da muss man drin lesen koennen. Er hatte wunderliche Geschichten drin und merkwuerdige Abbildungen, dieser Belmare; er konnte aufschlagen, wo er wollte, da war immer was beschrieben; keine Seite in seinem Blut war ueberschlagen worden. Und wenn er sich einschloss von Zeit zu Zeit und allein drin blaetterte, dann kam er zu den Stellen ueber das Goldmachen und ueber die Steine und ueber die Farben. Warum soll das nicht darin gestanden haben? es steht sicher irgendwo." "Er haette gut mit einer Wahrheit leben koennen, dieser Mensch, wenn er allein gewesen waere. Aber es war keine Kleinigkeit, allein zu sein mit einer solchen. Und er war nicht so geschmacklos, die Leute einzuladen, dass sie ihn bei seiner Wahrheit besuchten; die sollte nicht ins Gerede kommen: dazu war er viel zu sehr Orientale. ’Adieu, Madame’, sagte er ihr wahrheitsgemaess, ’auf ein anderes Mal. Vielleicht ist man in tausend Jahren etwas kraeftiger und ungestoerter. Ihre Schoenheit ist ja doch erst im Werden, Madame’, sagte er, und das war keine blosse Hoeflichkeit. Damit ging er fort und legte draussen fuer die Leute seinen Tierpark an, eine Art Jardin d’Acclimatation fuer die groesseren Arten von Luegen, die man bei uns noch nie gesehen hatte, und ein Palmenhaus von Uebertreibungen und eine kleine, gepflegte Figuerie falscher Geheimnisse. Da kamen sie von allen Seiten, und er ging herum mit Diamantschnallen an den Schuhen und war ganz fuer seine Gaeste da."

"Eine oberflaechliche Existenz: wie? Im Grunde wars doch eine Ritterlichkeit gegen seine Dame, und er hat sich ziemlich dabei konserviert." Seit einer Weile schon redete der Alte nicht mehr auf Abelone ein, die er vergessen hatte. Er ging wie rasend auf und ab und warf herausfordernde Blicke auf Sten, als sollte Sten in einem gewissen Augenblicke sich in den verwandeln, an den er dachte. Aber Sten verwandelte sich noch nicht. "Man muesste ihn sehen,"fuhr Graf Brahe versessen fort. "Es gab eine Zeit, wo er durchaus sichtbar war, obwohl in manchen Staedten die Briefe, die er empfing, an niemanden gerichtet waren: es stand nur der Ort darauf, sonst nichts. Aber ich hab ihn gesehen."

"Er war nicht schoen." Der Graf lachte eigentuemlich eilig. "Auch nicht, was die Leute bedeutend nennen oder vornehm: es waren immer Vornehmere neben ihm. Er war reich: aber das war bei ihm nur wie ein Einfall, daran konnte man sich nicht halten. Er war gut gewachsen, obzwar andere hielten sich besser. Ich konnte damals natuerlich nicht beurteilen, ob er geistreich war und das und dies, worauf Wert gelegt wird—: aber er war." Der Graf, bebend, stand und machte eine Bewegung, als stellte er etwas in den Raum hinein, was blieb.

In diesem Moment gewahrte er Abelone.

"Siehst du ihn?" herrschte er sie an. Und ploetzlich ergriff er den einen silbernen Armleuchter und leuchtete ihr blendend ins Gesicht. In den naechsten Tagen wurde Abelone regelmaessig gerufen, und das Diktieren ging nach diesem Zwischenfall viel ruhiger weiter. Der Graf stellte nach allerhand Papieren seine fruehesten Erinnerungen an den Bernstorffschen Kreis zusammen, in dem sein Vater eine gewisse Rolle spielte. Abelone war jetzt so gut auf die Besonderheiten ihrer Arbeit eingestellt, dass, wer die beiden sah, ihre zweckdienliche Gemeinsamkeit leicht fuer ein wirkliches Vertrautsein nehmen konnte.

Einmal, als Abelone sich schon zurueckziehen wollte, trat der alte Herr auf sie zu, und es war, als hielte er die Haende mit einer Ueberraschung hinter sich: "Morgen schreiben wir von Julie Reventlow", sagte er und kostete seine Worte: "das war eine Heilige."

Wahrscheinlich sah Abelone ihn unglaeubig an.

"Ja, ja, das giebt es alles noch", bestand er in befehlendem Tone, "es giebt alles, Komtesse Abel."

Er nahm Abelonens Haende und schlug sie auf wie ein Buch.

"Sie hatte die Stigmata", sagte er, "hier und hier." Und er tippte mit seinem kalten Finger hart und kurz in ihre beiden Handflaechen. Den Ausdruck Stigmata kannte Abelone nicht. Es wird sich zeigen, dachte sie; sie war recht ungeduldig, von der Heiligen zu hoeren, die ihr Vater noch gesehen hatte. Aber sie wurde nicht mehr geholt, nicht am naechsten Morgen und auch spaeter nicht.-"Von der Graefin Reventlow ist ja dann oft bei euch gesprochen worden", schloss Abelone kurz, als ich sie bat, mehr zu erzaehlen. Sie sah muede aus; auch behauptete sie, das Meiste vergessen zu haben. "Aber die Stellen fuehl ich noch manchmal", laechelte sie und konnte es nicht lassen und schaute beinah neugierig in ihre leeren Haende.

Noch vor meines Vaters Tod war alles anders geworden. Ulsgaard war nicht mehr in unserm Besitz. Mein Vater starb in der Stadt, in einer Etagenwohnung, die mir feindsaelig und befremdlich schien. Ich war damals schon im Ausland und kam zu spaet.

Er war aufgebahrt in einem Hofzimmer zwischen zwei Reihen hoher Kerzen. Der Geruch der Blumen war unverstaendlich wie viele gleichzeitige Stimmen. Sein schoenes Gesicht, darin die Augen geschlossen worden waren, hatte einen Ausdruck hoeflichen Erinnerns. Er war eingekleidet in die Jaegermeisters-Uniform, aber aus irgendeinem Grunde hatte man das weisse Band aufgelegt, statt des blauen. Die Haende waren nicht gefaltet, sie lagen schraeg uebereinander und sahen nachgemacht und sinnlos aus. Man hatte mir rasch erzaehlt, dass er viel gelitten habe: es war nichts davon zu sehen. Seine Zuege waren aufgeraeumt wie die Moebel in einem Fremdenzimmer, aus dem jemand abgereist war. Mir war zumute, als haette ich ihn schon oefter tot gesehen: so gut kannte ich das alles.

Neu war nur die Umgebung, auf eine unangenehme Art. Neu war dieses bedrueckende Zimmer, das Fenster gegenueber hatte, wahrscheinlich die Fenster anderer Leute. Neu war es, dass Sieversen von Zeit zu Zeit hereinkam und nichts tat. Sieversen war alt geworden. Dann sollte ich fruehstuecken. Mehrmals wurde mir das Fruehstueck gemeldet. Mir lag durchaus nichts daran, zu fruehstuecken an diesem Tage. Ich merkte nicht, dass man mich forthaben wollte; schliesslich, da ich nicht ging, brachte Sieversen es irgendwie heraus, dass die Aerzte da waeren. Ich begriff nicht, wozu. Es waere da noch etwas zu tun, sagte Sieversen und sah mich mit ihren roten Augen angestrengt an. Dann traten, etwas ueberstuerzt, zwei Herren herein: das waren die Aerzte. Der vordere senkte seinen Kopf mit einem Ruck, als haette er Hoerner und wollte stossen, um uns ueber seine Glaeser fort anzusehen: erst Sieversen, dann mich.

Er verbeugte sich mit studentischer Foermlichkeit. "Der Herr Jaegermeister hatte noch einen Wunsch", sagte er genau so, wie er eingetreten war; man hatte wieder das Gefuehl, dass er sich ueberstuerzte. Ich noetigte ihn irgendwie, seinen Blick durch seine Glaeser zu richten. Sein Kollege war ein voller, duennschaliger, blonder Mensch; es fiel mir ein, dass man ihn leicht zum Erroeten bringen koennte. Darueber entstand eine Pause. Es war seltsam, dass der Jaegermeister jetzt noch Wuensche hatte.

Ich blickte unwillkuerlich wieder hin in das schoene, gleichmaessige Gesicht. Und da wusste ich, dass er Sicherheit wollte. Die hatte er im Grunde immer gewuenscht. Nun sollte er sie bekommen.

"Sie sind wegen des Herzstichs da: bitte."

Ich verneigte mich und trat zurueck. Die beiden Aerzte verbeugten sich gleichzeitig und begannen sofort sich ueber ihre Arbeit zu verstaendigen. Jemand rueckte auch schon die Kerzen beiseite. Aber der Aeltere machte nochmals ein paar Schritte auf mich zu. Aus einer gewissen Naehe streckte er sich vor, um das letzte Stueck Weg zu ersparen, und sah mich boese an. "Es ist nicht noetig", sagte er, "das heisst, ich meine, es ist vielleicht besser, wenn Sie... "

Er kam mir vernachlaessigt und abgenutzt vor in seiner sparsamen und eiligen Haltung. Ich verneigte mich abermals; es machte sich so, dass ich mich schon wieder verneigte.

"Danke", sagte ich knapp. "Ich werde nicht stoeren."

Ich wusste, dass ich dieses ertragen wuerde und dass kein Grund da war, sich dieser Sache zu entziehen. Das hatte so kommen muessen. Das war vielleicht der Sinn von dem Ganzen. Auch hatte ich nie gesehen, wie es ist, wenn jemand durch die Brust gestochen wird. Es schien mir in der Ordnung, eine so merkwuerdige Erfahrung nicht abzulehnen, wo sie sich zwanglos und unbedingt einstellte. An Enttaeuschungen glaubte ich damals eigentlich schon nicht mehr; also war nichts zu befuerchten.

Nein, nein, vorstellen kann man sich nichts auf der Welt, nicht das Geringste. Es ist alles aus so viel einzigen Einzelheiten zusammengesetzt, die sich nicht absehen lassen. Im Einbilden geht man ueber sie weg und merkt nicht, dass sie fehlen, schnell wie man ist. Die Wirklichkeiten aber sind langsam und unbeschreiblich ausfuehrlich.

Wer haette zum Beispiel an diesen Widerstand gedacht. Kaum war die breite, hohe Brust blossgelegt, so hatte der eilige kleine Mann schon die Stelle heraus, um die es sich handelte. Aber das rasch angesetzte Instrument drang nicht ein. Ich hatte das Gefuehl, als waere ploetzlich alle Zeit fort aus dem Zimmer. Wir befanden uns wie in einem Bilde. Aber dann stuerzte die Zeit nach mit einem kleinen, gleitenden Geraeusch, und es war mehr da, als verbraucht wurde. Auf einmal klopfte es irgendwo. Ich hatte noch nie so klopfen hoeren: ein warmes, verschlossenes, doppeltes Klopfen. Mein Gehoer gab es weiter, und ich sah zugleich, dass der Arzt auf Grund gestossen war. Aber es dauerte eine Weile, bevor die beiden Eindruecke in mir zusammenkamen. So, so, dachte ich, nun ist es also durch. Das Klopfen war, was das Tempo betrifft, beinah schadenfroh.

Ich sah mir den Mann an, den ich nun schon so lange kannte. Nein, er war voellig beherrscht: ein rasch und sachlich arbeitender Herr, der gleich weiter musste. Es war keine Spur von Genuss oder Genugtuung dabei. Nur an seiner linken Schlaefe hatten sich ein paar Haare aufgestellt aus irgendeinem alten Instinkt. Er zog das Instrument vorsichtig zurueck, und es war etwas wie ein Mund da, aus dem zweimal hintereinander Blut austrat, als sagte er etwas Zweisilbiges. Der junge, blonde Arzt nahm es schnell mit einer eleganten Bewegung in seine Watte auf. Und nun blieb die Wunde ruhig, wie ein geschlossenes Auge.

Es ist anzunehmen, dass ich mich noch einmal verneigte, ohne diesmal recht bei der Sache zu sein. Wenigstens war ich erstaunt, mich allein zu finden. Jemand hatte die Uniform wieder in Ordnung gebracht, und das weisse Band lag darueber wie vorher. Aber nun war der Jaegermeister tot, und nicht er allein. Nun war das Herz durchbohrt, unser Herz, das Herz unseres Geschlechts. Nun war es vorbei. Das war also das Helmzerbrechen: "Heute Brigge und nimmermehr", sagte etwas in mir.

An mein Herz dachte ich nicht. Und als es mir spaeter einfiel, wusste ich zum erstenmal ganz gewiss, dass es hierfuer nicht in Betracht kam. Es war ein einzelnes Herz. Es war schon dabei, von Anfang anzufangen.

Ich weiss, dass ich mir einbildete, nicht sofort wieder abreisen zu koennen. Erst muss alles geordnet sein, wiederholte ich mir. Was geordnet sein wollte, war mir nicht klar. Es war so gut wie nichts zu tun. Ich ging in der Stadt umher und konstatierte, dass sie sich veraendert hatte. Es war mir angenehm, aus dem Hotel hinauszutreten, in dem ich abgestiegen war, und zu sehen, dass es nun eine Stadt fuer Erwachsene war, die sich fuer einen zusammennahm, fast wie fuer einen Fremden. Ein bisschen klein war alles geworden, und ich promenierte die Langelinie hinaus bis an den Leuchtturm und wieder zurueck. Wenn ich in die Gegend der Amaliengade kam, so konnte es freilich geschehen, dass von irgendwo etwas ausging, was man jahrelang anerkannt hatte und was seine Macht noch einmal versuchte. Es gab da gewisse Eckfenster oder Torbogen oder Laternen, die viel von einem wussten und damit drohten. Ich sah ihnen ins Gesicht und liess sie fuehlen, dass ich im Hotel ’Phoenix’ wohnte und jeden Augenblick wieder reisen konnte. Aber mein Gewissen war nicht ruhig dabei. Der Verdacht stieg in mir auf, dass noch keiner dieser Einfluesse und Zusammenhaenge wirklich bewaeltigt worden war. Man hatte sie eines Tages heimlich verlassen, unfertig wie sie waren. Auch die Kindheit wuerde also gewissermassen noch zu leisten sein, wenn man sie nicht fuer immer verloren geben wollte. Und waehrend ich begriff, wie ich sie verlor, empfand ich zugleich, dass ich nie etwas anderes haben wuerde, mich darauf zu berufen.

Ein paar Stunden taeglich brachte ich in Dronningens Tværgade zu, in den engen Zimmern, die beleidigt aussahen wie alle Mietswohnungen, in denen jemand gestorben ist. Ich ging zwischen dem Schreibtisch und dem grossen weissen Kachelofen hin und her und verbrannte die Papiere des Jaegermeisters. Ich hatte begonnen, die Briefschaften, so wie sie zusammengebunden waren, ins Feuer zu werfen, aber die kleinen Pakete waren zu fest verschnuert und ver kohlten nur an den Raendern. Es kostete mich Ueberwindung, sie zu lockern. Die meisten hatten einen starken, ueberzeugenden Duft, der auf mich eindrang, als wollte er auch in mir Erinnerungen aufregen. Ich hatte keine. Dann konnte es geschehen, dass Photographien herausglitten, die schwerer waren als das andere; diese Photographien verbrannten unglaublich langsam. Ich weiss nicht, wie es kam, ploetzlich bildete ich mir ein, es koennte Ingeborgs Bild darunter sein. Aber sooft ich hinsah, waren es reife, grossartige, deutlich schoene Frauen, die mich auf andere Gedanken brachten. Es erwies sich naemlich, dass ich doch nicht ganz ohne Erinnerungen war. Genau solche Augen waren es, in denen ich mich manchmal fand, wenn ich, zur Zeit da ich heranwuchs, mit meinem Vater ueber die Strasse ging. Dann konnten sie von einem Wageninnern aus mich mit einem Blick umgeben, aus dem kaum hinauszukommen war. Nun wusste ich, dass sie mich damals mit ihm verglichen und dass der Vergleich nicht zu meinen Gunsten ausfiel. Gewiss nicht, Vergleiche hatte der Jaegermeister nicht zu fuerchten.

Es kann sein, dass ich nun etwas weiss, was er gefuerchtet hat. Ich will sagen, wie ich zu dieser Annahme komme. Ganz innen in seiner Brieftasche befand sich ein Papier, seit lange gefaltet, muerbe, gebrochen in den Buegen. Ich habe es gelesen, bevor ich es verbrannte. Es war von seiner besten Hand, sicher und gleichmaessig geschrieben, aber ich merkte gleich, dass es nur eine Abschrift war.

"Drei Stunden vor seinem Tod", so begann es und handelte von Christian dem Vierten. Ich kann den Inhalt natuerlich nicht woertlich wiederholen. Drei Stunden vor seinem Tod begehrte er aufzustehen. Der Arzt und der Kammerdiener Wormius halfen ihm auf die Fuesse. Er stand ein wenig unsicher, aber er stand, und sie zogen ihm das gesteppte Nachtkleid an. Dann setzte er sich ploetzlich vorn an das Bettende und sagte etwas. Es war nicht zu verstehen. Der Arzt behielt immerzu seine linke Hand, damit der Koenig nicht auf das Bett zuruecksinke. So sassen sie, und der Koenig sagte von Zeit zu Zeit muehsam und truebe das Unverstaendliche. Schliesslich begann der Arzt ihm zuzusprechen; er hoffte allmaehlich zu erraten, was der Koenig meinte. Nach einer Weile unterbrach ihn der Koenig und sagte auf einmal ganz klar: "O, Doktor, Doktor, wie heisst er?" Der Arzt hatte Muehe, sich zu besinnen. "Sperling, Allergnaedigster Koenig."

Aber darauf kam es nun wirklich nicht an. Der Koenig, sobald er hoerte, dass man ihn verstand, riss das rechte Auge, das ihm geblieben war, weit auf und sagte mit dem ganzen Gesicht das eine Wort, das seine Zunge seit Stunden formte, das einzige, das es noch gab: "Doeden", sagte er, "Doeden." (Der Tod, der Tod)

Mehr stand nicht auf dem Blatt. Ich las es mehrere Male, ehe ich es verbrannte. Und es fiel mir ein, dass mein Vater viel gelitten hatte zuletzt. So hatte man mir erzaehlt.

Seitdem habe ich viel ueber die Todesfurcht nachgedacht, nicht ohne gewisse eigene Erfahrungen dabei zu beruecksichtigen. Ich glaube, ich kann wohl sagen, ich habe sie gefuehlt. Sie ueberfiel mich in der vollen Stadt, mitten unter den Leuten, oft ganz ohne Grund. Oft allerdings haeuften sich die Ursachen; wenn zum Beispiel jemand auf einer Bank verging und alle standen herum und sahen ihm zu, und er war schon ueber das Fuerchten hinaus: dann hatte ich seine Furcht. Oder in Neapel damals: da sass diese junge Person mir gegenueber in der Elektrischen Bahn und starb. Erst sah es wie eine Ohnmacht aus, wir fuhren sogar noch eine Weile. Aber dann war kein Zweifel, dass wir stehenbleiben mussten. Und hinter uns standen die Wagen und stauten sich, als ginge es in dieser Richtung nie mehr weiter. Das blasse, dicke Maedchen haette so, angelehnt an ihre Nachbarin, ruhig sterben koennen. Aber ihre Mutter gab das nicht zu. Sie bereitete ihr alle moeglichen Schwierigkeiten. Sie brachte ihre Kleider in Unordnung und goss ihr etwas in den Mund, der nichts mehr behielt. Sie verrieb auf ihrer Stirn eine Fluessigkeit, die jemand gebracht hatte, und wenn die Augen dann ein wenig verrollten, so begann sie an ihr zu ruetteln, damit der Blick wieder nach vorne kaeme. Sie schrie in diese Augen hinein, die nicht hoerten, sie zerrte und zog das Ganze wie eine Puppe hin und her, und schliesslich holte sie aus und schlug mit aller Kraft in das dicke Gesicht, damit es nicht stuerbe. Damals fuerchtete ich mich.

Aber ich fuerchtete mich auch schon frueher. Zum Beispiel, als mein Hund starb. Derselbe, der mich einfuer allemal beschuldigte. Er war sehr krank. Ich kniete bei ihm schon den ganzen Tag, da ploetzlich bellte er auf, ruckweise und kurz, wie er zu tun pflegte, wenn ein Fremder ins Zimmer trat. Ein solches Bellen war fuer diesen Fall zwischen uns gleichsam verabredet worden, und ich sah unwillkuerlich nach der Tuer. Aber es war schon in ihm. Beunruhigt suchte ich seinen Blick, und auch er suchte den meinen; aber nicht um Abschied zu nehmen. Er sah mich hart und befremdet an. Er warf mir vor, dass ich es hereingelassen hatte. Er war ueberzeugt, ich haette es hindern koennen. Nun zeigte es sich, dass er mich immer ueberschaetzt hatte. Und es war keine Zeit mehr, ihn aufzuklaeren. Er sah mich befremdet und einsam an, bis es zu Ende war.

Oder ich fuerchtete mich, wenn im Herbst nach den ersten Nachtfroesten die Fliegen in die Stuben kamen und sich noch einmal in der Waerme erholten. Sie waren merkwuerdig vertrocknet und erschraken bei ihrem eigenen Summen; man konnte sehen, dass sie nicht mehr recht wussten, was sie taten. Sie sassen stundenlang da und liessen sich gehen, bis es ihnen einfiel, dass sie noch lebten; dann warfen sie sich blindlings irgendwohin und begriffen nicht, was sie dort sollten, und man hoerte sie weiterhin niederfallen und drueben und anderswo. Und endlich krochen sie ueberall und bestarben langsam das ganze Zimmer.

Aber sogar wenn ich allein war, konnte ich mich fuetchten. Warum soll ich tun, als waeren jene Naechte nicht gewesen, da ich aufsass vor Todesangst und mich daran klammerte, dass das Sitzen wenigstens noch etwas Lebendiges sei: dass Tote nicht sassen. Das war immer in einem von diesen zufaelligen Zimmern, die mich sofort im Stich liessen, wenn es mir schlecht ging, als fuerchteten sie, verhoert und in meine argen Sachen verwickelt zu werden. Da sass ich, und wahrscheinlich sah ich so schrecklich aus, dass nichts den Mut hatte, sich zu mir zu bekennen. Nicht einmal das Licht, dem ich doch eben den Dienst erwiesen hatte, es anzuzuenden, wollte von mir wissen. Es brannte so vor sich hin, wie in einem leeren Zimmer. Meine letzte Hoffnung war dann immer das Fenster. Ich bildete mir ein, dort draussen koennte noch etwas sein, was zu mir gehoerte, auch jetzt, auch in dieser ploetzlichen Armut des Sterbens. Aber kaum hatte ich hingesehen, so wuenschte ich, das Fenster waere verrammelt gewesen, zu, wie die Wand. Denn nun wusste ich, dass es dort hinaus immer gleich teilnahmslos weiterging, dass auch draussen nichts als meine Einsamkeit war. Die Einsamkeit, die ich ueber mich gebracht hatte und zu deren Groesse mein Herz in keinem Verhaeltnis mehr stand. Menschen fielen mir ein, von denen ich einmal fortgegangen war, und ich begriff nicht, wie man Menschen verlassen konnte.

Mein Gott, mein Gott, wenn mir noch solche Naechte bevorstehen, lass mir doch wenigstens einen von den Gedanken, die ich zuweilen denken konnte. Es ist nicht so unvernuenftig, was ich da verlange; denn ich weiss, dass sie gerade aus der Furcht gekommen sind, weil meine Furcht so gross war. Da ich ein Knabe war, schlugen sie mich ins Gesicht und sagten mir, dass ich feige sei. Das war, weil ich mich noch schlecht fuerchtete. Aber seitdem habe ich mich fuerchten gelernt mit der wirklichen Furcht, die nur zunimmt, wenn die Kraft zunimmt, die sie erzeugt. Wir haben keine Vorstellung von dieser Kraft, ausser in unserer Furcht. Denn so ganz unbegreiflich ist sie, so voellig gegen uns, dass unser Gehirn sich zersetzt an der Stelle, wo wir uns anstrengen, sie zu denken. Und dennoch, seit einer Weile glaube ich, dass es unsere Kraft ist, alle unsere Kraft, die noch zu stark ist fuer uns. Es ist wahr, wir kennen sie nicht, aber ist es nicht gerade unser Eigenstes, wovon wir am wenigsten wissen? Manchmal denke ich mir, wie der Himmel entstanden ist und der Tod: dadurch, dass wir unser Kostbarstes von uns fortgerueckt haben, weil noch so viel anderes zu tun war vorher und weil es bei uns Beschaeftigten nicht in Sicherheit war. Nun sind Zeiten darueber vergangen, und wir haben uns an Geringeres gewoehnt. Wir erkennen unser Eigentum nicht mehr und entsetzen uns vor seiner aeussersten Grossheit. Kann das nicht sein?

Ich begreife uebrigens jetzt gut, dass man ganz innen in der ieftasche die Beschreibung einer Sterbestunde bei sich traegt durch alle die Jahre. Es muesste nicht einmal eine besonders gesuchte sein; sie haben alle etwas fast Seltenes. Kann man sich zum Beispiel nicht jemanden vorstellen, der sich abschreibt, wie Felix Arvers gestorben ist. Es war im Hospital. Er starb auf eine sanfte und gelassene Weise, und die Nonne meinte vielleicht, dass er damit schon weiter sei, als er in Wirklichkeit war. Sie rief ganz laut irgend eine Weisung hinaus, wo das und das zu finden waere. Es war eine ziemlich ungebildete Nonne; sie hatte das Wort Korridor, das im Augenblick nicht zu vermeiden war, nie geschrieben gesehen; so konnte es geschehen, dass sie ’Kollidor’ sagte in der Meinung, es hiesse so. Da schob Arvers das Sterben hinaus. Es schien ihm noetig, dieses erst aufzuklaeren. Er wurde ganz klar und setzte ihr auseinander, dass es ’Korridor’ hiesse. Dann starb er. Er war ein Dichter und hasste das Ungefaehre; oder vielleicht war es ihm nur um die Wahrheit zu tun; oder es stoerte ihn, als letzten Eindruck mitzunehmen, dass die Welt so nachlaessig weiterginge. Das wird nicht mehr zu entscheiden sein. Nur soll man nicht glauben, dass es Pedanterie war. Sonst traefe derselbe Vorwurf den heiligen Jean de Dieu, der in seinem Sterben aufsprang und gerade noch zurechtkam, im Garten den eben Erhaengten abzuschneiden, von dem auf wunderbare Art Kunde in die verschlossene Spannung seiner Agonie gedrungen war. Auch ihm war es nur um die Wahrheit zu tun.

Es giebt ein Wesen, das vollkommen unschaedlich ist, wenn es dir in die Augen kommt, du merkst es kaum und hast es gleich wieder vergessen. Sobald es dir aber unsichtbar auf irgendeine Weise ins Gehoer geraet, so entwickelt es sich dort, es kriecht gleichsam aus, und man hat Faelle gesehen, wo es bis ins Gehirn vordrang und in diesem Organ verheerend gedieh, aehnlich den Pneumokokken des Hundes, die durch die Nase eindringen. Dieses Wesen ist der Nachbar.

Nun, ich habe, seit ich so vereinzelt herumkomme, unzaehlige Nachbaren gehabt; obere und untere, rechte und linke, manchmal alle vier Arten zugleich. Ich koennte einfach die Geschichte meiner Nachbaren schreiben; das waere ein Lebenswerk. Es waere freilich mehr die Geschichte der Krankheitserscheinungen, die sie in mir erzeugt haben; aber das teilen sie mit allen derartigen Wesen, dass sie nur in den Stoerungen nachzuweisen sind, die sie in gewissen Geweben hervorrufen.

Ich habe unberechenbare Nachbaren gehabt und sehr regelmaessige. Ich habe gesessen und das Gesetz der ersten herauszufinden versucht; denn es war klar, dass auch sie eines hatten. Und wenn die puenktlichen einmal am Abend ausblieben, so hab ich mir ausgemalt, was ihnen koennte zugestossen sein, und habe mein Licht brennen lassen und mich geaengstigt wie eine junge Frau. Ich habe Nachbaren gehabt, die gerade hassten, und Nachbaren, die in eine heftige Liebe verwickelt waren; oder ich erlebte es, dass bei ihnen eines in das andere umsprang mitten in der Nacht, und dann war natuerlich an Schlafen nicht zu denken. Da konnte man ueberhaupt beobachten, dass der Schlaf durchaus nicht so haeufig ist, wie man meint. Meine beiden Petersburger Nachbaren zum Beispiel gaben nicht viel auf Schlaf. Der eine stand und spielte die Geige, und ich bin sicher, dass er dabei hinuebersah in die ueberwachen Haeuser, die nicht aufhoerten hell zu sein in den unwahrscheinlichen Augustnaechten. Von dem anderen zur Rechten weiss ich allerdings, dass er lag; er stand zu meiner Zeit ueberhaupt nicht mehr auf. Er hatte sogar die Augen geschlossen; aber man konnte nicht sagen, dass er schlief. Er lag und sagte lange Gedichte her, Gedichte von Puschkin und Nekrassow, in dem Tonfall, in dem Kinder Gedichte hersagen, wenn man es von ihnen verlangt. Und trotz der Musik meines linken Nachbars, war es dieser mit seinen Gedichten, der sich in meinem Kopfe einpuppte, und Gott weiss, was da ausgekrochen waere, wenn nicht der Student, der ihn zuweilen besuchte, sich eines Tages in der Tuer geirrt haette. Er erzaehlte mir die Geschichte seines Bekannten, und es ergab sich, dass sie gewissermassen beruhigend war. Jedenfalls war es eine woertliche, eindeutige Geschichte, an der die vielen Wuermer meiner Vermutungen zugrunde gingen. Dieser kleine Beamte da nebenan war eines Sonntags auf die Idee gekommen, eine merkwuerdige Aufgabe zu loesen. Er nahm an, dass er recht lange leben wuerde, sagen wir noch fuenfzig Jahre. Die Grossmuetigkeit, die er sich damit erwies, versetzte ihn in eine glaenzende Stimmung. Aber nun wollte er sich selber uebertreffen. Er ueberlegte, dass man diese Jahre in Tage, in Stunden, in Minuten, ja, wenn man es aushielt, in Sekunden umwechseln koenne, und er rechnete und rechnete, und es kam eine Summe heraus, wie er noch nie eine gesehen hatte. Ihn schwindelte. Er musste sich ein wenig erholen. Zeit war kostbar, hatte er immer sagen hoeren, und es wunderte ihn, dass man einen Menschen, der eine solche Menge Zeit besass, nicht geradezu bewachte. Wie leicht konnte er bestohlen werden. Dann aber kam seine gute, beinah ausgelassene Laune wieder, er zog seinen Pelz an, um etwas breiter und stattlicher auszusehen, und machte sich das ganze fabelhafte Kapital zum Geschenk, indem er sich ein bisschen herablassend anredete: "Nikolaj Kusmitsch", sagte er wohlwollend und stellte sich vor, dass er ausserdem noch, ohne Pelz, duenn und duerftig auf dem Rosshaarsofa saesse, "ich hoffe, Nikolaj Kusmitsch", sagte er, "Sie werden sich nichts auf Ihren Reichtum einbilden. Bedenken Sie immer, dass das nicht die Hauptsache ist, es giebt arme Leute, die durchaus respekta bel sind; es giebt sogar verarmte Edelleute und Generalstoechter, die auf der Strasse herumgehen und etwas verkaufen." Und der Wohltaeter fuehrte noch allerlei in der ganzen Stadt bekannte Beispiele an.

Der andere Nikolaj Kusmitsch, der auf dem Rosshaarsofa, der Beschenkte, sah durchaus noch nicht uebermuetig aus, man durfte annehmen, dass er vernuenftig sein wuerde. Er aenderte in der Tat nichts an seiner bescheidenen, regelmaessigen Lebensfuehrung, und die Sonntage brachte er nun damit zu, seine Rechnung in Ordnung zu bringen. Aber schon nach ein paar Wochen fiel es ihm auf, dass er unglaublich viel ausgaebe. Ich werde mich einschraenken, dachte er. Er stand frueher auf, er wusch sich weniger ausfuehrlich, er trank stehend seinen Tee, er lief ins Bureau und kam viel zu frueh. Er ersparte ueberall ein bisschen Zeit. Aber am Sonntag war nichts Erspartes da. Da begriff er, dass er betrogen sei. Ich haette nicht wechseln duerfen, sagte er sich. Wie lange hat man an so einem Jahr. Aber da, dieses infame Kleingeld, das geht hin, man weiss nicht wie. Und es wurde ein haesslicher Nachmittag, als er in der Sofaecke sass und auf den Herrn im Pelz wartete, von dem er seine Zeit zurueckverlangen wollte. Er wollte die Tuer verriegeln und ihn nicht fortlassen, bevor er nicht damit herausgerueckt war. "In Scheinen", wollte er sagen, "meinetwegen zu zehn Jahren." Vier Scheine zu zehn und einer zu fuenf, und den Rest sollte er behalten, in des Teufels Namen. Ja, er war bereit, ihm den Rest zu schenken, nur damit keine Schwierigkeiten entstuenden. Gereizt sass er im Rosshaarsofa und wartete, aber der Herr kam nicht. Und er, Nikolaj Kusmitsch, der sich vor ein paar Wochen mit Leichtigkeit so hatte dasitzen sehen, er konnte sich jetzt, da er wirklich sass, den andern Nikolaj Kusmitsch, den im Pelz, den Grossmuetigen, nicht vorstellen. Weiss der Himmel, was aus ihm geworden war, wahrscheinlich war man seinen Betruegereien auf die Spur gekommen, und er sass nun schon irgendwo fest. Sicher hatte er nicht ihn allein ins Unglueck gebracht. Solche Hochstapler arbeiten immer im grossen.

Es fiel ihm ein, dass es eine staatliche Behoerde geben muesse, eine Art Zeitbank, wo er wenigstens einen Teil seiner lumpigen Sekunden umwechseln koenne. Echt waren sie doch schliesslich. Er hatte nie von einer solchen Anstalt gehoert, aber im Adressbuch wuerde gewiss etwas Derartiges zu finden sein, unter Z, oder vielleicht auch hiess es ’Bank fuer Zeit’; man konnte leicht unter B nachsehen. Eventuell war auch der Buchstabe K zu beruecksichtigen, denn es war anzunehmen, dass es ein kaiserliches Institut war; das entsprach seiner Wichtigkeit.

Spaeter versicherte Nikolaj Kusmitsch immer, dass er an jenem Sonntag Abend, obwohl er sich begreiflicherweise in recht gedrueckter Stimmung befand, nichts getrunken habe. Er war also voellig nuechtern, als das Folgende passierte, soweit man ueberhaupt sagen kann, was da geschah. Vielleicht, dass er ein bisschen in seiner Ecke eingeschlummert war, das liesse sich immerhin denken. Dieser kleine Schlaf verschaffte ihm zunaechst lauter Erleichterung. Ich habe mich mit den Zahlen eingelassen, redete er sich zu. Nun, ich verstehe nichts von Zahlen. Aber es ist klar, dass man ihnen keine zu grosse Bedeutung einraeumen darf; sie sind doch sozusagen nur eine Einrichtung von Staats wegen, um der Ordnung willen. Niemand hatte doch je anderswo als auf dem Papier eine gesehen. Es war ausgeschlossen, dass einem zum Beispiel in einer Gesellschaft eine Sieben oder eine Fuenfundzwanzig begegnete. Da gab es die einfach nicht. Und dann war da diese kleine Verwechslung vorgefallen, aus purer Zerstreutheit: Zeit und Geld, als ob sich das nicht auseinanderhalten liesse. Nikolaj Kusmitsch lachte beinah. Es war doch gut, wenn man sich so auf die Schliche kam, und rechtzeitig, das war das Wichtige, rechtzeitig. Nun sollte es anders werden. Die Zeit, ja, das war eine peinliche Sache. Aber betraf es etwa ihn allein, ging sie nicht auch den andern so, wie er es herausgefunden hatte, in Sekunden, auch wenn sie es nicht wussten?

Nikolaj Kusmitsch war nicht ganz frei von Schadenfreude: Mag sie immerhin—, wollte er eben denken, aber da geschah etwas Eigentuemliches. Es wehte ploetzlich an seinem Gesicht, es zog ihm an den Ohren vorbei, er fuehlte es an den Haenden. Er riss die Augen auf. Das Fenster war fest verschlossen. Und wie er da so mit weiten Augen im dunkeln Zimmer sass, da begann er zu verstehen, dass das, was er nun verspuerte, die wirkliche Zeit sei, die vorueberzog. Er erkannte sie foermlich, alle diese Sekuendchen, gleich lau, eine wie die andere, aber schnell, aber schnell. Weiss der Himmel, was sie noch vorhatten. Dass gerade ihm das widerfahren musste, der jede Art von Wind als Beleidigung empfand. Nun wuerde man dasitzen, und es wuerde immer so weiterziehen, das ganze Leben lang. Er sah alle die Neuralgien voraus, die man sich dabei holen wuerde, er war ausser sich vor Wut. Er sprang auf, aber die Uberraschungen waren noch nicht zu Ende. Auch unter seinen Fuessen war etwas wie eine Bewegung, nicht nur eine, mehrere, merkwuerdig durcheinanderschwankende Bewegungen. Er erstarrte vor Entsetzen: konnte das die Erde sein? Gewiss, das war die Erde. Sie bewegte sich ja doch. In der Schule war davon gesprochen worden, man war etwas eilig darueber weggegangen, und spaeter wurde es gern vertuscht; es galt nicht fuer passend, davon zu sprechen. Aber nun, da er einmal empfindlich geworden war, bekam er auch das zu fuehlen. Ob die anderen es fuehlten? Vielleicht, aber sie zeigten es nicht. Wahrscheinlich machte es ihnen nichts aus, diesen Seeleuten. Nikolaj Kusmitsch aber war ausgerechnet in diesem Punkt etwas delikat, er vermied sogar die Strassenbahnen. Er taumelte im Zimmer umher wie auf Deck und musste sich rechts und links halten. Zum Unglueck fiel ihm noch etwas von der schiefen Stellung der Erdachse ein. Nein, er konnte alle diese Bewegungen nicht vertragen. Er fuehlte sich elend. Liegen und ruhig halten, hatte er einmal irgendwo gelesen. Und seither lag Nikolaj Kusmitsch.

Er lag und hatte die Augen geschlossen. Und es gab Zeiten, weniger bewegte Tage sozusagen, wo es ganz ertraeglich war. Und dann hatte er sich das ausgedacht mit den Gedichten. Man sollte nicht glauben, wie das half. Wenn man so ein Gedicht langsam hersagte, mit gleichmaessiger Betonung der Endreime, dann war gewissermassen etwas Stabiles da, worauf man sehen konnte, innerlich versteht sich. Ein Glueck, dass er alle diese Gedichte wusste. Aber er hatte sich immer ganz besonders fuer Literatur interessiert. Er beklagte sich nicht ueber seinen Zustand, versicherte mir der Student, der ihn lange kannte. Nur hatte sich mit der Zeit eine uebertriebene Bewunderung fuer die in ihm herausgebildet, die, wie der Student, herumgingen und die Bewegung der Erde vertrugen.

Ich erinnere mich dieser Geschichte so genau, weil sie mich ungemein beruhigte. Ich kann wohl sagen, ich habe nie wieder einen so angenehmen Nachbar gehabt, wie diesen Nikolaj Kusmitsch, der sicher auch mich bewundert haette.

Ich nahm mir nach dieser Erfahrung vor, in aehnlichen Faellen immer gleich auf die Tatsachen loszugehen. Ich merkte, wie einfach und erleichternd sie waren, den Vermutungen gegenueber. Als ob ich nicht gewusst haette, dass alle unsere Einsichten nachtraeglich sind, Abschluesse, nichts weiter. Gleich dahinter faengt eine neue Seite an mit etwas ganz anderem, ohne Uebertrag. Was halfen mir jetzt im gegenwaertigen Falle die paar Tatsachen, die sich spielend feststellen liessen. Ich will sie gleich aufzaehlen, wenn ich gesagt haben werde, was mich augenblicklich beschaeftigt: dass sie eher dazu beigetragen haben, meine Lage, die (wie ich jetzt eingestehe) recht schwierig war, noch laestiger zu gestalten.

Es sei zu meiner Ehre gesagt, dass ich viel geschrieben habe in diesen Tagen; ich habe krampfhaft geschrieben. Allerdings, wenn ich ausgegangen war, so dachte ich nicht gerne an das Nachhausekommen. Ich machte sogar kleine Umwege und verlor auf diese Art eine halbe Stunde, waehrend welcher ich haette schreiben koennen. Ich gebe zu, dass dies eine Schwaeche war. War ich aber einmal in meinem Zimmer, so hatte ich mir nichts vorzuwerfen. Ich schrieb, ich hatte mein Leben, und das da nebenan war ein ganz anderes Leben, mit dem ich nichts teilte: das Leben eines Studenten der Medizin, der fuer sein Examen studierte. Ich hatte nichts Aehnliches vor mir, schon das war ein entscheidender Unterschied. Und auch sonst waren unsere Umstaende so verschieden wie moeglich. Das alles leuchtete mir ein. Bis zu dem Moment, da ich wusste, dass es kommen wuerde; da vergass ich, dass es zwischen uns keine Gemeinsamkeit gab. Ich horchte so, dass mein Herz ganz laut wurde. Ich liess alles und horchte. Und dann kam es: ich habe mich nie geirrt.

Beinah jeder kennt den Laerm, den irgendein blechernes, rundes Ding, nehmen wir an, der Deckel einer Blechbuechse, verursacht, wenn er einem entglitten ist. Gewoehnlich kommt er gar nicht einmal sehr laut unten an, er faellt kurz auf, rollt auf dem Rande weiter und wird eigentlich erst unangenehm, wenn der Schwung zu Ende geht und er nach allen Seiten taumelnd aufschlaegt, eh er ins Liegen kommt. Nun also: das ist das Ganze; so ein blecherner Gegenstand fiel nebenan, rollte, blieb liegen, und dazwischen, in gewissen Abstaenden, stampfte es. Wie alle Geraeusche, die sich wiederholt durchsetzen, hatte auch dieses sich innerlich organisiert; es wandelte sich ab, es war niemals genau dasselbe. Aber gerade das sprach fuer seine Gesetzmaessigkeit. Es konnte heftig sein oder milde oder melancholisch; es konnte gleichsam ueberstuerzt voruebergehen oder unendlich lange hingleiten, eh es zur Ruhe kam. Und das letzte Schwanken war immer ueberraschend. Dagegen hatte das Aufstampfen, das hinzukam, etwas fast Mechanisches. Aber es teilte den Laerm immer anders ab, das schien seine Aufgabe zu sein. Ich kann diese Einzelheiten jetzt viel besser uebersehen; das Zimmer neben mir ist leer. Er ist nach Hause gereist, in die Provinz. Er sollte sich erholen. Ich wohne im obersten Stockwerk. Rechts ist ein anderes Haus, unter mir ist noch niemand eingezogen: ich bin ohne Nachbar. In dieser Verfassung wundert es mich beinah, dass ich die Sache nicht leichter nahm. Obwohl ich doch jedesmal im voraus gewarnt war durch mein Gefuehl. Das waere auszunutzen gewesen. Erschrick nicht, haette ich mir sagen muessen, jetzt kommt es; ich wusste ja, dass ich mich niemals taeuschte. Aber das lag vielleicht gerade an den Tatsachen, die ich mir hatte sagen lassen; seit ich sie wusste, war ich noch schreckhafter geworden. Es beruehrte mich fast gespenstisch, dass das, was diesen Laerm ausloeste, jene kleine, langsame, lautlose Bewegung war, mit der sein Augenlid sich eigenmaechtig ueber sein rechtes Auge senkte und schloss, waehrend er las. Dies war das Wesentliche an seiner Geschichte, eine Kleinigkeit. Er hatte schon ein paar Mal die Examen vorbeigehen lassen muessen, sein Ehrgeiz war empfindlich geworden, und die Leute daheim draengten wahrscheinlich, sooft sie schrieben. Was blieb also uebrig, als sich zusammenzunehmen. Aber da hatte sich, ein paar Monate vor der Entscheidung, diese Schwaeche eingestellt; diese kleine, unmoegliche Ermuedung, die so laecherlich war, wie wenn ein Fenstervorhang nicht oben bleiben will. Ich bin sicher, dass er wochenlang der Meinung war, man muesste das beherrschen koennen. Sonst waere ich nicht auf die Idee verfallen, ihm meinen Willen anzubieten. Eines Tages begriff ich naemlich, dass der seine zu Ende sei. Und seither, wenn ich es kommen fuehlte, stand ich da auf meiner Seite der Wand und bat ihn, sich zu bedienen. Und mit der Zeit wurde mir klar, dass er darauf einging. Vielleicht haette er das nicht tun duerfen, besonders wenn man bedenkt, dass es eigentlich nichts half. Angenommen sogar, dass wir die Sache ein wenig hinhielten, so bleibt es doch fraglich, ob er wirklich imstande war, die Augenblicke, die wir so gewannen, auszunutzen. Und was meine Ausgaben betrifft, so begann ich sie zu fuehlen. Ich weiss, ich fragte mich, ob das so weitergehen duerfe, gerade an dem Nachmittag, als jemand in unserer Etage ankam. Dies ergab bei dem engen Aufgang immer viel Unruhe in dem kleinen Hotel. Eine Weile spaeter schien es mir, als trete man bei meinem Nachbar ein. Unsere Tueren waren die letzten im Gang, die seine quer und dicht neben der meinen. Ich wusste indessen, dass er zuweilen Freunde bei sich sah, und, wie gesagt, ich interessierte mich durchaus nicht fuer seine Verhaeltnisse. Es ist moeglich, dass seine Tuer noch mehrmals geoeffnet wurde, dass man draussen kam und ging. Dafuer war ich wirklich nicht verantwortlich.

Nun an diesem selben Abend war es aerger denn je. Es war noch nicht sehr spaet, aber ich war aus Muedigkeit schon zu Bett gegangen; ich hielt es fuer wahrscheinlich, dass ich schlafen wuerde. Da fuhr ich auf, als haette man mich beruehrt. Gleich darauf brach es los. Es sprang und rollte und rannte irgendwo an und schwankte und klappte. Das Stampfen war fuerchterlich. Dazwischen klopfte man unten, einen Stock tiefer, deutlich und boese gegen die Decke. Auch der neue Mieter war natuerlich gestoert. Jetzt: das musste seine Tuere sein. Ich war so wach, dass ich seine Tuere zu hoeren meinte, obwohl er erstaunlich vorsichtig damit umging. Es kam mir vor, als naehere er sich. Sicher wollte er wissen, in welchem Zimmer es sei. Was mich befremdete, war seine wirklich uebertriebene Ruecksicht. Er hatte doch eben bemerken koennen, dass es auf Ruhe nicht ankam in diesem Hause. Warum in aller Welt unterdrueckte er seinen Schritt? Eine Weile glaubte ich ihn an meiner Tuer; und dann vernahm ich, darueber war kein Zweifel, dass er nebenan eintrat. Er trat ohne weiteres nebenan ein.

Und nun (ja, wie soll ich das beschreiben?), nun wurde es still. Still, wie wenn ein Schmerz aufhoert. Eine eigentuemlich fuehlbare, prickelnde Stille, als ob eine Wunde heilte. Ich haette sofort schlafen koennen; ich haette Atem holen koennen und einschlafen. Nur mein Erstaunen hielt mich wach. Jemand sprach nebenan, aber auch das gehoerte mit in die Stille. Das muss man erlebt haben, wie diese Stille war, wiedergeben laesst es sich nicht. Auch draussen war alles wie ausgeglichen. Ich sass auf, ich horchte, es war wie auf dem Lande. Lieber Gott, dachte ich, seine Mutter ist da. Sie sass neben dem Licht, sie redete ihm zu, vielleicht hatte er den Kopf ein wenig gegen ihre Schulter gelegt. Gleich wuerde sie ihn zu Bett bringen. Nun begriff ich das leise Gehen draussen auf dem Gang. Ach, dass es das gab. So ein Wesen, vor dem die Tueren ganz anders nachgeben als vor uns. Ja, nun konnten wir schlafen.

Ich habe meinen Nachbar fast schon vergessen. Ich sehe wohl, dass es keine richtige Teilnahme war, was ich fuer ihn hatte. Unten frage ich zwar zuweilen im Voruebergehen, ob Nachrichten von ihm da sind und welche. Und ich freue mich, wenn sie gut sind. Aber ich uebertreibe. Ich habe eigentlich nicht noetig, das zu wissen. Das haengt gar nicht mehr mit ihm zusammen, dass ich manchmal einen ploetzlichen Reiz verspuere, nebenan einzutreten. Es ist nur ein Schritt von meiner Tuer zu der anderen, und das Zimmer ist nicht verschlossen. Es wuerde mich interessieren, wie dieses Zimmer eigentlich beschaffen ist. Man kann sich mit Leichtigkeit ein beliebiges Zimmer vorstellen, und oft stimmt es dann ungefaehr. Nur das Zimmer, das man neben sich hat, ist immer ganz anders, als man es sich denkt.

Ich sage mir, dass es dieser Umstand ist, der mich reizt. Aber ich weiss ganz gut, dass es ein gewisser blecherner Gegenstand ist, der auf mich wartet. Ich habe angenommen, dass es sich wirklich um einen Buechsendeckel handelt, obwohl ich mich natuerlich irren kann. Das beunruhigt mich nicht. Es entspricht nun einmal meiner Anlage, die Sache auf einen Buechsendeckel zu schieben. Man kann denken, dass er ihn nicht mitgenommen hat. Wahrscheinlich hat man aufgeraeumt, man hat den Deckel auf seine Buechse gesetzt, wie es sich gehoert. Und nun bilden die beiden zusammen den Begriff Buechse, runde Buechse, genau ausgedrueckt, einen einfachen, sehr bekannten Begriff. Mir ist, als entsaenne ich mich, dass sie auf dem Kamin stehn, die beiden, die die Buechse ausmachen. Ja, sie stehn sogar vor dem Spiegel, so dass dahinter noch eine Buechse entsteht, eine taeuschend aehnliche, imaginaere. Eine Buechse, auf die wir gar keinen Wert legen, nach der aber zum Beispiel ein Affe greifen wuerde. Richtig, es wuerden sogar zwei Affen danach greifen, denn auch der Affe waere doppelt, sobald er auf dem Kaminrand ankaeme. Nun also, es ist der Deckel dieser Buechse, der es auf mich abgesehen hat. Einigen wir uns darueber: der Deckel einer Buechse, einer gesunden Buechse, deren Rand nicht anders gebogen ist, als sein eigener, so ein Deckel muesste kein anderes Verlangen kennen, als sich auf seiner Buechse zu befinden; dies muesste das Ausserste sein, was er sich vorzustellen vermag; eine nicht zu uebertreffende Befriedigung, die Erfuellung aller seiner Wuensche. Es ist ja auch etwas geradezu Ideales, geduldig und sanft eingedreht auf der kleinen Gegenwulst gleichmaessig aufzuruhen und die eingreifende Kante in sich zu fuehlen, elastisch und gerade so scharf, wie man selber am Rande ist, wenn man einzeln daliegt. Ach, aber wie wenige Deckel giebt es, die das noch zu schaetzen wissen. Hier zeigt es sich so recht, wie verwirrend der Umgang mit den Menschen auf die Dinge gewirkt hat. Die Menschen naemlich, wenn es angeht, sie ganz voruebergehend mit solchen Deckeln zu vergleichen, sitzen hoechst ungern und schlecht auf ihren Beschaeftigungen. Teils weil sie nicht auf die richtigen gekommen sind in der Eile, teils weil man sie schief und zornig aufgesetzt hat, teils weil die Raender, die aufeinander gehoeren, verbogen sind, jeder auf eine andere Art. Sagen wir es nur ganz aufrichtig: sie denken im Grunde nur daran, sobald es sich irgend tun laesst, hinunterzuspringen, zu rollen und zu blechern. Wo kaemen sonst alle diese sogenannten Zerstreuungen her und der Laerm, den sie verursachen? Die Dinge sehen das nun schon seit Jahrhunderten an. Es ist kein Wunder, wenn sie verdorben sind, wenn sie den Geschmack verlieren an ihrem natuerlichen, stillen Zweck und das Dasein so ausnutzen moechten, wie sie es rings um sich ausgenutzt sehen. Sie machen Versuche, sich ihren Anwendungen zu entziehen, sie werden unlustig und nachlaessig, und die Leute sind gar nicht erstaunt, wenn sie sie auf einer Ausschweifung ertappen. Sie kennen das so gut von sich selbst. Sie aergern sich, weil sie die Staerkeren sind, weil sie mehr Recht auf Abwechslung zu haben meinen, weil sie sich nachgeaefft fuehlen; aber sie lassen die Sache gehen, wie sie sich selber gehen lassen. Wo aber einer ist, der sich zusammennimmt, ein Einsamer etwa, der so recht rund auf sich beruhen wollte Tag und Nacht, da fordert er geradezu den Widerspruch, den Hohn, den Hass der entarteten Geraete heraus, die, in ihrem argen Gewissen, nicht mehr vertragen koennen, dass etwas sich zusammenhaelt und nach seinem Sinne strebt. Da verbinden sie sich, um ihn zu stoeren, zu schrecken, zu beirren, und wissen, dass sie es koennen. Da fangen sie, einander zuzwinkernd, die Verfuehrung an, die dann ins Unermessene weiter waechst und alle Wesen und Gott selber hinreisst gegen den Einen, der vielleicht uebersteht: den Heiligen.

Wie begreif ich jetzt die wunderlichen Bilder, darinnen Dinge von beschraenkten und regelmaessigen Gebrauchen sich ausspannen und sich luestern und neugierig aneinander versuchen, zuckend in der ungefaehren Unzucht der Zerstreuung. Diese Kessel, die kochend herumgehen, diese Kolben, die auf Gedanken kommen, und die muessigen Trichter, die sich in ein Loch draengen zu ihrem Vergnuegen. Und da sind auch schon, vom eifersuechtigen Nichts heraufgeworfen, Gliedmassen und Glieder unter ihnen und Gesichter, die warm in sie hineinvomieren, und blasende Gesaesse, die ihnen den Gefallen tun.

Und der Heilige kruemmt sich und zieht sich zusammen; aber in seinen Augen war noch ein Blick, der dies fuer moeglich hielt: er hat hingesehen. Und schon schlagen sich seine Sinne nieder aus der hellen Loesung seiner Seele. Schon entblaettert sein Gebet und steht ihm aus dem Mund wie ein eingegangener Strauch. Sein Herz ist umgefallen und ausgeflossen ins Truebe hinein. Seine Geissel trifft ihn schwach wie ein Schwanz, der Fliegen verjagt. Sein Geschlecht ist wieder nur an einer Stelle, und wenn eine Frau aufrecht durch das Gehudel kommt, den offenen Busen voll Brueste, so zeigt es auf sie wie ein Finger.

Es gab Zeiten, da ich diese Bilder fuer veraltet hielt. Nicht, als ob ich an ihnen zweifelte. Ich konnte mir denken, dass dies den Heiligen geschah, damals, den eifernden Vor eiligen, die gleich mit Gott anfangen wollten um jeden Preis. Wir muten uns dies nicht mehr zu. Wir ahnen, dass er zu schwer ist fuer uns, dass wir ihn hinausschieben muessen, um langsam die lange Arbeit zu tun, die uns von ihm trennt. Nun aber weiss ich, dass diese Arbeit genau so bestritten ist wie das Heiligsein; dass dies da um jeden entsteht, der um ihretwillen einsam ist, wie es sich bildete um die Einsamen Gottes in ihren Hoehlen und leeren Herbergen, einst.

Wenn man von den Einsamen spricht, setzt man immer zuviel voraus. Man meint, die Leute wuessten, um was es sich handelt. Nein, sie wissen es nicht. Sie haben nie einen Einsamen gesehen, sie haben ihn nur gehasst, ohne ihn zu kennen. Sie sind seine Nachbaren gewesen, die ihn aufbrauchten, und die Stimmen im Nebenzimmer, die ihn versuchten. Sie haben die Dinge aufgereizt gegen ihn, dass sie laermten und ihn uebertoenten. Die Kinder verbanden sich wider ihn, da er zart und ein Kind war, und mit jedem Wachsen wuchs er gegen die Erwachsenen an. Sie spuerten ihn auf in seinem Versteck wie ein jagdbares Tier, und seine lange Jugend war ohne Schonzeit. Und wenn er sich nicht erschoepfen liess und davonkam, so schrieen sie ueber das, was von ihm ausging, und nannten es haesslich und verdaechtigten es. Und hoerte er nicht darauf, so wurden sie deutlicher und assen ihm sein Essen weg und atmeten ihm seine Luft aus und spieen in seine Armut, dass sie ihm widerwaertig wuerde. Sie brachten Verruf ueber ihn wie ueber einen Ansteckenden und warfen ihm Steine nach, damit er sich rascher entfernte. Und sie hatten recht in ihrem alten Instinkt: denn er war wirklich ihr Feind. Aber dann, wenn er nicht aufsah, besannen sie sich. Sie ahnten, dass sie ihm mit alledem seinen Willen taten; dass sie ihn in seinem Alleinsein bestaerkten und ihm halfen, sich abzuscheiden von ihnen fuer immer. Und nun schlugen sie um und wandten das Letzte an, das Aeusserste, den anderen Widerstand: den Ruhm. Und bei diesem Laermen blickte fast jeder auf und wurde zerstreut.

Diese Nacht ist mir das kleine gruene Buch wieder eingefallen, das ich als Knabe einmal besessen haben muss; und ich weiss nicht, warum ich mir einbilde, dass es von Mathilde Brahe stammte. Es interessierte mich nicht, da ich es bekam, und ich las es erst mehrere Jahre spaeter, ich glaube in der Ferienzeit auf Ulsgaard. Aber wichtig war es mir vom ersten Augenblick an. Es war durch und durch voller Bezug, auch aeusserlich betrachtet. Das Gruen des Einbandes bedeutete etwas, und man sah sofort ein, dass es innen so sein musste, wie es war. Als ob das verabredet worden waere, kam zuerst dieses glatte, weiss in weiss gewaesserte Vorsatzblatt und dann die Titelseite, die man fuer geheimnisvoll hielt. Es haetten wohl Bilder drin sein koennen, so sah es aus; aber es waren keine, und man musste, fast wider Willen, zugeben, dass auch das in der Ordnung sei. Es entschaedigte einen irgendwie, an einer bestimmten Stelle das schmale Leseband zu finden, das, muerbe und ein wenig schraeg, ruehrend in seinem Vertrauen, noch rosa zu sein, seit Gott weiss wann immer zwischen den gleichen Seiten lag. Vielleicht war es nie benutzt worden, und der Buchbinder hatte es rasch und fleissig da hineingebogen, ohne recht hinzusehen. Moeglicherweise aber war es kein Zufall. Es konnte sein, dass jemand dort zu lesen aufgehoert hatte, der nie wieder las; dass das Schicksal in diesem Moment an seiner Tuere klopfte, um ihn zu beschaeftigen, dass er weit von allen Buechern weggeriet, die doch schliesslich nicht das Leben sind. Das war nicht zu erkennen, ob das Buch weitergelesen worden war. Man konnte sich auch denken, dass es sich einfach darum handelte, diese Stelle aufzuschlagen wieder und wieder, und dass es dazu gekommen war, wenn auch manchmal erst spaet in der Nacht. Jedenfalls hatte ich eine Scheu vor den beiden Seiten, wie vor einem Spiegel, vor dem jemand steht. Ich habe sie nie gelesen. Ich weiss ueberhaupt nicht, ob ich das ganze Buch gelesen habe. Es war nicht sehr stark, aber es standen eine Menge Geschichten drin, besonders am Nachmittag; dann war immer eine da, die man noch nicht kannte.

Ich erinnere nur noch zwei. Ich will sagen, welche: Das Ende des Grischa Otrepjow und Karls des Kuehnen Untergang.

Gott weiss, ob es mir damals Eindruck machte. Aber jetzt, nach so viel Jahren, entsinne ich mich der Beschreibung, wie der Leichnam des falschen Zaren unter die Menge geworfen worden war und dalag drei Tage, zerfetzt und zerstochen und eine Maske vor dem Gesicht. Es ist natuerlich gar keine Aussicht, dass mir das kleine Buch je wieder in die Haende kommt. Aber diese Stelle muss merkwuerdig gewesen sein. Ich haette auch Lust, nachzulesen, wie die Begegnung mit der Mutter verlief. Er mag sich sehr sicher gefuehlt haben, da er sie nach Moskau kommen liess; ich bin sogar ueberzeugt, dass er zu jener Zeit so stark an sich glaubte, dass er in der Tat seine Mutter zu berufen meinte. Und diese Marie Nagoi, die in schnellen Tagreisen aus ihrem duerftigen Kloster kam, gewann ja auch alles, wenn sie zustimmte. Ob aber seine Unsicherheit nicht gerade damit begann, dass sie ihn anerkannte? Ich bin nicht abgeneigt zu glauben, die Kraft seiner Verwandlung haette darin beruht, niemandes Sohn mehr zu sein.

(Das ist schliesslich die Kraft aller jungen Leute, die fortgegangen sind.) Das Volk, das sich ihn erwuenschte, ohne sich einen vorzustellen, machte ihn nur noch freier und unbegrenzter in seinen Moeglichkeiten. Aber die Erklaerung der Mutter hatte, selbst als bewusster Betrug, noch die Macht, ihn zu verringern; sie hob ihn aus der Fuelle seiner Erfindung; sie beschraenkte ihn auf ein muedes Nachahmen; sie setzte ihn auf den Einzelnen herab, der er nicht war: sie machte ihn zum Betrueger. Und nun kam, leiser aufloesend, diese Marina Mniczek hinzu, die ihn auf ihre Art leugnete, indem sie, wie sich spaeter erwies, nicht an ihn glaubte, sondern an jeden. Ich kann natuerlich nicht dafuer einstehen, wie weit das alles in jener Geschichte beruecksichtigt war. Dies, scheint mir, waere zu erzaehlen gewesen. Aber auch abgesehen davon, ist diese Begebenheit durchaus nicht veraltet. Es waere jetzt ein Erzaehler denkbar, der viel Sorgfalt an die letzten Augenblicke wendete; er haette nicht unrecht. Es geht eine Menge in ihnen vor: Wie er aus dem innersten Schlaf ans Fenster springt und ueber das Fenster hinaus in den Hof zwischen die Wachen. Er kann allein nicht auf; sie muessen ihm helfen. Wahrscheinlich ist der Fuss gebrochen. An zwei von den Maennern gelehnt, fuehlt er, dass sie an ihn glauben. Er sieht sich um: auch die andern glauben an ihn. Sie dauern ihn fast, diese riesigen Strelitzen, es muss weit gekommen sein: sie haben Iwan Grosnij gekannt in all seiner Wirklichkeit, und glauben an ihn. Er haette Lust, sie aufzuklaeren, aber den Mund oeffnen, hiesse einfach schreien. Der Schmerz im Fuss ist rasend, und er haelt so wenig von sich in diesem Moment, dass er nichts weiss als den Schmerz. Und dann ist keine Zeit. Sie draengen heran, er sieht den Schuiskij und hinter ihm alle. Gleich wird es vorueber sein. Aber da schliessen sich seine Wachen. Sie geben ihn nicht auf. Und ein Wunder geschieht. Der Glauben dieser alten Maenner pflanzt sich fort, auf einmal will niemand mehr vor. Schuiskij, dicht vor ihm, ruft verzweifelt nach einem Fenster hinauf. Er sieht sich nicht um. Er weiss, wer dort steht; er begreift, dass es still wird, ganz ohne Uebergang still. Jetzt wird die Stimme kommen, die er von damals her kennt; die hohe, falsche Stimme, die sich ueberanstrengt. Und da hoert er die Zarinmutter, die ihn verleugnet. Bis hierher geht die Sache von selbst, aber nun, bitte, einen Erzaehler, einen Erzaehler: denn von den paar Zeilen, die noch bleiben, muss Gewalt ausgehen ueber jeden Widerspruch hinaus. Ob es gesagt wird oder nicht, man muss darauf schwoeren, dass zwischen Stimme und Pistolenschuss, unendlich zusammengedraengt, noch einmal Wille und Macht in ihm war, alles zu sein. Sonst versteht man nicht, wie glaenzend konsequent es ist, dass sie sein Nachtkleid durchbohrten und in ihm herumstachen, ob sie auf das Harte einer Person stossen wuerden. Und dass er im Tode doch noch die Maske trug, drei Tage lang, auf die er fast schon verzichtet hatte.

Wenn ichs nun bedenke, so scheint es mir seltsam, dass in demselben Buche der Ausgang dessen erzaehlt wurde, der sein ganzes Leben lang Einer war, der Gleiche, hart und nicht zu aendern wie ein Granit und immer schwerer auf allen, die ihn ertrugen. Es giebt ein Bild von ihm in Dijon. Aber man weiss es auch so, dass er kurz, quer, trotzig war und verzweifelt. Nur an die Haende haette man vielleicht nicht gedacht. Es sind arg warme Haende, die sich immerfort kuehlen moechten und sich unwillkuerlich auf Kaltes legen, gespreizt, mit Luft zwischen allen Fingern. In diese Haende konnte das Blut hineinschiessen, wie es einem zu Kopf steigt, und geballt waren sie wirklich wie die Koepfe von Tollen, tobend von Einfaellen.

Es gehoerte unglaubliche Vorsicht dazu, mit diesem Blute zu leben. Der Herzog war damit eingeschlossen in sich selbst, und zuzeiten fuerchtete ers, wenn es um ihn herumging, geduckt und dunkel. Es konnte ihm selber grauenhaft fremd sein, dieses behende, halbportugiesische Blut, das er kaum kannte. Oft aengstigte es ihn, dass es ihn im Schlafe anfallen koennte und zerreissen. Er tat, als baendigte ers, aber er stand immer in seiner Furcht. Er wagte nie eine Frau zu lieben, damit es nicht eifersuechtig wuerde, und so reissend war es, dass Wein nie ueber seine Lippen kam; statt zu trinken, saenftigte ers mit Rosenmus. Doch, einmal trank er, im Lager vor Lausanne, als Granson verloren war; da war er krank und abgeschieden und trank viel puren Wein. Aber damals schlief sein Blut. In seinen sinnlosen letzten Jahren verfiel es manchmal in diesen schweren, tierischen Schlaf. Dann zeigte es sich, wie sehr er in seiner Gewalt war; denn wenn es schlief, war er nichts. Dann durfte keiner von seiner Umgebung herein; er begriff nicht, was sie redeten. Den fremden Gesandten konnte er sich nicht zeigen, oed wie er war. Dann sass er und wartete, dass es aufwachte. Und meistens fuhr es mit einem Sprunge auf und brach aus dem Herzen aus und bruellte. Fuer dieses Blut schleppte er alle die Dinge mit, auf die er nichts gab. Die drei grossen Diamanten und alle die Steine; die flandrischen Spitzen und die Teppiche von Arros, haufenweis. Sein seidenes Gezelt mit den aus Gold gedrehten Schnueren und vierhundert Zelte fuer sein Gefolg. Und Bilder, auf Holz gemalt, und die zwoelf Apostel aus vollem Silber. Und den Prinzen von Tarent und den Herzog von Cleve und Philipp von Baden und den Herrn von Chateau-Guyon. Denn er wollte seinem Blut einreden, dass er Kaiser sei und nichts ueber ihm: damit es ihn fuerchte. Aber sein Blut glaubte ihm nicht, trotz solcher Beweise, es war ein misstrauisches Blut. Vielleicht erhielt er es noch eine Weile im Zweifel. Aber die Hoerner von Uri verrieten ihn. Seither wusste sein Blut, dass es in einem Verlorenen war: und wollte heraus. So seh ich es jetzt, damals aber machte es mir vor allem Eindruck, von dem Dreikoenigstag zu lesen, da man ihn suchte.

Der junge lothringische Fuerst, der tags vorher, gleich nach der merkwuerdig hastigen Schlacht in seiner elenden Stadt Nancy eingeritten war, hatte ganz frueh seine Umgebung geweckt und nach dem Herzog gefragt. Bote um Bote wurde ausgesandt, und er selbst erschien von Zeit zu Zeit am Fenster, unruhig und besorgt. Er erkannte nicht immer, wen sie da brachten auf ihren Wagen und Tragbahren, er sah nur, dass es nicht der Herzog war. Und auch unter den Verwundeten war er nicht, und von den Gefangenen, die man fortwaehrend noch einbrachte, hatte ihn keiner gesehen. Die Fluechtlinge aber trugen nach allen Seiten verschiedene Nachrichten und waren wirr und schreckhaft, als fuerchteten sie, auf ihn zuzulaufen. Es dunkelte schon, und man hatte nichts von ihm gehoert. Die Kunde, dass er ver schwunden sei, hatte Zeit herumzukommen an dem langen Winterabend. Und wohin sie kam, da erzeugte sie in allen eine jaehe, uebertriebene Sicherheit, dass er lebte. Nie vielleicht war der Herzog so wirklich in jeder Einbildung wie in dieser Nacht. Es gab kein Haus, wo man nicht wachte und auf ihn wartete und sich sein Klopfen vorstellte. Und wenn er nicht kam, so wars, weil er schon vorueber war. Es fror diese Nacht, und es war, als froere auch die Idee, dass er sei; so hart wurde sie. Und Jahre und Jahre vergingen, eh sie sich aufloeste. Alle diese Menschen, ohne es recht zu wissen, bestanden jetzt auf ihm. Das Schicksal, das er ueber sie gebracht hatte, war nur ertraeglich durch seine Gestalt. Sie hatten so schwer erlernt, dass er war; nun aber, da sie ihn konnten, fanden sie, dass er gut zu merken sei und nicht zu vergessen.

Aber am naechsten Morgen, dem siebenten Januar, einem Dienstag, fing das Suchen doch wieder an. Und diesmal war ein Fuehrer da. Es war ein Page des Herzogs, und es hiess, er habe seinen Herrn von ferne stuerzen sehen; nun sollte er die Stelle zeigen. Er selbst hatte nichts erzaehlt, der Graf von Campobasso hatte ihn gebracht und hatte fuer ihn gesprochen. Nun ging er voran, und die anderen hielten sich dicht hinter ihm. Wer ihn so sah, vermummt und eigentuemlich unsicher, der hatte Muehe zu glauben, dass es wirklich Gian-Battista Colonna sei, der schoen wie ein Maedchen war und schmal in den Gelenken. Er zitterte vor Kaelte; die Luft war steif vom Nachtfrost, es klang wie Zaehneknirschen unter den Schritten. Uebrigens froren sie alle. Nur des Herzogs Narr, Louis-Onze zubenannt, machte sich Bewegung. Er spielte den Hund, lief voraus, kam wieder und trollte eine Weile auf allen Vieren neben dem Knaben her; wo er aber von fern eine Leiche sah, da sprang er hin und verbeugte sich und redete ihr zu, sie moechte sich zusammennehmen und der sein, den man suchte. Er liess ihr ein wenig Bedenkzeit, aber dann kam er muerrisch zu den andern zurueck und drohte und fluchte und beklagte sich uber den Eigensinn und die Traegheit der Toten. Und man ging immerzu, und es nahm kein Ende. Die Stadt war kaum mehr zu sehen; denn das Wetter hatte sich inzwischen geschlossen, trotz der Kaelte, und war grau und undurchsichtig geworden. Das Land lag flach und gleichgueltig da, und die kleine, dichte Gruppe sah immer verirrter aus, je weiter sie sich bewegte. Niemand sprach, nur ein altes Weib, das mitgelaufen war, malmte etwas und schuettelte den Kopf dabei; vielleicht betete sie.

Auf einmal blieb der Vorderste stehen und sah um sich. Dann wandte er sich kurz zu Lupi, dem portugiesischen Arzt des Herzogs, und zeigte nach vorn. Ein paar Schritte weiterhin war eine Eisflaeche, eine Art Tuempel oder Teich, und da lagen, halb eingebrochen, zehn oder zwoelf Leichen. Sie waren fast ganz entbloesst und ausgeraubt. Lupi ging gebueckt und aufmerksam von einem zum andern. Und nun erkannte man Olivier de la Marche und den Geistlichen, wie sie so einzeln herumgingen. Die Alte aber kniete schon im Schnee und winselte und bueckte sich ueber eine grosse Hand, deren Finger ihr gespreizt entgegenstarrten. Alle eilten herbei. Lupi mit einigen Dienern versuchte den Leichnam zu wenden, denn er lag vornueber. Aber das Gesicht war eingefroren, und da man es aus dem Eis herauszerrte, schaelte sich die eine Wange duenn und sproede ab, und es zeigte sich, dass die andere von Hunden oder Woelfen herausgerissen war; und das Ganze war von einer grossen Wunde gespalten, die am Ohr begann, so dass von einem Gesicht keine Rede sein konnte.

Einer nach dem anderen blickte sich um; jeder meinte den Roemer hinter sich zu finden. Aber sie sahen nur den Narren, der herbeigelaufen kam, boese und blutig. Er hielt einen Mantel von sich ab und schuettelte ihn, als sollte etwas herausfallen; aber der Mantel war leer. So ging man daran, nach Kennzeichen zu suchen, und es fanden sich einige. Man hatte ein Feuer gemacht und wusch den Koerper mit warmem Wasser und Wein. Die Narbe am Halse kam zum Vorschein und die Stellen der beiden grossen Abszesse. Der Arzt zweifelte nicht mehr. Aber man verglich noch anderes. Louis-Onze hatte ein paar Schritte weiter den Kadaver des grossen schwarzen Pferdes Moreau gefunden, das der Herzog am Tage von Nancy geritten hatte. Er sass darauf und liess die kurzen Beine haengen. Das Blut rann ihm noch immer aus der Nase in den Mund, und man sah ihm an, dass er es schmeckte. Einer der Diener drueben erinnerte, dass ein Nagel an des Herzogs linkem Fuss eingewachsen gewesen waere; nun suchten alle den Nagel. Der Narr aber zappelte, als wuerde er gekitzelt, und schrie: "Ach, Monseigneur, verzeih ihnen, dass sie deine groben Fehler aufdecken, die Dummkoepfe, und dich nicht erkennen an meinem langen Gesicht, in dem deine Tugenden stehn."

(Des Herzogs Narr war auch der erste, der eintrat, als die Leiche gebettet war. Es war im Hause eines gewissen Georg Marquis, niemand konnte sagen, wieso. Das Bahrtuch war noch nicht uebergelegt, und so hatte er den ganzen Eindruck. Das Weiss des Kamisols und das Karmesin vom Mantel sonderten sich schroff und unfreundlich voneinander ab zwischen den beiden Schwarz von Baldachin und Lager. Vorne standen scharlachne Schaftstiefel ihm entgegen mit grossen, vergoldeten Sporen. Und dass das dort oben ein Kopf war, darueber konnte kein Streit entstehen, sobald man die Krone sah. Es war eine grosse Herzogs-Krone mit irgendwelchen Steinen. Louis-Onze ging umher und besah alles genau. Er befuehlte sogar den Atlas, obwohl er wenig davon verstand. Es mochte guter Atlas sein, vielleicht ein bisschen billig fuer das Haus Burgund. Er trat noch einmal zurueck um des Ueberblicks willen. Die Farben waren merkwuerdig unzusammenhaengend im Schneelicht. Er praegte sich jede einzeln ein. "Gut angekleidet", sagte er schliesslich anerkennend, "vielleicht eine Spur zu deutlich." Der Tod kam ihm vor wie ein Puppenspieler, der rasch einen Herzog braucht.)

Man tut gut, gewisse Dinge, die sich nicht mehr aendern werden, einfach festzustellen, ohne die Tatsachen zu bedauern oder auch nur zu beurteilen. So ist mir klar geworden, dass ich nie ein richtiger Leser war. In der Kindheit kam mir das Lesen vor wie ein Beruf, den man auf sich nehmen wuerde, spaeter einmal, wenn alle die Berufe kamen, einer nach dem andern. Ich hatte, aufrichtig gesagt, keine bestimmte Vorstellung, wann das sein koennte. Ich verliess mich darauf, dass man es merken wuerde, wenn das Leben gewissermassen umschlug und nur noch von aussen kam, so wie frueher von innen. Ich bildete mir ein, es wuerde dann deutlich und eindeutig sein und gar nicht misszuverstehn. Durchaus nicht einfach, im Gegenteil recht anspruchsvoll, verwickelt und schwer meinetwegen, aber immerhin sichtbar. Das eigentuemlich Unbegrenzte der Kindheit, das Unverhaeltnismaessige, das Nie-recht-Absehbare, das wuerde dann ueberstanden sein. Es war freilich nicht einzusehen, wieso. Im Grunde nahm es immer noch zu und schloss sich auf allen Seiten, und je mehr man hinaussah, desto mehr Inneres ruehrte man in sich auf: Gott weiss, wo es herkam. Aber wahrscheinlich wuchs es zu einem Aeussersten an und brach dann mit einem Schlage ab. Es war leicht zu beobachten, dass die Erwachsenen sehr wenig davon beunruhigt wurden; sie gingen herum und urteilten und handelten, und wenn sie je in Schwierigkeiten waren, so lag das an aeusseren Verhaeltnissen. An den Anfang solcher Veraenderungen verlegte ich auch das Lesen. Dann wuerde man mit Buechern umgehen wie mit Bekannten, es wuerde Zeit dafuer da sein, eine bestimmte, gleichmaessig und gefaellig vergehende Zeit, gerade so viel, als einem eben passte. Natuerlich wuerden einzelne einem naeher stehen, und es ist nicht gesagt, dass man davor sicher sein wuerde, ab und zu eine halbe Stunde ueber ihnen zu versaeumen: einen Spaziergang, eine Verabredung, den Anfang im Theater oder einen dringenden Brief. Dass sich einem aber das Haar verbog und verwirrte, als ob man darauf gelegen haette, dass man gluehende Ohren bekam und Haende kalt wie Metall, dass eine lange Kerze neben einem herunterbrannte und in den Leuchter hinein, das wuerde dann, Gott sei Dank, voellig ausgeschlossen sein.

Ich fuehre diese Erscheinungen an, weil ich sie ziemlich auffaellig an mir erfuhr, damals in jenen Ferien auf Ulsgaard, als ich so ploetzlich ins Lesen geriet. Da zeigte es sich gleich, dass ich es nicht konnte. Ich hatte es freilich vor der Zeit begonnen, die ich mir dafuer in Aussicht gestellt hatte. Aber dieses Jahr in Soroe unter lauter andern ungefaehr Altersgleichen hatte mich misstrauisch gemacht gegen solche Berechnungen. Dort waren rasche, unerwartete Erfahrungen an mich herangekommen, und es war deutlich zu sehen, dass sie mich wie einen Erwachsenen behandelten. Es waren lebensgrosse Erfahrungen, die sich so schwer machten, wie sie waren. In demselben Masse aber, als ich ihre Wirklichkeit begriff, gingen mir auch fuer die unendliche Realitaet meines Kindseins die Augen auf. Ich wusste, dass es nicht aufhoeren wuerde, so wenig wie das andere erst begann. Ich sagte mir, dass es natuerlich jedem freistand, Abschnitte zu machen, aber sie waren erfunden. Und es erwies sich, dass ich zu ungeschickt war, mir welche auszudenken. Sooft ich es versuchte, gab mir das Leben zu verstehen, dass es nichts von ihnen wusste. Bestand ich aber darauf, dass meine Kindheit vorueber sei, so war in demselben Augenblick auch alles Kommende fort, und mir blieb nur genau so viel, wie ein Bleisoldat unter sich hat, um stehen zu koennen. Diese Entdeckung sonderte mich begreiflicherweise noch mehr ab. Sie beschaeftigte mich in mir und erfuellte mich mit einer Art endgueltiger Frohheit, die ich fuer Kuemmernis nahm, weil sie weit ueber mein Alter hinausging. Es beunruhigte mich auch, wie ich mich entsinne, dass man nun, da nichts fuer eine bestimmte Frist vorgesehen war, manches ueberhaupt versaeumen koenne. Und als ich so nach Ulsgaard zurueckkehrte und alle die Buecher sah, machte ich mich darueber her; recht in Eile, mit fast schlechtem Gewissen. Was ich spaeter so oft empfunden habe, das ahnte ich damals irgendwie voraus: dass man nicht das Recht hatte, ein Buch aufzuschlagen, wenn man sich nicht verpflichtete, alle zu lesen. Mit jeder Zeile brach man die Welt an. Von den Buechern war sie heil und vielleicht wieder ganz dahinter. Wie aber sollte ich, der nicht lesen konnte, es mit allen aufnehmen? Da standen sie, selbst in diesem bescheidenen Buecherzimmer, in so aussichtsloser Ueberzahl und hielten zusammen. Ich stuerzte mich trotzig und verzweifelt von Buch zu Buch und schlug mich durch die Seiten durch wie einer, der etwas Unverhaeltnismaessiges zu leisten hat. Damals las ich Schiller und Baggesen, Oehlenschlaeger und Schack-Staffeldt, was von Walter Scott da war und Calderon. Manches kam mir in die Haende, was gleichsam schon haette gelesen sein muessen, fuer anderes war es viel zu frueh; faellig war fast nichts fuer meine damalige Gegenwart. Und trotzdem las ich. In spaeteren Jahren geschah es mir zuweilen nachts, dass ich aufwachte, und die Sterne standen so wirklich da und gingen so bedeutend vor, und ich konnte nicht begreifen, wie man es ueber sich brachte, so viel Welt zu versaeumen. So aehnlich war mir, glaub ich, zumut, sooft ich von den Buechern aufsah und hinaus, wo der Sommer war, wo Abelone rief. Es kam uns sehr unerwartet, dass sie rufen musste und dass ich nicht einmal antwortete. Es fiel mitten in unsere seligste Zeit. Aber da es mich nun einmal erfasst hatte, hielt ich mich krampfhaft ans Lesen und verbarg mich, wichtig und eigensinnig, vor unseren taeglichen Feiertagen. Ungeschickt wie ich war, die vielen, oft unscheinbaren Gelegenheiten eines natuerlichen Gluecks auszunutzen, liess ich mir nicht ungern von dem anwachsenden Zerwuerfnis kuenftige Versoehnungen versprechen, die desto reizender wurden, je weiter man sie hinausschob.

Uebrigens war mein Leseschlaf eines Tages so ploetzlich zu Ende, wie er begonnen hatte; und da erzuernten wir einander gruendlich. Denn Abelone ersparte mir nun keinerlei Spott und Ueberlegenheit, und wenn ich sie in der Laube traf, behauptete sie zu lesen. An dem einen Sonntagmorgen lag das Buch zwar geschlossen neben ihr, aber sie schien mehr als genug mit den Johannisbeeren beschaeftigt, die sie vorsichtig mittels einer Gabel aus ihren kleinen Trauben streifte.

Es muss dies eine von jenen Tagesfruehen gewesen sein, wie es solche im Juli giebt, neue, ausgeruhte Stunden, in denen ueberall etwas frohes Unueberlegtes geschieht. Aus Millionen kleinen ununterdrueckbaren Bewegungen setzt sich ein Mosaik ueberzeugtesten Daseins zusammen; die Dinge schwingen ineinander hinueber und hinaus in die Luft, und ihre Kuehle macht den Schatten klar und die Sonne zu einem leichten, geistigen Schein. Da giebt es im Garten keine Hauptsache; alles ist ueberall, und man muesste in allem sein, um nichts zu versaeumen.

In Abelonens kleiner Handlung aber war das Ganze nochmal. Es war so gluecklich erfunden, gerade dies zu tun und genau so, wie sie es tat. Ihre im Schattigen hellen Haende arbeiteten einander so leicht und einig zu, und vor der Gabel sprangen mutwillig die runden Beeren her, in die mit tauduffem Weinblatt ausgelegte Schale hinein, wo schon andere sich haeuften, rote und blonde, glanzlichternd, mit gesunden Kernen im herben Innern. Ich wuenschte unter diesen Umstaenden nichts als zuzusehen, aber, da es wahrscheinlich war, dass man mirs verwies, ergriff ich, auch um mich unbefangen zu geben, das Buch, setzte mich an die andere Seite des Tisches und liess mich, ohne lange zu blaettern, irgendwo damit ein. "Wenn du doch wenigstens laut laesest, Leserich", sagte Abelone nach einer Weile. Das klang lange nicht mehr so streitsuechtig, und da es, meiner Meinung nach, ernstlich Zeit war, sich auszugleichen, las ich sofort laut, immerzu bis zu einem Abschnitt und weiter, die naechste Ueberschrift: An Bettine.

"Nein, nicht die Antworten", unterbrach mich Abelone und legte auf einmal wie erschoepft die kleine Gabel nieder. Gleich darauf lachte sie ueber das Gesicht, mit dem ich sie ansah.

"Mein Gott, was hast du schlecht gelesen, Malte."

Da musste ich nun zugeben, dass ich keinen Augenblick bei der Sache gewesen sei. "Ich las nur, damit du mich unterbrichst", gestand ich und wurde heiss und blaetterte zurueck nach dem Titel des Buches. Nun wusste ich erst, was es war. "Warum denn nicht die Antworten?" fragte ich neugierig. Es war, als haette Abelone mich nicht gehoert. Sie sass da in ihrem lichten Kleid, als ob sie ueberall innen ganz dunkel wuerde, wie ihre Augen wurden. "Gieb her", sagte sie ploetzlich wie im Zorn und nahm mir das Buch aus der Hand und schlug es richtig dort auf, wo sie es wollte. Und dann las sie einen von Bettinens Briefen.

Ich weiss nicht, was ich davon verstand, aber es war, als wuerde mir feierlich versprochen, dieses alles einmal einzusehen. Und waehrend ihre Stimme zunahm und endlich fast jener glich, die ich vom Gesang her kannte, schaemte ich mich, dass ich mir unsere Versoehnung so gering vorgestellt hatte. Denn ich begriff wohl, dass sie das war. Aber nun geschah sie irgendwo ganz im Grossen, weit ueber mir, wo ich nicht hinreichte.

Das Versprechen erfuellt sich noch immer, irgendwann ist dasselbe Buch unter meine Buecher geraten, unter die paar Buecher, von denen ich mich nicht trenne. Nun schlaegt es sich auch mir an den Stellen auf, die ich gerade meine, und wenn ich sie lese, so bleibt es unentschieden, ob ich an Bettine denke oder an Abelone. Nein, Bettine ist wirklicher in mir geworden, Abelone, die ich gekannt habe, war wie eine Vorbereitung auf sie, und nun ist sie mir in Bettine aufgegangen wie in ihrem eigenen, unwillkuerlichen Wesen. Denn diese wunderliche Bettine hat mit allen ihren Briefen Raum gegeben, geraeumigste Gestalt. Sie hat von Anfang an sich im Ganzen so ausgebreitet, als waer sie nach ihrem Tod. Ueberall hat sie sich ganz weit ins Sein hineingelegt, zugehoerig dazu, und was ihr geschah, das war ewig in der Natur; dort erkannte sie sich und loeste sich beinah schmerzhaft heraus; erriet sich muehsam zurueck wie aus Ueberlieferungen, beschwor sich wie einen Geist und hielt sich aus.

Eben warst du noch, Bettine; ich seh dich ein. Ist nicht die Erde noch warm von dir, und die Voegel lassen noch Raum fuer deine Stimme. Der Tau ist ein anderer, aber die Sterne sind noch die Sterne deiner Naechte. Oder ist nicht die Welt ueberhaupt von dir? denn wie oft hast du sie in Brand gesteckt mit deiner Liebe und hast sie lodern sehen und aufbrennen und hast sie heimlich durch eine andere ersetzt, wenn alle schliefen. Du fuehltest dich so recht im Einklang mit Gott, wenn du jeden Morgen eine neue Erde von ihm verlangtest, damit doch alle drankaemen, die er gemacht hatte. Es kam dir armsaelig vor, sie zu schonen und auszubessern, du verbrauchtest sie und hieltest die Haende hin um immer noch Welt. Denn deine Liebe war allem gewachsen.

Wie ist es moeglich, dass nicht noch alle erzaehlen von deiner Liebe? Was ist denn seither geschehen, was merkwuerdiger war? Was beschaeftigt sie denn? Du selber wusstest um deiner Liebe Wert, du sagtest sie laut deinem groessesten Dichter vor, dass er sie menschlich mache; denn sie war noch Element. Er aber hat sie den Leuten ausgeredet, da er dir schrieb. Alle haben diese Antworten gelesen und glauben ihnen mehr, weil der Dichter ihnen deutlicher ist als die Natur. Aber vielleicht wird es sich einmal zeigen, dass hier die Grenze seiner Groesse war. Diese Liebende ward ihm auferlegt, und er hat sie nicht bestanden. Was heisst es, dass er nicht hat erwidern koennen? Solche Liebe bedarf keiner Erwiderung, sie hat Lockruf und Antwort in sich; sie erhoert sich selbst. Aber demuetigen haette er sich muessen vor ihr in seinem ganzen Staat und schreiben was sie diktiert, mit beiden Haenden, wie Johannes auf Patmos, knieend. Es gab keine Wahl dieser Stimme gegenueber, die "das Amt der Engel verrichtete"; die gekommen war, ihn einzuhuellen und zu entziehen ins Ewige hinein. Da war der Wagen seiner feurigen Himmelfahrt. Da war seinem Tod der dunkle Mythos bereitet, den er leer liess.

Das Schicksal liebt es, Muster und Figuren zu erfinden. Seine Schwierigkeit beruht im Komplizierten. Das Leben selbst aber ist schwer aus Einfachheit. Es hat nur ein paar Dinge von uns nicht angemessener Groesse. Der Heilige, indem er das Schicksal ablehnt, waehlt diese, Gott gegenueber. Dass aber die Frau, ihrer Natur nach, in Bezug auf den Mann die gleiche Wahl treffen muss, ruft das Verhaengnis aller Liebesbeziehungen herauf: entschlossen und schicksalslos, wie eine Ewige, steht sie neben ihm, der sich verwandelt. Immer uebertrifft die Liebende den Geliebten, weil das Leben groesser ist als das Schicksal. Ihre Hingabe will unermesslich sein: dies ist ihr Glueck. Das namenlose Leid ihrer Liebe aber ist immer dieses gewesen: dass von ihr verlangt wird, diese Hingabe zu beschraenken. Es ist keine andere Klage je von Frauen geklagt worden: die beiden ersten Briefe Heloïsens enthalten nur sie, und fuenfhundert Jahre spaeter erhebt sie sich aus den Briefen der Portugiesin; man erkennt sie wieder wie einen Vogelruf. Und ploetzlich geht durch den hellen Raum dieser Einsicht der Sappho fernste Gestalt, die die Jahrhunderte nicht fanden, da sie sie im Schicksal suchten.

Ich habe niemals gewagt, von ihm eine Zeitung zu kaufen. Ich bin nicht sicher, dass er wirklich immer einige Nummern bei sich hat, wenn er sich aussen am Luxembourg-Garten langsam hin und zurueck schiebt den ganzen Abend lang. Er kehrt dem Gitter den Ruecken, und seine Hand streift den Steinrand, auf dem die Staebe aufstehen. Er macht sich so flach, dass taeglich viele voruebergehen, die ihn nie gesehen haben. Zwar hat er noch einen Rest von Stimme in sich und mahnt; aber das ist nicht anders als ein Geraeusch in einer Lampe oder im Ofen oder wenn es in eigentuemlichen Abstaenden in einer Grotte tropft. Und die Welt ist so eingerichtet, dass es Menschen giebt, die ihr ganzes Leben lang in der Pause vorbeikommen, wenn er, lautloser als alles was sich bewegt, weiter rueckt wie ein Zeiger, wie eines Zeigers Schatten, wie die Zeit.

Wie unrecht hatte ich, ungern hinzusehen. Ich schaeme mich aufzuschreiben, dass ich oft in seiner Naehe den Schritt der andern annahm, als wuesste ich nicht um ihn. Dann hoerte ich es in ihm "La Presse" sagen und gleich darauf noch einmal und ein drittes Mal in raschen Zwischenraeumen. Und die Leute neben mir sahen sich um und suchten die Stimme. Nur ich tat eiliger als alle, als waere mir nichts aufgefallen, als waere ich innen ueberaus beschaeftigt.

Und ich war es in der Tat. Ich war beschaeftigt, ihn mir vorzustellen, ich unternahm die Arbeit, ihn einzubilden, und der Schweiss trat mir aus vor Anstrengung. Denn ich musste ihn machen wie man einen Toten macht, fuer den keine Beweise mehr da sind, keine Bestandteile; der ganz und gar innen zu leisten ist. Ich weiss jetzt, dass es mir ein wenig half, an die vielen abgenommenen Christusse aus streifigem Elfenbein zu denken, die bei allen Althaendlern herumliegen. Der Gedanke an irgendeine Pieta trat vor und ab—: dies alles wahrscheinlich nur, um eine gewisse Neigung hervorzurufen, in der sein langes Gesicht sich hielt, und den trostlosen Bartnachwuchs im Wangenschatten und die endgueltig schmerzvolle Blindheit seines verschlossenen Ausdrucks, der schraeg aufwaerts gehalten war. Aber es war ausserdem so vieles, was zu ihm gehoerte; denn dies begriff ich schon damals, dass nichts an ihm nebensaechlich sei: nicht die Art, wie der Rock oder der Mantel, hinten abstehend, ueberall den Kragen sehen liess, diesen niedrigen Kragen, der in einem grossen Bogen um den gestreckten, nischigen Hals stand, ohne ihn zu beruehren; nicht die gruenlich schwarze Krawatte, die weit um das Ganze herumgeschnallt war; und ganz besonders nicht der Hut, ein alter, hochgewoelbter, steifer Filzhut, den er trug wie alle Blinden ihre Huete tragen: ohne Bezug zu den Zeilen des Gesichts, ohne die Moeglichkeit, aus diesem Hinzukommenden und sich selbst eine neue aeussere Einheit zu bilden; nicht anders als irgendeinen verabredeten fremden Gegenstand. In meiner Feigheit, nicht hinzusehen, brachte ich es so weit, dass das Bild dieses Mannes sich schliesslich oft auch ohne Anlass stark und schmerzhaft in mir zusammenzog zu so hartem Elend, dass ich mich, davon bedraengt, entschloss, die zunehmende Fertigkeit meiner Einbildung durch die auswaertige Tatsache einzuschuechtern und aufzuheben. Es war gegen Abend. Ich nahm mir vor, sofort aufmerksam an ihm vorbeizugehen.

Nun muss man wissen: es ging auf den Fruehling zu. Der Tagwind hatte sich gelegt, die Gassen waren lang und befriedigt; an ihrem Ausgang schimmerten Haeuser, neu wie frische Bruchstellen eines weissen Metalls. Aber es war ein Metall, das einen ueberraschte durch seine Leichtigkeit. In den breiten, fortlaufenden Strassen zogen viele Leute durcheinander, fast ohne die Wagen zu fuerchten, die selten waren. Es musste ein Sonntag sein. Die Turmaufsaetze von Saint-Sulpice zeigten sich heiter und unerwartet hoch in der Windstille, und durch die schmalen, beinah roemischen Gassen sah man unwillkuerlich hinaus in die Jahreszeit. Im Garten und davor war so viel Bewegung von Menschen, dass ich ihn nicht gleich sah. Oder erkannte ich ihn zuerst nicht zwischen der Menge durch?

Ich wusste sofort, dass meine Vorstellung wertlos war. Die durch keine Vorsicht oder Verstellung eingeschraenkte Hingegebenheit seines Elends uebertraf meine Mittel. Ich hatte weder den Neigungswinkel seiner Haltung begriffen gehabt noch das Entsetzen, mit dem die Innenseite seiner Lider ihn fortwaehrend zu erfuellen schien. Ich hatte nie an seinen Mund gedacht, der eingezogen war wie die Oeffnung eines Ablaufs. Moeglicherweise hatte er Erinnerungen; jetzt aber kam nie mehr etwas zu seiner Seele hinzu als taeglich das amorphe Gefuehl des Steinrands hinter ihm, an dem seine Hand sich abnutzte. Ich war stehngeblieben, und waehrend ich das alles fast gleichzeitig sah, fuehlte ich, dass er einen anderen Hut hatte und eine ohne Zweifel sonntaegliche Halsbinde; sie war schraeg in gelben und violetten Vierecken gemustert, und was den Hut angeht, so war es ein billiger neuer Strohhut mit einem gruenen Band. Es liegt natuerlich nichts an diesen Farben, und es ist kleinlich, dass ich sie behalten habe. Ich will nur sagen, dass sie an ihm waren wie das Weicheste auf eines Vogels Unterseite. Er selbst hatte keine Lust daran, und wer von allen (ich sah mich um) durfte meinen, dieser Staat waere um seinetwillen?

Mein Gott, fiel es mir mit Ungestuem ein, so bist du also. Es giebt Beweise fuer deine Existenz. Ich habe sie alle vergessen und habe keinen je verlangt, denn welche unge heuere Verpflichtung laege in deiner Gewissheit. Und doch, nun wird mirs gezeigt. Dieses ist dein Geschmack, hier hast du Wohlgefallen. Dass wir doch lernten, vor allem aushalten und nicht urteilen. Welche sind die schweren Dinge? Welche die gnaedigen? Du allein weisst es. Wenn es wieder Winter wird und ich muss einen neuen Mantel haben,—gieb mir, dass ich ihn so trage, solang er neu ist.

Es ist nicht, dass ich mich von ihnen unterscheiden will, wenn ich in besseren, von Anfang an meinigen Kleidern herumgehe und darauf halte, irgendwo zu wohnen. Ich bin nicht so weit. Ich habe nicht das Herz zu ihrem Leben. Wenn mir der Arm einginge, ich glaube, ich versteckte ihn. Sie aber (ich weiss nicht, wer sie sonst war), sie erschien jeden Tag vor den Terrassen der Cafehaeuser, und obwohl es sehr schwer war fuer sie, den Mantel abzutun und sich aus dem unklaren Zeug und Unterzeug herauszuziehen, sie scheute der Muehe nicht und tat ab und zog aus so lange, dass mans kaum mehr erwarten konnte. Und dann stand sie vor uns, bescheiden, mit ihrem duerren, verkuemmerten Stueck, und man sah, dass es rar war.

Nein, es ist nicht, dass ich mich von ihnen unterscheiden will; aber ich ueberhuebe mich, wollte ich ihnen gleich sein. Ich bin es nicht. Ich haette weder ihre Staerke noch ihr Mass. Ich ernaehre mich, und so bin ich von Mahlzeit zu Mahlzeit, voellig geheimnislos; sie aber erhalten sich fast wie Ewige. Sie stehen an ihren taeglichen Ecken, auch im November, und schreien nicht vor Winter. Der Nebel kommt und macht sie undeutlich und ungewiss: sie sind gleichwohl. Ich war verreist, ich war krank, vieles ist mir vergangen: sie aber sind nicht gestorben.

(Ich weiss ja nicht einmal, wie es moeglich ist, dass die Schulkinder aufstehn in den Kammern voll grauriechender Kaelte; wer sie bestaerkt, die ueberstuerzten Skelettchen, dass sie hinauslaufen in die erwachsene Stadt, in die truebe Neige der Nacht, in den ewigen Schultag, immer noch klein, immer voll Vorgefuehl, immer verspaetet. Ich habe keine Vorstellung von der Menge Beistand, die fortwaehrend verbraucht wird.)

Diese Stadt ist voll von solchen, die langsam zu ihnen hinabgleiten. Die meisten straeuben sich erst; aber dann giebt es diese verblichenen, alternden Maedchen, die sich fortwaehrend ohne Widerstand hinueberlassen, starke, im Innersten ungebrauchte, die nie geliebt worden sind. Vielleicht meinst du, mein Gott, dass ich alles lassen soll und sie lieben. Oder warum wird es mir so schwer, ihnen nicht nachzugehen, wenn sie mich ueberholen? Warum erfind ich auf einmal die suessesten, naechtlichsten Worte, und meine Stimme steht sanft in mir zwischen Kehle und Herz. Warum stell ich mir vor, wie ich sie unsaeglich vorsichtig an meinen Atem halten wuerde, diese Puppen, mit denen das Leben gespielt hat, ihnen Fruehling um Fruehling fuer nichts und wieder nichts die Arme auseinanderschlagend bis sie locker wurden in den Schultern. Sie sind nie sehr hoch von einer Hoffnung gefallen, so sind sie nicht zerbrochen; aber abgeschlagen sind sie und schon dem Leben zu schlecht. Nur verlorene Katzen kommen abends zu ihnen in die Kammer und zerkratzen sie heimlich und schlafen auf ihnen. Manchmal folge ich einer zwei Gassen weit. Sie gehen an den Haeusern hin, fortwaehrend kommen Menschen, die sie verdecken, sie schwinden hinter ihnen weiter wie nichts.

Und doch, ich weiss, wenn einer nun versuchte, sie liebzuhaben, so waeren sie schwer an ihm wie Zuweitgegangene, die aufhoeren zu gehn. Ich glaube, nur Jesus ertruege sie, der noch das Auferstehen in allen Gliedern hat; aber ihm liegt nichts an ihnen. Nur die Liebenden verfuehren ihn, nicht die, die warten mit einem kleinen Talent zur Geliebten wie mit einer kalten Lampe.

Ich weiss, wenn ich zum Aeussersten bestimmt bin, so wird es mir nichts helfen, dass ich mich verstelle in meinen besseren Kleidern. Glitt er nicht mitten im Koenigtum unter die Letzten? Er, der statt aufzusteigen hinabsank bis auf den Grund. Es ist wahr, ich habe zuzeiten an die anderen Koenige geglaubt, obwohl die Parke nichts mehr beweisen. Aber es ist Nacht, es ist Winter, ich friere, ich glaube an ihn. Denn die Herrlichkeit ist nur ein Augenblick, und wir haben nie etwas Laengeres gesehen als das Elend. Der Koenig aber soll dauern.

Ist nicht dieser der Einzige, der sich erhielt unter seinem Wahnsinn wie Wachsblumen unter einem Glassturz? Fuer die anderen beteten sie in den Kirchen um langes Leben, von ihm aber verlangte der Kanzler Jean Charlier Gerson, dass er ewig sei, und das war damals, als er schon der Duerftigste war, schlecht und von schierer Armut trotz seiner Krone.

Das war damals, als von Zeit zu Zeit Maenner fremdlings, mit geschwaerztem Gesicht, ihn in seinem Bette ueberfielen, um ihm das in die Schwaeren hineingefaulte Hemde abzureissen, das er schon laengst fuer sich selber hielt. Es war verdunkelt im Zimmer, und sie zerrten unter seinen steifen Armen die muerben Fetzen weg, wie sie sie griffen. Dann leuchtete einer vor, und da erst entdeckten sie die jaesige Wunde auf seiner Brust, in die das eiserne Amulett eingesunken war, weil er es jede Nacht an sich presste mit aller Kraft seiner Inbrunst; nun stand es tief in ihm, fuerchterlich kostbar, in einem Perlensaum von Eiter wie ein wundertuender Rest in der Mulde eines Reliquaers. Man hatte harte Handlanger ausgesucht, aber sie waren nicht ekelfest, wenn die Wuermer, gestoert, nach ihnen herueberstanden aus dem flandrischen Barchent und, aus den Falten abgefallen, sich irgendwo an ihren Aermeln aufzogen. Es war ohne Zweifel schlimmer geworden mit ihm seit den Tagen der parva regina; denn sie hatte doch noch bei ihm liegen moegen, jung und klar wie sie war. Dann war sie gestorben. Und nun hatte keiner mehr gewagt, eine Beischlaeferin an dieses Aas anzubetten. Sie hatte die Worte und Zaertlichkeiten nicht hinterlassen, mit denen der Koenig zu mildern war. So drang niemand mehr durch dieses Geistes Verwilderung; niemand half ihm aus den Schluchten seiner Seele; niemand begriff es, wenn er selbst ploetzlich heraustrat mit dem runden Blick eines Tiers, das auf die Weide geht. Wenn er dann das beschaeftigte Gesicht Juvenals erkannte, so fiel ihm das Reich ein, wie es zuletzt gewesen war. Und er wollte nachholen, was er versaeumt hatte.

Aber es lag an den Ereignissen jener Zeitlaeufte, dass sie nicht schonend beizubringen waren. Wo etwas geschah, da geschah es mit seiner ganzen Schwere, und war wie aus einem Stueck, wenn man es sagte. Oder was war davon abzuziehen, dass sein Bruder ermordet war, dass gestern Valentina Visconti, die er immer seine liebe Schwester nannte, vor ihm gekniet hatte, lauter Witwenschwarz weg hebend von des entstellten Antlitzes Klage und Anklage? Und heute stand stundenlang ein zaeher, rediger Anwalt da und bewies das Recht des fuerstlichen Mordgebers, solange bis das Verbrechen durchscheinend wurde und als wollte es licht in den Himmel fahren. Und gerecht sein hiess, allen recht geben; denn Valentina von Orleans starb Kummers, obwohl man ihr Rache versprach. Und was half es, dem burgundischen Herzog zu verzeihen und wieder zu verzeihen; ueber den war die finstere Brunst der Verzweiflung gekommen, so dass er schon seit Wochen tief im Walde von Argilly wohnte in einem Zelt und behauptete, nachts die Hirsche schreien hoeren zu muessen zu seiner Erleichterung.

Wenn man dann das alles bedacht hatte, immer wieder bis ans Ende, kurz wie es war, so begehrte das Volk einen zu sehen, und es sah einen: ratlos. Aber das Volk freute sich des Anblicks; es begriff, dass dies der Koenig sei: dieser Stille, dieser Geduldige, der nur da war, um es zuzulassen, dass Gott ueber ihn weg handelte in seiner spaeten Ungeduld. In diesen aufgeklaerten Augenblicken auf dem Balkon seines Hotels von Saint-Pol ahnte der Koenig vielleicht seinen heimlichen Fortschritt; der Tag von Roosbecke fiel ihm ein, als sein Oheim von Berry ihn an der Hand genommen hatte, um ihn hinzufuehren vor seinen ersten fertigen Sieg; da ueberschaute er in dem merkwuerdig langhellen Novembertag die Massen der Genter, so wie sie sich erwuergt hatten mit ihrer eigenen Enge, da man gegen sie angeritten war von allen Seiten. Ineinandergewunden wie ein unge heueres Gehirn, lagen sie da in den Haufen, zu denen sie sich selber zusammengebunden hatten, um dicht zu sein. Die Luft ging einem weg, wenn man da und dort ihre erstickten Gesichter sah; man konnte es nicht lassen, sich vorzustellen, dass sie weit ueber diesen vor Gedraenge noch stehenden Leichen verdraengt worden sei durch den ploetzlichen Austritt so vieler verzweifelter Seelen.

Dies hatte man ihm eingepraegt als den Anfang seines Ruhms. Und er hatte es behalten. Aber, wenn das damals der Triumph des Todes war, so war dieses, dass er hier stand auf seinen schwachen Knieen, aufrecht in allen diesen Augen: das Mysterium der Liebe. An den anderen hatte er gesehen, dass man jenes Schlachtfeld begreifen konnte, so ungeheuer es war. Dies hier wollte nicht begriffen sein; es war genau so wunderbar wie einst der Hirsch mit dem goldenen Halsband im Wald von Senlis. Nur dass er jetzt selber die Erscheinung war, und andere waren versunken in Anschauen. Und er zweifelte nicht, dass sie atemlos waren und von derselben weiten Erwartung, wie sie einmal ihn an jenem juenglinglichen Jagdtag ueberfiel, als das stille Gesicht, aeugend, aus den Zweigen trat. Das Geheimnis seiner Sichtbarkeit verbreitete sich ueber seine sanfte Gestalt; er ruehrte sich nicht, aus Scheu, zu vergehen, das duenne Laecheln auf seinem breiten, einfachen Gesicht nahm eine natuerliche Dauer an wie bei steinernen Heiligen und bemuehte ihn nicht. So hielt er sich hin, und es war einer jener Augenblicke, die die Ewigkeit sind, in Verkuerzung gesehen. Die Menge ertrug es kaum. Gestaerkt, von unerschoepflich vermehrter Troestung gespeist, durchbrach sie die Stille mit dem Aufschrei der Freude. Aber oben auf dem Balkon war nur noch Juvenal des Ursins, und er rief in die naechste Beruhigung hinein, dass der Koenig rue Saint-Denis kommen wuerde zu der Passionsbruederschaft, die Mysterien sehen. Zu solchen Tagen war der Koenig voll milden Bewusstseins. Haette ein Maler jener Zeit einen Anhalt gesucht fuer das Dasein im Paradiese, er haette kein vollkommeneres Vorbild finden koennen als des Koenigs gestillte Figur, wie sie in einem der hohen Fenster des Louvre stand unter dem Sturz ihrer Schultern. Er blaetterte in dem kleinen Buch der Christine de Pisan, das "Der Weg des langen Lernens" heisst und das ihm gewidmet war. Er las nicht die gelehrten Streitreden jenes allegorischen Parlaments, das sich vorgesetzt hatte, den Fuersten ausfindig zu machen, der wuerdig sei, ueber die Welt zu herrschen. Das Buch schlug sich ihm immer an den einfachsten Stellen auf: wo von dem Herzen die Rede war, das dreizehn Jahre lang wie ein Kolben ueber dem Schmerzfeuer nur dazu gedient hatte, das Wasser der Bitternis fuer die Augen zu destillieren; er begriff, dass die wahre Konsolation erst begann, wenn das Glueck vergangen genug und fuer immer vorueber war. Nichts war ihm naeher, als dieser Trost. Und waehrend sein Blick scheinbar die Bruecke drueben umfasste, liebte er es, durch dieses von der starken Cumaea zu grossen Wegen ergriffene Herz die Welt zu sehen, die damalige: die gewagten Meere, fremdtuermige Staedte, zugehalten vom Ausdruck der Weiten; der gesammelten Gebirge ekstatische Einsamkeit und die in fuerchtigem Zweifel erforschten Himmel, die sich erst schlossen wie eines Saugkindes Hirnschale.

Aber wenn jemand eintrat, so erschrak er, und langsam beschlug sich sein Geist. Er gab zu, dass man ihn vom Fenster fortfuehrte und ihn beschaeftigte. Sie hatten ihm die Gewohnheit beigebracht, stundenlang ueber Abbildungen zu verweilen, und er war es zufrieden, nur kraenkte es ihn, dass man im Blaettern niemals mehrere Bilder vor sich behielt und dass sie in den Folianten festsassen, so dass man sie nicht untereinander bewegen konnte. Da hatte sich jemand eines Spiels Karten erinnert, das voellig in Vergessenheit geraten war, und der Koenig nahm den in Gunst, der es ihm brachte; so sehr waren diese Kartons nach seinem Herzen, die bunt waren und einzeln beweglich und voller Figur. Und waehrend das Kartenspielen unter den Hofleuten in Mode kam, sass der Koenig in seiner Bibliothek und spielte allein. Genau wie er nun zwei Koenige nebeneinander aufschlug, so hatte Gott neulich ihn und den Kaiser Wenzel zusammengetan; manchmal starb eine Koenigin, dann legte er ein Herz-Ass auf sie, das war wie ein Grabstein. Es wunderte ihn nicht, dass es in diesem Spiel mehrere Paepste gab; er richtete Rom ein drueben am Rande des Tisches, und hier, unter seiner Rechten, war Avignon. Rom war ihm gleichgueltig, er stellte es sich aus irgendeinem Grunde rund vor und bestand nicht weiter darauf. Aber Avignon kannte er. Und kaum dachte er es, so wiederholte seine Erinnerung den hohen hermetischen Palast und ueberanstrengte sich. Er schloss die Augen und musste tief Atem holen. Er fuerchtete boes zu traeumen naechste Nacht.

Im ganzen aber war es wirklich eine beruhigende Beschaeftigung, und sie hatten recht, ihn immer wieder darauf zu bringen. Solche Stunden befestigten ihn in der Ansicht, dass er der Koenig sei, Koenig Karl der Sechste. Das will nicht sagen, dass er sich uebertrieb; weit von ihm war die Meinung, mehr zu sein als so ein Blatt, aber die Gewissheit bestaerkte sich in ihm, dass auch er eine bestimmte Karte sei, vielleicht eine schlechte, eine zornig ausgespielte, die immer verlor: aber immer die gleiche: aber nie eine andere. Und doch, wenn eine Woche so hingegangen war in gleichmaessiger Selbstbestaetigung, so wurde ihm enge in ihm. Die Haut spannte ihn um die Stirn und im Nacken, als empfaende er auf einmal seinen zu deutlichen Kontur. Niemand wusste, welcher Versuchung er nachgab, wenn er dann nach den Mysterien fragte und nicht erwarten konnte, dass sie begaennen. Und war es einmal so weit, so wohnte er mehr rue Saint-Denis als in seinem Hoetel von Saint-Pol.

Es war das Verhaengnisvolle dieser dargestellten Gedichte, dass sie sich immerfort ergaenzten und erweiterten und zu Zehntausenden von Versen anwuchsen, so dass die Zeit in ihnen schliesslich die wirkliche war; etwa so, als machte man einen Globus im Massstab der Erde. Die hohle Estrade, unter der die Hoelle war und ueber der, an einen Pfeiler angebaut, das gelaenderlose Geruest eines Balkons das Niveau des Paradieses bedeutete, trug nur noch dazu bei, die Taeuschung zu verringern. Denn dieses Jahr hundert hatte in der Tat Himmel und Hoelle irdisch gemacht: es lebte aus den Kraeften beider, um sich zu ueberstehen.

Es waren die Tage jener avignonesischen Christenheit, die sich vor einem Menschenalter um Johann den Zweiundzwanzigsten zusammengezogen hatte, mit so viel unwillkuerlicher Zuflucht, dass an dem Platze seines Pontifikats, gleich nach ihm, die Masse dieses Palastes entstanden war, verschlossen und schwer wie ein aeusserster Notleib fuer die wohnlose Seele aller. Er selbst aber, der kleine, leichte, geistige Greis, wohnte noch im Offenen. Waehrend er, kaum angekommen, ohne Aufschub, nach allen Seiten hin rasch und knapp zu handeln begann, standen die Schuesseln mit Gift gewuerzt auf seiner Tafel; der erste Becher musste immer weggeschuettet werden, denn das Stueck Einhorn war missfarbig, wenn es der Mundkaemmerer daraus zurueckzog. Ratlos, nicht wissend, wo er sie verbergen sollte, trug der Siebzigjaehrige die Wachsbildnisse herum, die man von ihm gemacht hatte, um ihn darin zu verderben; und er ritzte sich an den langen Nadeln, mit denen sie durchstochen waren. Man konnte sie einschmelzen. Doch so hatte er sich schon an diesen heimlichen Simulakern entsetzt, dass er, gegen seinen starken Willen, mehrmals den Gedanken formte, er koennte sich selbst damit toedlich sein und hinschwinden wie das Wachs am Feuer. Sein verminderter Koerper wurde nur noch trockener vom Grausen und dauerhafter. Aber nun wagte man sich an den Koerper seines Reichs; von Granada aus waren die Juden angestiftet worden, alle Christlichen zu vertilgen, und diesmal hatten sie sich furchtbarere Vollzieher erkauft. Niemand zweifelte, gleich auf die ersten Geruechte hin, an dem Anschlag der Leprosen; schon hatten einzelne gesehen, wie sie Buendel ihrer schrecklichen Zersetzung in die Brunnen warfen. Es war nicht Leichtglaeubigkeit, dass man dies sofort fuer moeglich hielt; der Glaube, im Gegenteil, war so schwer geworden, dass er den Zitternden entsank und bis auf den Grund der Brunnen fiel. Und wieder hatte der eifrige Greis Gift abzuhalten vom Blute. Zur Zeit seiner aberglaeubischen Anwandlungen hatte er sich und seiner Umgebung das Angelus verschrieben gegen die Daemonen der Daemmerung; und nun laeutete man auf der ganzen erregten Welt jeden Abend dieses kalmierende Gebet. Sonst aber glichen alle Bullen und Briefe, die von ihm ausgingen, mehr einem Gewuerzwein als einer Tisane. Das Kaisertum hatte sich nicht in seine Behandlung gestellt, aber er ermuedete nicht, es mit Beweisen seines Krankseins zu ueberhaeufen; und schon wandte man sich aus dem fernsten Osten an diesen herrischen Arzt.

Aber da geschah das Unglaubliche. Am Allerheiligentag hatte er gepredigt, laenger, waermer als sonst; in einem ploetzlichen Beduerfnis, wie um ihn selbst wiederzusehen, hatte er seinen Glauben gezeigt; aus dem fuenfundachtzigjaehrigen Tabernakel hatte er ihn mit aller Kraft langsam herausgehoben und auf der Kanzel ausgestellt: und da schrieen sie ihn an. Ganz Europa schrie: dieser Glaube war schlecht.

Damals verschwand der Papst. Tagelang ging keine Aktion von ihm aus, er lag in seinem Betzimmer auf den Knieen und erforschte das Geheimnis der Handelnden, die Schaden nehmen an ihrer Seele. Endlich erschien er, erschoepft von der schweren Einkehr, und widerrief. Er widerrief einmal ueber das andere. Es wurde die senile Leidenschaft seines Geistes, zu widerrufen. Es konnte geschehen, dass er nachts die Kardinaele wecken liess, um mit ihnen von seiner Reue zu reden. Und vielleicht war das, was sein Leben ueber die Massen hinhielt, schliesslich nur die Hoffnung, sich auch noch vor Napoleon Orsini zu demuetigen, der ihn hasste und der nicht kommen wollte. Jakob von Cahors hatte widerrufen. Und man koennte meinen, Gott selber haette seine Irrung erweisen wollen, da er so bald hernach jenen Sohn des Grafen von Ligny aufkommen liess, der seine Muendigkeit auf Erden nur abzuwarten schien, um des Himmels seelische Sinnlichkeiten mannbar anzutreten. Es lebten viele, die sich dieses klaren Knaben in seinem Kardinalat erinnerten, und wie er am Eingang seiner Juenglingschaft Bischof geworden und mit kaum achtzehn Jahren in einer Ekstase seiner Vollendung gestorben war. Man begegnete Totgewesenen: denn die Luft an seinem Grabe, in der, frei geworden, pures Leben lag, wirkte lange noch auf die Leichname. Aber war nicht etwas Verzweifeltes selbst in dieser fruehreifen Heiligkeit? War es nicht ein Unrecht an allen, dass das reine Gewebe dieser Seele nur eben durchgezogen worden war, als han delte es sich nur darum, es in der garen Scharlachkuepe der Zeit leuchtend zu faerben? Empfand man nicht etwas wie einen Gegenstoss, da dieser junge Prinz von der Erde absprang in seine leidenschaftliche Himmelfahrt? Warum verweilten die Leuchtenden nicht unter den muehsamen Lichtziehern? War es nicht diese Finsternis, die Johann den Zweiundzwanzigsten dahin gebracht hatte, zu behaupten, dass es vor dem juengsten Gericht keine ganze Seligkeit gaebe, nirgends, auch unter den Seligen nicht? Und in der Tat, wieviel rechthaberische Verbissenheit gehoerte dazu, sich vorzustellen, dass, waehrend hier so dichte Wirrsal geschah, irgendwo Gesichter schon im Scheine Gottes lagen, an Engel zurueckgelehnt und gestillt durch die unausschoepfliche Aussicht auf ihn.

Da sitze ich in der kalten Nacht und schreibe und weiss das alles. Ich weiss es vielleicht, weil mir jener Mann begegnet ist, damals als ich klein war. Er war sehr gross, ich glaube sogar, dass er auffallen musste durch seine Groesse.

So unwahrscheinlich es ist, es war mir irgendwie gelungen, gegen Abend allein aus dem Haus zu kommen; ich lief, ich bog um eine Ecke, und in demselben Augenblick stiess ich gegen ihn. Ich begreife nicht, wie das, was jetzt geschah, sich in etwa fuenf Sekunden abspielen konnte. So dicht man es auch erzaehlt, es dauert viel laenger. Ich hatte mir weh getan im Anlauf an ihn; ich war klein, es schien mir schon viel, dass ich nicht weinte, auch erwartete ich unwillkuerlich, getroestet zu sein. Da er das nicht tat, hielt ich ihn fuer verlegen; es fiel ihm, vermutete ich, der richtige Scherz nicht ein, in dem diese Sache aufzuloesen war. Ich war schon vergnuegt genug, ihm dabei zu helfen, aber dazu war es noetig, ihm ins Gesicht zu sehen. Ich habe gesagt, dass er gross war. Nun hatte er sich nicht, wie es doch natuerlich gewesen waere, ueber mich gebeugt, so dass er sich in einer Hoehe befand, auf die ich nicht vorbereitet war. Immer noch war vor mir nichts als der Geruch und die eigentuemliche Haerte seines Anzugs, die ich gefuehlt hatte. Ploetzlich kam sein Gesicht. Wie es war? Ich weiss es nicht, ich will es nicht wissen. Es war das Gesicht eines Feindes. Und neben diesem Gesicht, dicht nebenan, in der Hoehe der schrecklichen Augen, stand, wie ein zweiter Kopf, seine Faust. Ehe ich noch Zeit hatte, mein Gesicht wegzusenken, lief ich schon; ich wich links an ihm vorbei und lief geradeaus eine leere, furchtbare Gasse hinunter, die Gasse einer fremden Stadt, einer Stadt, in der nichts vergeben wird.

Damals erlebte ich, was ich jetzt begreife: jene schwere, massive, verzweifelte Zeit. Die Zeit, in der der Kuss zweier, die sich versoehnten, nur das Zeichen fuer die Moerder war, die herumstanden. Sie tranken aus demselben Becher, sie bestiegen vor aller Augen das gleiche Reitpferd, und es wurde verbreitet, dass sie die Nacht in einem Bette schlafen wuerden: und ueber allen diesen Beruehrungen wurde ihr Widerwillen aneinander so dringend, dass, sooft einer die schlagenden Adern des andern sah, ein krankhafter Ekel ihn baeumte, wie beim Anblick einer Kroete. Die Zeit, in der ein Bruder den Bruder um dessen groesseren Erbteils willen ueberfiel und gefangenhielt; zwar trat der Koenig fuer den Misshandelten ein und erreichte ihm Freiheit und Eigentum; in anderen, fernen Schicksalen beschaeftigt, gestand ihm der Aeltere Ruhe zu und bereute in Briefen sein Unrecht. Aber ueber alledem kam der Befreite nicht mehr zur Fassung. Das Jahrhundert zeigt ihn im Pilgerkleid von Kirche zu Kirche ziehen, immer wunderlichere Geluebde erfindend. Mit Amuletten behangen, fluestert er den Moenchen von Saint-Denis seine Befuerchtungen zu, und in ihren Registern stand lange die hundertpfuendige Wachskerze verzeichnet, die er fuer gut hielt, dem heiligen Ludwig zu weihen. Zu seinem eigenen Leben kam es nicht; bis an sein Ende fuehlte er seines Bruders Neid und Zorn in verzerrter Konstellation ueber seinem Herzen. Und jener Graf von Foix, Gaston Phoebus, der in aller Bewunderung war, hatte er nicht seinen Vetter Ernault, des englischen Koenigs Hauptmann zu Lourdes, offen getoetet? Und was war dieser deutliche Mord gegen den grauenvollen Zufall, dass er das kleine scharfe Nagelmesser nicht fortgelegt hatte, als er mit seiner beruehmt schoenen Hand in zuckendem Vorwurf den blossen Hals seines liegenden Sohnes streifte? Die Stube war dunkel, man musste leuchten, um das Blut zu sehen, das so weit herkam und nun fuer immer ein koestliches Geschlecht verliess, da es heimlich aus der winzigen Wunde dieses erschoepften Knaben austrat.

Wer konnte stark sein und sich des Mordes enthalten? Wer in dieser Zeit wusste nicht, dass das Aeusserste unvermeidlich war? Da und dort ueber einen, dessen Blick untertags dem kostenden Blick seines Moerders begegnet war, kam ein seltsames Vorgefuehl. Er zog sich zurueck, er schloss sich ein, er schrieb das Ende seines Willens und verordnete zum Schluss die Trage aus Weidengeflecht, die Coelestinerkutte und Aschenstreu. Fremde Minstrel erschienen vor seinem Schloss, und er beschenkte sie fuerstlich fuer ihre Stimme, die mit seinen vagen Ahnungen einig war. Im Aufblick der Hunde war Zweifel, und sie wurden weniger sicher in ihrer Aufwartung. Aus der Devise, die das ganze Leben lang gegolten hatte, trat leise ein neuer, offener Nebensinn. Manche lange Gewohnheit kam einem veraltet vor, aber es war, als bildete sich kein Ersatz mehr fur sie. Stellten sich Plaene ein, so ging man im grossen mit ihnen um, ohne wirklich an sie zu glauben; dagegen griffen gewisse Erinnerungen zu einer unerwarteten Endgueltigkeit. Abends, am Feuerplatz, meinte man sich ihnen zu ueberlassen. Aber die Nacht draussen, die man nicht mehr kannte, wurde auf einmal ganz stark im Gehoer. Das an so vielen freien oder gefaehrlichen Naechten erfahrene Ohr unterschied einzelne Stuecke der Stille. Und doch war es anders diesmal. Nicht die Nacht zwischen gestern und heute: eine Nacht. Nacht. Beau Sire Dieu, und dann die Auferstehung. Kaum dass in solche Stunden die Beruehmung um eine Geliebte hineinreichte: sie waren alle verstellt in Tagliedern und Diengedichten; unbegreiflich geworden unter langen nachschleppenden Prunknamen. Hoechstens, im Dunkel, wie das volle, frauige Aufschaun eines Bastardsohns. Und dann, vor dem spaeten Nachtessen diese Nachdenklichkeit ueber die Haende in dem silbernen Waschbecken. Die eigenen Haende. Ob ein Zusammenhang in das Ihre zu bringen war? eine Folge, eine Fortsetzung im Greifen und Lassen? Nein. Alle versuchten das Teil und das Gegenteil. Alle hoben sich auf, Handlung war keine.

Es gab keine Handlung, ausser bei den Missionsbruedern. Der Koenig, so wie er sie hatte sich gebaerden sehn, erfand selbst den Freibrief fuer sie. Er redete sie seine lieben Brueder an; nie war ihm jemand so nahegegangen. Es wurde ihnen woertlich bewilligt, in ihrer Bedeutung unter den Zeitlichen herumzugehen; denn der Koenig wuenschte nichts mehr, als dass sie viele anstecken sollten und hineinreissen in ihre starke Aktion, in der Ordnung war. Was ihn selbst betrifft, so sehnte er sich, von ihnen zu lernen. Trug er nicht, ganz wie sie, die Zeichen und Kleider eines Sinnes an sich? Wenn er ihnen zusah, so konnte er glauben, dies muesste sich erlernen lassen: zu kommen und zu gehen, auszusagen und sich abzubiegen, so dass kein Zweifel war. Ungeheuere Hoffnungen ueberzogen sein Herz. In diesem unruhig beleuchteten, merkwuerdig unbestimmten Saal des Dreifaltigkeitshospitals sass er taeglich an seinem besten Platz und stand auf vor Erregung und nahm sich zusammen wie ein Schueler. Andere weinten; er aber war innen voll glaenzender Traenen und presste nur die kalten Haende ineinander, um es zu ertragen. Manchmal im Aeussersten, wenn ein abgesprochener Spieler ploetzlich wegtrat aus seinem grossen Blick, hob er das Gesicht und erschrak: seit wie lange schon war Er da: Monseigneur Sankt Michaël, oben, vorgetreten an den Rand des Geruests in seiner spiegelnden silbernen Ruestung.

In solchen Momenten richtete er sich auf. Er sah um sich wie vor einer Entscheidung. Er war ganz nahe daran, das Gegenstueck zu dieser Handlung hier einzusehen: die grosse, bange, profane Passion, in der er spielte. Aber auf einmal war es vorbei. Alle bewegten sich ohne Sinn. Offene Fackeln kamen auf ihn zu, und in die Woelbung hinauf warfen sich formlose Schatten. Menschen, die er nicht kannte, zerrten an ihm. Er wollte spielen: aber aus seinem Mund kam nichts, seine Bewegungen ergaben keine Gebaerde. Sie draengten sich so eigentuemlich um ihn, es kam ihm die Idee, dass er das Kreuz tragen sollte. Und er wollte warten, dass sie es braechten. Aber sie waren staerker, und sie schoben ihn langsam hinaus.

Aussen ist vieles anders geworden. Ich weiss nicht wie. Aber innen und vor Dir, mein Gott, innen vor Dir, Zuschauer: sind wir nicht ohne Handlung? Wir entdecken wohl, dass wir die Rolle nicht wissen, wir suchen einen Spiegel, wir moechten abschminken und das Falsche abneh men und wirklich sein. Aber irgendwo haftet uns noch ein Stueck Verkleidung an, das wir vergessen. Eine Spur Uebertreibung bleibt in unseren Augenbrauen, wir merken nicht, dass unsere Mundwinkel verbogen sind. Und so gehen wir herum, ein Gespoett und eine Haelfte: weder Seiende, noch Schauspieler.

Das war im Theater zu Orange. Ohne recht aufzusehen, nur im Bewusstsein des rustiken Bruchs, der jetzt seine Fassade ausmacht, war ich durch die kleine Glastuer des Waechters eingetreten. Ich befand mich zwischen liegenden Saeulenkoerpern und kleinen Althaeabaeumen, aber sie verdeckten mir nur einen Augenblick die offene Muschel des Zuschauerhangs, die dalag, geteilt von den Schatten des Nachmittags, wie eine riesige konkave Sonnenuhr. Ich ging rasch auf sie zu. Ich fuehlte, zwischen den Sitzreihen aufsteigend, wie ich abnahm in dieser Umgebung. Oben, etwas hoeher, standen, schlecht verteilt, ein paar Fremde herum in muessiger Neugier; ihre Anzuege waren unangenehm deutlich, aber ihr Massstab war nicht der Rede wert. Eine Weile fassten sie mich ins Auge und wunderten sich ueber meine Kleinheit. Das machte, dass ich mich umdrehte.

Oh, ich war voellig unvorbereitet. Es wurde gespielt. Ein immenses, ein uebermenschliches Drama war im Gange, das Drama dieser gewaltigen Szenenwand, deren senkrechte Gliederung dreifach auftrat, droehnend vor Groesse, fast vernichtend und ploetzlich massvoll im Uebermass. Ich liess mich hin vor gluecklicher Bestuerzung. Dieses Ragende da mit der antlitzhaften Ordnung seiner Schatten, mit dem gesammelten Dunkel im Mund seiner Mitte, begrenzt, oben, von des Kranzgesimses gleichlockiger Haartracht: dies war die starke, alles verstellende antikische Maske, hinter der die Welt zum Gesicht zusammenschoss. Hier, in diesem grossen, eingebogenen Sitzkreis herrschte ein wartendes, leeres, saugendes Dasein: alles Geschehen war drueben: Goetter und Schicksal. Und von drueben kam (wenn man hoch aufsah) leicht, ueber den Wandgrat: der ewige Einzug der Himmel. Diese Stunde, das begreife ich jetzt, schloss mich fuer immer aus von unseren Theatern. Was soll ich dort? Was soll ich vor einer Szene, in der diese Wand (die Ikonwand der russischen Kirchen) abgetragen wurde, weil man nicht mehr die Kraft hat, durch ihre Haerte die Handlung durchzupressen, die gasfoermige, die in vollen schweren Oeltropfen austritt. Nun fallen die Stuecke in Brocken durch das lochige Grobsieb der Buehnen und haeufen sich an und werden weggeraeumt, wenn es genug ist. Es ist dieselbe ungare Wirklichkeit, die auf den Strassen liegt und in den Haeusern, nur dass mehr davon dort zusammenkommt, als sonst in einen Abend geht.

(Lasst uns doch aufrichtig sein, wir haben kein Theater, so wenig wir einen Gott haben: dazu gehoert Gemeinsamkeit. Jeder hat seine besonderen Einfaelle und Befuerchtungen, und er laesst den andern so viel davon sehen, als ihm nuetzt und passt. Wir verduennen fortwaehrend unser Verstehen, damit es reichen soll, statt zu schreien nach der Wand einer gemeinsamen Not, hinter der das Unbegreifliche Zeit hat, sich zu sammeln und anzuspannen.)

Haetten wir ein Theater, stuendest du dann, du Tragische immer wieder so schmal, so bar, so ohne Gestaltvorwand vor denen, die an deinem ausgestellten Schmerz ihre eilige Neugier vergnuegen? Du sahst, unsaeglich Ruehrende, das Wirklichsein deines Leidens voraus, in Verona damals, als du, fast noch ein Kind, theaterspielend, lauter Rosen vor dich hieltst wie eine maskige Vorderansicht, die dich gesteigert verbergen sollte. Es ist wahr, du warst ein Schauspielerkind, und wenn die Deinen spielten, so wollten sie gesehen sein; aber du schlugst aus der Art. Dir sollte dieser Beruf werden, was fuer Marianna Alcoforado, ohne dass sie es ahnte, die Nonnenschaft war, eine Verkleidung, dicht und dauernd genug, um hinter ihr rueckhaltlos elend zu sein, mit der Instaendigkeit, mit der unsichtbare Selige selig sind. In allen Staedten, wohin du kamst, beschrieben sie deine Gebaerde; aber sie begriffen nicht, wie du, aussichtsloser von Tag zu Tag, immer wieder eine Dichtung vor dich hobst, ob sie dich berge. Du hieltest dein Haar, deine Haende, irgendein dichtes Ding vor die durchscheinenden Stellen. Du hauchtest die an, die durchsichtig waren; du machtest dich klein; du verstecktest dich, wie Kinder sich verstecken, und dann hattest du jenen kurzen, gluecklichen Auflaut, und hoechstens ein Engel haette dich suchen duerfen. Aber, schautest du dann vorsichtig auf, so war kein Zweifel, dass sie dich die ganze Zeit gesehen hatten, alle in dem haesslichen, hohlen, aeugigen Raum: dich, dich, dich und nichts anderes.

Und es kam dich an, ihnen den Arm verkuerzt entgegenzustrecken mit dem Fingerzeichen gegen den boesen Blick. Es kam dich an, ihnen dein Gesicht zu entreissen, an dem sie zehrten. Es kam dich an, du selber zu sein. Deinen Mitspielern fiel der Mut; als haette man sie mit einem Pantherweibchen zusammengesperrt, krochen sie an den Kulissen entlang und sprachen was faellig war, nur um dich nicht zu reizen. Da aber zogst sie hervor und stelltest sie hin und gingst mit ihnen um wie mit Wirklichen. Die schlappen Tueren, die hingetaeuschten Vorhaenge, die Gegenstaende ohne Hinterseite draengten dich zum Widerspruch. Du fuehltest, wie dein Herz sich unaufhaltsam steigerte zu einer immensen Wirklichkeit und, erschrocken, versuchtest du noch einmal die Blicke von dir abzunehmen wie lange Faeden Altweibersommers -: Aber da brachen sie schon in Beifall aus in ihrer Angst vor dem Aeussersten: wie um im letzten Moment etwas von sich abzuwenden, was sie zwingen wuerde, ihr Leben zu aendern.

Schlecht leben die Geliebten und in Gefahr. Ach, dass sie sich ueberstuenden und Liebende wuerden. Um die Liebenden ist lauter Sicherheit. Niemand verdaechtigt sie mehr, und sie selbst sind nicht imstande, sich zu verraten. In ihnen ist das Geheimnis heil geworden, sie schreien es im Ganzen aus wie Nachtigallen, es hat keine Teile. Sie klagen um einen; aber die ganze Natur stimmt in sie ein: es ist die Klage um einen Ewigen. Sie stuerzen sich dem Verlorenen nach, aber schon mit den ersten Schritten ueberholen sie ihn, und vor ihnen ist nur noch Gott. Ihre Legende ist die der Byblis, die den Kaunos verfolgt bis nach Lykien hin. Ihres Herzens Andrang jagte sie durch die Laender auf seiner Spur, und schliesslich war sie am Ende der Kraft; aber so stark war ihres Wesens Bewegtheit, dass sie, hinsinkend, jenseits vom Tod als Quelle wiedererschien, eilend, als eilende Quelle.

Was ist anderes der Portugiesin geschehen: als dass sie innen zur Quelle ward? Was dir, Heloïse? was euch, Liebenden, deren Klagen auf uns gekommen sind: Gaspara Stampa; Graefin von Die und Clara d’Anduze; Louise Labbe, Marceline Desbordes, Elisa Mercaeur? Aber du, arme fluechtige Aisse, du zoegertest schon und gabst nach. Muede Julie Lespinasse. Trostlose Sage des gluecklichen Parks: Marie-Anne de Clermont.

Ich weiss noch genau, einmal, vorzeiten, zuhaus, fand ich ein Schmucketui; es war zwei Haende gross, faecherfoermig mit einem eingepressten Blumenrand im dunkelgruenen Saffian. Ich schlug es auf: es war leer. Das kann ich nun sagen nach so langer Zeit. Aber damals, da ich es geoeffnet hatte, sah ich nur, woraus diese Leere bestand: aus Samt, aus einem kleinen Huegel lichten, nicht mehr frischen Samtes; aus der Schmuckrille, die, um eine Spur Wehmut heller, leer, darin verlief. Einen Augenblick war das auszuhalten. Aber vor denen, die als Geliebte zurueckbleiben, ist es vielleicht immer so.

Blaettert zurueck in euren Tagebuechern. War da nicht immer um die Fruehlinge eine Zeit, da das ausbrechende Jahr euch wie ein Vorwurf betraf? Es war Lust zum Frohsein in euch, und doch, wenn ihr hinaustratet in das geraeumige Freie, so entstand draussen eine Befremdung in der Luft, und ihr wurdet unsicher im Weitergehen wie auf einem Schiffe. Der Garten fing an; ihr aber (das war es), ihr schlepptet Winter herein und voriges Jahr; fuer euch war es bestenfalls eine Fortsetzung. Waehrend ihr wartetet, dass eure Seele teilnaehme, empfandet ihr ploetzlich eurer Glieder Gewicht, und etwas wie die Moeglichkeit, krank zu werden, drang in euer offenes Vorgefuehl. Ihr schobt es auf euer zu leichtes Kleid, ihr spanntet den Schal um die Schultern, ihr lieft die Allee bis zum Schluss: und dann standet ihr, herzklopfend, in dem weiten Rondell, entschlossen mit alledem einig zu sein. Aber ein Vogel klang und war allein und verleugnete euch. Ach, haettet ihr muessen gestorben sein?

Vielleicht. Vielleicht ist das neu, dass wir das ueberstehen: das Jahr und die Liebe. Blueten und Fruechte sind reif, wenn sie fallen; die Tiere fuehlen sich und finden sich zueinander und sind es zufrieden. Wir aber, die wir uns Gott vorgenommen haben, wir koennen nicht fertig werden. Wir ruecken unsere Natur hinaus, wir brauchen noch Zeit. Was ist uns ein Jahr? Was sind alle? Noch eh wir Gott angefangen haben, beten wir schon zu ihm: lass uns die Nacht ueberstehen. Und dann das Kranksein. Und dann die Liebe. Dass Clemence de Bourges hat sterben muessen in ihrem Aufgang. Sie, die ohne gleichen war; unter den Instrumenten, die sie wie keine zu spielen verstand, das schoenste, selber im mindesten Klang ihrer Stimme unvergesslich gespielt. Ihr Maedchentum war von so hoher Entschlossenheit, dass eine flutende Liebende diesem aufkommenden Herzen das Buch Sonette zueignen konnte, darin jeder Vers ungestillt war. Louise Labbe fuerchtete nicht, dieses Kind zu erschrecken mit der Leidenslaenge der Liebe. Sie zeigte ihr das naechtliche Steigen der Sehnsucht; sie versprach ihr den Schmerz wie einen groesseren Weltraum; und sie ahnte, dass sie mit ihrem erfahrenen Weh hinter dem dunkel erwarteten zurueckblieb, von dem diese Juenglingin schoen war.

Maedchen in meiner Heimat. Dass die schoenste von euch im Sommer an einem Nachmittag in der verdunkelten Bibliothek sich das kleine Buch faende, das Jan des Tournes 1556 gedruckt hat. Dass sie den kuehlenden, glatten Band mitnaehme hinaus in den summenden Obstgarten oder hinueber zum Phlox, in dessen uebersuesstem Duft ein Bodensatz schierer Suessigkeit steht. Dass sie es frueh faende. In den Tagen, da ihre Augen anfangen, auf sich zu halten, waehrend der juengere Mund noch imstande ist, viel zu grosse Stuecke von einem Apfel abzubeissen und voll zu sein.

Und wenn dann die Zeit der bewegteren Freundschaften kommt, Maedchen, dass es euer Geheimnis waere, einander Dika zu rufen und Anaktoria, Gyrinno und Atthis. Dass einer, ein Nachbar vielleicht, ein aelterer Mann, der in seiner Jugend gereist ist und laengst als Sonderling gilt, euch diese Namen verriete. Dass er euch manchmal zu sich einluede, um seiner beruehmten Pfirsiche willen oder wegen der Ridingerstiche zur Equitation oben im weissen Gang, von denen so viel gesprochen wird, dass man sie muesste gesehen haben.

Vielleicht ueberredet ihr ihn zu erzaehlen. Vielleicht ist die unter euch, die ihn erbitten kann, die alten Reisetagebuecher hervorzuholen, wer kann es wissen? Dieselbe, die es ihm eines Tags zu entlocken versteht, dass einzelne Gedichtstellen der Sappho auf uns gekommen sind, und die nicht ruht bis sie weiss, was fast ein Geheimnis ist: dass dieser zurueckgezogene Mann es liebte, zuzeiten seine Musse an die Uebertragung dieser Versstuecke zu wenden. Er muss zugeben, dass er lange nicht mehr daran gedacht hat, und was da ist, versichert er, sei nicht der Rede wert. Aber nun freut es ihn doch, vor diesen arglosen Freundinnen, wenn sie sehr draengen, eine Strophe zu sagen. Er entdeckt sogar den griechischen Wortlaut in seinem Gedaechtnis, er spricht ihn vor, weil die Uebersetzung nichts giebt, seiner Meinung nach, und um dieser Jugend den schoenen, echten Bruch der massiven Schmucksprache zu zeigen, die in so starken Flammen gebogen ward.

Ueber dem allen erwaermt er sich wieder fuer seine Arbeit. Es kommen schoene, fast jugendliche Abende fuer ihn, Herbstabende zum Beispiel, die sehr viel stille Nacht vor sich haben. In seinem Kabinett ist dann lange Licht. Er bleibt nicht immer ueber die Blaetter gebeugt, er lehnt sich oft zurueck, er schliesst die Augen ueber einer wiedergelesenen Zeile, und ihr Sinn verteilt sich in seinem Blut. Nie war er der Antike so gewiss. Fast moechte er der Generationen laecheln, die sie beweint haben wie ein verlorenes Schauspiel, in dem sie gerne aufgetreten waeren. Nun begreift er momentan die dynamische Bedeutung jener fruehen Welteinheit, die etwas wie ein neues, gleichzeitiges Aufnehmen aller menschlichen Arbeit war. Es beirrt ihn nicht, dass jene konsequente Kultur mit ihren gewissermassen vollzaehligen Versichtbarungen fuer viele spaetere Blicke ein Ganzes zu bilden schien und ein im Ganzen Vergangenes. Zwar ward dort wirklich des Lebens himmlische Haelfte an die halbrunde Schale des Daseins gepasst, wie zwei volle Hemisphaeren zu einer heilen, goldenen Kugel zusammengehen. Doch dies war kaum geschehen, so empfanden die in ihr eingeschlossenen Geister diese restlose Verwirklichung nur noch als Gleichnis; das massive Gestirn verlor an Gewicht und stieg auf in den Raum, und in seiner goldenen Rundung spiegelte sich zurueckhaltend die Traurigkeit dessen, was noch nicht zu bewaeltigen war. Wie er dies denkt, der Einsame in seiner Nacht, denkt und einsieht, bemerkt er einen Teller mit Fruechten auf der Fensterbank. Unwillkuerlich greift er einen Apfel heraus und legt ihn vor sich auf den Tisch. Wie steht mein Leben herum um diese Frucht, denkt er. Um alles Fertige steigt das Ungetane und steigert sich.

Und da, ueber dem Ungetanen, ersteht ihm, fast zu schnell, die kleine, ins Unendliche hinaus gespannte Gestalt, die (nach Galiens Zeugnis) alle meinten, wenn sie sagten: die Dichterin. Denn wie hinter den Werken des Herakles Abbruch und Umbau der Welt verlangend aufstand, so draengten sich, gelebt zu werden, aus den Vorraeten des Seins an die Taten ihres Herzens die Seligkeiten und Verzweiflungen heran, mit denen die Zeiten auskommen muessen.

Er kennt auf einmal dieses entschlossene Herz, das bereit war, die ganze Liebe zu leisten bis ans Ende. Es wundert ihn nicht, dass man es verkannte; dass man in dieser ueberaus kuenftigen Liebenden nur das Uebermass sah, nicht die neue Masseinheit von Liebe und Herzleid. Dass man die Inschrift ihres Daseins auslegte wie sie damals gerade glaubhaft war, dass man ihr endlich den Tod derjenigen zuschrieb, die der Gott einzeln anreizt, aus sich hinauszulieben ohne Erwiderung. Vielleicht waren selbst unter den von ihr gebildeten Freundinnen solche, die es nicht begriffen: dass sie auf der Hoehe ihres Handelns nicht um einen klagte, der ihre Umarmung offen liess, sondern um den nicht mehr Moeglichen, der ihrer Liebe gewachsen war. Hier steht der Sinnende auf und tritt an sein Fenster, sein hohes Zimmer ist ihm zu nah, er moechte Sterne sehen, wenn es moeglich ist. Er taeuscht sich nicht ueber sich selbst. Er weiss, dass diese Bewegung ihn erfuellt, weil unter den jungen Maedchen aus der Nachbarschaft die eine ist, die ihn angeht. Er hat Wuensche (nicht fuer sich, nein, aber fuer sie); fuer sie versteht er in einer naechtlichen Stunde, die voruebergeht, den Anspruch der Liebe. Er verspricht sich, ihr nichts davon zu sagen. Es scheint ihm das Aeusserste, allein zu sein und wach und um ihretwillen zu denken, wie sehr im Recht jene Liebende war: wenn sie wusste, dass mit der Vereinigung nichts gemeint sein kann, als ein Zuwachs an Einsamkeit; wenn sie den zeitlichen Zweck des Geschlechtes durchbrach mit seiner unendlichen Absicht. Wenn sie im Dunkel der Umarmungen nicht nach Stillung grub, sondern nach Sehnsucht. Wenn sie es verachtete, dass von Zweien einer der Liebende sei und einer Geliebter, und die schwachen Geliebten, die sie sich zum Lager trug, an sich zu Liebenden gluehte, die sie verliessen. An solchen hohen Abschieden wurde ihr Herz zur Natur. Ueber dem Schicksal sang sie den firnen Lieblinginnen ihr Brautlied; erhoehte ihnen die Hochzeit; uebertrieb ihnen den nahen Gemahl, damit sie sich zusammennaehmen fuer ihn wie fuer einen Gott und auch noch seine Herrlichkeit ueberstuenden.

Einmal noch, Abelone, in den letzten Jahren fuehlte ich und sah dich ein, unerwartet, nachdem ich lange nicht an dich gedacht hatte. Das war in Venedig, im Herbst, in einem jener Salons, in denen Fremde sich voruebergehend um die Dame des Hauses versammeln, die fremd ist wie sie. Diese Leute stehen herum mit ihrer Tasse Tee und sind entzueckt, sooft ein kundiger Nachbar sie kurz und verkappt nach der Tuer dreht, um ihnen einen Namen zuzufluestern, der venezianisch klingt. Sie sind auf die aeussersten Namen gefasst, nichts kann sie ueberraschen; denn so sparsam sie sonst auch im Erleben sein moegen, in dieser Stadt geben sie sich nonchalant den uebertriebensten Moeglichkeiten hin. In ihrem gewoehnlichen Dasein verwechseln sie bestaendig das Ausserordentliche mit dem Verbotenen, so dass die Erwartung des Wunderbaren, die sie sich nun gestatten, als ein grober, ausschweifender Ausdruck in ihre Gesichter tritt. Was ihnen zu Hause nur momentan in Konzerten passiert oder wenn sie mit einem Roman allein sind, das tragen sie unter diesen schmeichelnden Verhaeltnissen als berechtigten Zustand zur Schau. Wie sie, ganz unvorbereitet, keine Gefahr begreifend, von den fast toedlichen Gestaendnissen der Musik sich anreizen lassen wie von koerperlichen Indiskretionen, so ueberliefern sie sich, ohne die Existenz Venedigs im geringsten zu bewaeltigen, der lohnenden Ohnmacht der Gondeln. Nicht mehr neue Eheleute, die waehrend der ganzen Reise nur gehaessige Repliken fuer einander hatten, versinken in schweigsame Vertraeglichkeit; ueber den Mann kommt die angenehme Muedigkeit seiner Ideale, waehrend sie sich jung fuehlt und den traegen Einheimischen aufmunternd zunickt mit einem Laecheln, als haette sie Zaehne aus Zucker, die sich bestaendig aufloesen. Und hoert man hin, so ergiebt es sich, dass sie morgen reisen oder uebermorgen oder Ende der Woche.

Da stand ich nun zwischen ihnen und freute mich, dass ich nicht reiste. In kurzem wuerde es kalt sein. Das weiche, opiatische Venedig ihrer Vorurteile und Beduerfnisse verschwindet mit diesen somnolenten Auslaendern, und eines Morgens ist das andere da, das wirkliche, wache, bis zum Zerspringen sproede, durchaus nicht ertraeumte: das mitten im Nichts auf versenkten Waeldern gewollte, erzwungene und endlich so durch und durch vorhandene Venedig. Der abgehaertete, auf das Noetigste beschraenkte Koerper, durch den das nachtwache Arsenal das Blut seiner Arbeit trieb, und dieses Koerpers penetranter, sich fortwaehrend erweiternder Geist, der staerker war als der Duft aromatischer Laender. Der suggestive Staat, der das Salz und Glas seiner Armut austauschte gegen die Schaetze der Voelker. Das schoene Gegengewicht der Welt, das bis in seine Zierate hinein voll latenter Energien steht, die sich immer feiner vernervten—: dieses Venedig. Das Bewusstsein, dass ich es kannte, ueberkam mich unter allen diesen sich taeuschenden Leuten mit so viel Widerspruch, dass ich aufsah, um mich irgendwie mitzuteilen. War es denkbar, dass in diesen Saelen nicht einer war, der unwillkuerlich darauf wartete, ueber das Wesen dieser Umgebung aufgeklaert zu sein? Ein junger Mensch, der es sofort begriff, dass hier nicht ein Genuss aufgeschlagen war, sondern ein Beispiel des Willens, wie es nirgends anfordernder und strenger sich finden liess? Ich ging umher, meine Wahrheit beunruhigte mich. Da sie mich hier unter 50 vielen ergriffen hatte, brachte sie den Wunsch mit, ausgesprochen, verteidigt, bewiesen zu sein. Die groteske Vorstellung entstand in mir, wie ich im naechsten Augenblick in die Haende klatschen wuerde aus Hass gegen das von allen zerredete Missverstaendnis.

In dieser laecherlichen Stimmung bemerkte ich sie. Sie stand allein vor einem strahlenden Fenster und betrachtete mich; nicht eigentlich mit den Augen, die ernst und nachdenklich waren, sondern geradezu mit dem Mund, der den offenbar boesen Ausdruck meines Gesichtes ironisch nachahmte. Ich fuehlte sofort die ungeduldige Spannung in meinen Zuegen und nahm ein gelassenes Gesicht an, worauf ihr Mund natuerlich wurde und hochmuetig. Dann, nach kurzem Bedenken, laechelten wir einander gleichzeitig zu.

Sie erinnerte, wenn man will, an ein gewisses Jugendbildnis der schoenen Benedicte von Qualen, die in Baggesens Leben eine Rolle spielt. Man konnte die dunkle Stille ihrer Augen nicht sehen ohne die klare Dunkelheit ihrer Stimme zu vermuten. Uebrigens war die Flechtung ihres Haars und der Halsausschnitt ihres hellen Kleides so kopenhagisch, dass ich entschlossen war, sie daenisch anzureden.

Ich war aber noch nicht nahe genug, da schob sich von der andern Seite eine Stroemung zu ihr hin; unsere gaesteglueckliche Graefin selbst, in ihrer warmen, begeisterten Zerstreutheit, stuerzte sich mit einer Menge Beistand ueber sie, um sie auf der Stelle zum Singen abzufuehren. Ich war sicher, dass das junge Maedchen sich damit entschuldigen wuerde, dass niemand in der Gesellschaft Interesse haben koenne, daenisch singen zu hoeren. Dies tat sie auch, sowie sie zu Worte kam. Das Gedraenge um die lichte Gestalt herum wurde eifriger; jemand wusste, dass sie auch deutsch singe. "Und italienisch", ergaenzte eine lachende Stimme mit boshafter Ueberzeugung. Ich wusste keine Ausrede, die ich ihr haette wuenschen koennen, aber ich zweifelte nicht, dass sie widerstehen wuerde. Schon breitete sich eine trockene Gekraenktheit ueber die vom langen Laecheln abgespannten Gesichter der Ueberredenden aus, schon trat die gute Graefin, um sich nichts zu vergeben, mitleidig und wuerdig einen Schritt ab, da, als es durchaus nicht mehr noetig war, gab sie nach. Ich fuehlte, wie ich blass wurde vor Enttaeuschung; mein Blick fuellte sich mit Vorwurf, aber ich wandte mich weg, es lohnte nicht, sie das sehn zu lassen. Sie aber machte sich von den andern los und war auf einmal neben mir. Ihr Kleid schien mich an, der blumige Geruch ihrer Waerme stand um mich.

"Ich will wirklich singen", sagte sie auf daenisch meine Wange entlang, "nicht weil sie’s verlangen, nicht zum Schein: weil ich jetzt singen muss." Aus ihren Worten brach dieselbe boese Unduldsamkeit, von welcher sie mich eben befreit hatte.

Ich folgte langsam der Gruppe, mit der sie sich entfernte. Aber an einer hohen Tuer blieb ich zurueck und liess die Menschen sich verschieben und ordnen. Ich lehnte mich an das schwarzspiegelnde Tuerinnere und wartete. Jemand fragte mich, was sich vorbereite, ob man singen werde. Ich gab vor, es nicht zu wissen. Waehrend ich log, sang sie schon.

Ich konnte sie nicht sehen. Es wurde allmaehlich Raum um eines jener italienischen Lieder, die die Fremden fuer sehr echt halten, weil sie von so deutlicher Uebereinkunft sind. Sie, die es sang, glaubte nicht daran. Sie hob es mit Muehe hinauf, sie nahm es viel zu schwer. An dem Beifall vorne konnte man merken, wann es zu Ende war. Ich war traurig und beschaemt. Es entstand einige Bewegung, und ich nahm mir vor, sowie jemand gehen wuerde, mich anzuschliessen.

Aber da wurde es mit einemmal still. Eine Stille ergab sich, die eben noch niemand fuer moeglich gehalten haette; sie dauerte an, sie spannte sich, und jetzt erhob sich in ihr die Stimme. (Abelone, dachte ich. Abelone.) Diesmal war sie stark, voll und doch nicht schwer; aus einem Stueck, ohne Bruch, ohne Naht. Es war ein unbekanntes deutsches Lied. Sie sang es merkwuerdig einfach, wie etwas Notwendiges. Sie sang:

"Du, der ichs nicht sage, dass ich bei Nacht weinend liege, deren Wesen mich muede macht wie eine Wiege. Du, die mir nicht sagt, wenn sie wacht meinetwillen: wie, wenn wir diese Pracht ohne zu stillen in uns ertruegen? (kurze Pause und zoegernd): Sieh dir die Liebenden an, wenn erst das Bekennen begann, wie bald sie luegen."

Wieder die Stille. Gott weiss, wer sie machte. Dann ruehrten sich die Leute, stiessen aneinander, entschuldigten sich, huestelten. Schon wollten sie in ein allgemeines verwischendes Geraeusch uebergehen, da brach ploetzlich die Stimme aus, entschlossen, breit und gedraengt:

"Du machst mich allein. Dich einzig kann ich vertau schen. Eine Weile bist dus, dann wieder ist es das Rauschen, oder es ist ein Duft ohne Rest.

Ach, in den Armen hab ich sie alle verloren, du nur, du wirst immer wieder geboren: weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest."

Niemand hatte es erwartet. Alle standen gleichsam geduckt unter dieser Stimme. Und zum Schluss war eine solche Sicherheit in ihr, als ob sie seit Jahren gewusst haette, dass sie in diesem Augenblick wuerde einzusetzen haben.

Manchmal frueher fragte ich mich, warum Abelone die Kalorien ihres grossartigen Gefuehls nicht an Gott wandte. Ich weiss, sie sehnte sich, ihrer Liebe alles Transitive zu nehmen, aber konnte ihr wahrhaftiges Herz sich darueber taeuschen, dass Gott nur eine Richtung der Liebe ist, kein Liebesgegenstand? Wusste sie nicht, dass keine Gegenliebe von ihm zu fuerchten war? Kannte sie nicht die Zurueckhaltung dieses ueberlegenen Geliebten, der die Lust ruhig hinausschiebt, um uns, Langsame, unser ganzes Herz leisten zu lassen? Oder—wollte sie Christus vermeiden? Fuerchtete sie, halben Wegs von ihm aufgehalten, an ihm zur Geliebten zu werden? Dachte sie deshalb ungern an Julie Reventlow?

Fast glaube ich es, wenn ich bedenke, wie an dieser Erleichterung Gottes eine so einfaeltige Liebende wie Mechthild, eine so hinreissende wie Therese von Avila, eine so wunde wie die Selige Rose von Lima, hinsinken konnte, nachgiebig, doch geliebt. Ach, der fuer die Schwachen ein Helfer war) ist diesen Starken ein Unrecht; wo sie schon nichts mehr erwarteten, als den unendlichen Weg, da tritt sie noch einmal im spannenden Vorhimmel ein Gestalteter an und verwoehnt sie mit Unterkunft und verwirrt sie mit Mannheit. Seines stark brechenden Herzens Linse nimmt noch einmal ihre schon parallelen Herzstrahlen zusamm, und sie, die die Engel schon ganz fuer Gott zu erhalten hofften, flammen auf in der Duerre ihrer Sehnsucht. (Geliebtsein heisst aufbrennen. Lieben ist: Leuchten mit unerschoepflichem Oele. Geliebtwerden ist vergehen, Lieben ist dauern.)

Es ist gleichwohl moeglich, dass Abelone in spaeteren Jahren versucht hat, mit dem Herzen zu denken, um unauffaellig und unmittelbar mit Gott in Beziehung zu kommen. Ich koennte mir vorstellen, dass es Briefe von ihr giebt, die an die aufmerksame innere Beschauung der Fuerstin Amalie Galitzin erinnern; aber wenn diese Briefe an jemanden gerichtet waren, dem sie seit Jahren nahestand, wie mag der gelitten haben unter ihrer Veraenderung. Und sie selbst: ich vermute, sie fuerchtete nichts als jenes gespenstische Anderswerden, das man nicht merkt, weil man bestaendig alle Beweise dafuer, wie das Fremdeste, aus den Haenden laesst.

Man wird mich schwer davon ueberzeugen, dass die Geschichte des verlorenen Sohnes nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt werden wollte. Da er ein Kind war, liebten ihn alle im Hause. Er wuchs heran, er wusste es nicht anders und gewoehnte sich in ihre Herzweiche, da er ein Kind war. Aber als Knabe wollte er seine Gewohnheiten ablegen. Er haette es nicht sagen koennen, aber wenn er draussen herumstrich den ganzen Tag und nicht einmal mehr die Hunde mithaben wollte, so wars, weil auch sie ihn liebten: weil in ihren Blicken Beobachtung war und Teilnahme, Erwartung und Besorgtheit; weil man auch vor ihnen nichts tun konnte, ohne zu freuen oder zu kraenken. Was er aber damals meinte, das war die innige Indifferenz seines Herzens, die ihn manchmal frueh in den Feldern mit solcher Reinheit ergriff, dass er zu laufen begann, um nicht Zeit und Atem zu haben, mehr zu sein als ein leichter Moment, in dem der Morgen zum Bewusstsein kommt. Das Geheimnis seines noch nie gewesenen Lebens breitete sich vor ihm aus. Unwillkuerlich verliess er den Fusspfad und lief weiter feldein, die Arme ausgestreckt, als koennte er in dieser Breite mehrere Richtungen auf einmal bewaeltigen. Und dann warf er sich irgendwo hinter eine Flecke, und niemand legte Wert auf ihn. Er schaelte sich eine Floete, er schleuderte einen Stein nach einem kleinen Raubtier, er neigte sich vor und zwang einen Kaefer umzukehren: dies alles wurde kein Schicksal, und die Himmel gingen wie ueber Natur. Schliesslich kam der Nachmittag mit lauter Einfaellen; man war ein Bucanier auf der Insel Tortuga, und es lag keine Verpflichtung darin, es zu sein; man belagerte Campeche, man eroberte Vera-Cruz; es war moeglich, das ganze Heer zu sein oder ein Anfuehrer zu Pferd oder ein Schiff auf dem Meer: je nachdem man sich fuehlte. Fiel es einem aber ein, hinzuknien, so war man rasch Deodat von Gozon und hatte den Drachen erlegt und vernahm, ganz heiss, dass dieses Heldentum hoffaehrtig war, ohne Gehorsam. Denn man ersparte sich nichts, was zur Sache gehoerte. Soviel Einbildungen sich aber auch einstellten, zwischendurch war immer noch Zeit, nichts als ein Vogel zu sein, ungewiss welcher. Nur dass der Heimweg dann kam.

Mein Gott, was war da alles abzulegen und zu vergessen; denn richtig vergessen, das war noetig; sonst verriet man sich, wenn sie draengten. Wie sehr man auch zoegerte und sich umsah, schliesslich kam doch der Giebel herauf. Das erste Fenster oben fasste einen ins Auge, es mochte wohl jemand dort stehen. Die Hunde, in denen die Erwartung den ganzen Tag angewachsen war, preschten durch die Buesche und trieben einen zusammen zu dem, den sie meinten. Und den Rest tat das Haus. Man musste nur eintreten in seinen vollen Geruch, schon war das Meiste entschieden. Kleinigkeiten konnten sich noch aendern; im ganzen war man schon der, fuer den sie einen hier hielten; der, dem sie aus seiner kleinen Vergangenheit und ihren eigenen Wuenschen laengst ein Leben gemacht hatten; das gemeinsame Wesen, das Tag und Nacht unter der Suggestion ihrer Liebe stand, zwischen ihrer Hoffnung und ihrem Argwohn, vor ihrem Tadel oder Beifall.

So einem nuetzt es nichts, mit unsaeglicher Vorsicht die Treppen zu steigen. Alle werden im Wohnzimmer sein, und die Tuere muss nur gehn, so sehen sie hin. Er bleibt im Dunkel, er will ihre Fragen abwarten. Aber dann kommt das Aergste. Sie nehmen ihn bei den Haenden, sie ziehen ihn an den Tisch, und alle, soviel ihrer da sind, strecken sich neugierig vor die Lampe. Sie haben es gut, sie halten sich dunkel, und auf ihn allein faellt, mit dem Licht, alle Schande, ein Gesicht zu haben.

Wird er bleiben und das ungefaehre Leben nachluegen, das sie ihm zuschreiben, und ihnen allen mit dem ganzen Gesicht aehnlich werden? Wird er sich teilen zwischen der zarten Wahrhaftigkeit seines Willens und dem plumpen Betrug, der sie ihm selber verdirbt? Wird er es aufgeben, das zu werden, was denen aus seiner Familie, die nur noch ein schwaches Herz haben, schaden koennte? Nein, er wird fortgehen. Zum Beispiel waehrend sie alle beschaeftigt sind, ihm den Geburtstagstisch zu bestellen mit den schlecht erratenen Gegenstaenden, die wieder einmal alles ausgleichen sollen. Fortgehen fuer immer. Viel spaeter erst wird ihm klar werden, wie sehr er sich damals vornahm, niemals zu lieben, um keinen in die entsetzliche Lage zu bringen, geliebt zu sein. Jahre hernach faellt es ihm ein und, wie andere Vorsaetze, so ist auch dieser unmoeglich gewesen. Denn er hat geliebt und wieder geliebt in seiner Einsamkeit; jedesmal mit Verschwendung seiner ganzen Natur und unter unsaeglicher Angst um die Freiheit des andern. Langsam hat er gelernt, den geliebten Gegenstand mit den Strahlen seines Gefuehls zu durchscheinen, statt ihn darin zu verzehren. Und er war verwoehnt von dem Entzuecken, durch die immer transparentere Gestalt der Geliebten die Weiten zu erkennen, die sie seinem unendlichen Besitzenwollen auftat. Wie konnte er dann naechtelang weinen vor Sehnsucht, selbst so durchleuchtet zu sein. Aber eine Geliebte, die nachgiebt, ist noch lang keine Liebende. O, trostlose Naechte, da er seine flutenden Gaben in Stuecken wiederempfing, schwer von Vergaenglichkeit. Wie gedachte er dann der Troubadours, die nichts mehr fuerchteten als erhoert zu sein. Alles erworbene und vermehrte Geld gab er dafuer hin, dies nicht noch zu erfahren. Er kraenkte sie mit seiner groben Bezahlung, von Tag zu Tag bang, sie koennten versuchen, auf seine Liebe einzugehen. Denn er hatte die Hoffnung nicht mehr, die Liebende zu erleben, die ihn durchbrach.

Selbst in der Zeit, da die Armut ihn taeglich mit neuen Haerten erschreckte, da sein Kopf das Lieblingsding des Elends war und ganz abgegriffen, da sich ueberall an seinem Leibe Geschwuere aufschlugen wie Notaugen gegen die Schwaerze der Heimsuchung, da ihm graute vor dem Unrat, auf dem man ihn verlassen hatte, weil er seinesgleichen war: selbst da noch, wenn er sich besann, war es sein groessestes Entsetzen, erwidert worden zu sein. Was waren alle Finsternisse seither gegen die dichte Traurigkeit jener Umarmungen, in denen sich alles verlor. Wachte man nicht auf mit dem Gefuehl, ohne Zukunft zu sein? Ging man nicht sinnlos umher ohne Anrecht auf alle Gefahr? Hatte man nicht hundertmal versprechen muessen, nicht zu sterben? Vielleicht war es der Eigensinn dieser argen Erinnerung, die sich von Wiederkunft zu Wiederkunft eine Stelle erhalten wollte, was sein Leben unter den Abfaellen waehren liess. Schliesslich fand man ihn wieder. Und erst dann, erst in den Hirtenjahren, beruhigte sich seine viele Vergangenheit. Wer beschreibt, was ihm damals geschah? Welcher Dichter hat die Ueberredung, seiner damaligen Tage Laenge zu vertragen mit der Kuerze des Lebens? Welche Kunst ist weit genug, zugleich seine schmale, vermantelte Gestalt hervorzurufen und den ganzen Ueberraum seiner riesigen Naechte.

Das war die Zeit, die damit begann, dass er sich allgemein und anonym fuehlte wie ein zoegernd Genesender. Er liebte nicht, es sei denn, dass er es liebte, zu sein. Die niedrige Liebe seiner Schafe lag ihm nicht an; wie Licht, das durch Wolken faellt, zerstreute sie sich um ihn her und schimmerte sanft ueber den Wiesen. Auf der schuldlosen Spur ihres Hungers schritt er schweigend ueber die Weiden der Welt. Fremde sahen ihn auf der Akropolis, und vielleicht war er lange einer der Hirten in den Baux und sah die versteinerte Zeit das hohe Geschlecht ueberstehen, das mit allem Erringen von Sieben und Drei die sechzehn Strahlen seines Sterns nicht zu bezwingen vermochte. Oder soll ich ihn denken zu Orange, an das laendliche Triumphtor geruht? Soll ich ihn sehen im seelengewohnten Schatten der Allyscamps, wie sein Blick zwischen den Graebern, die offen sind wie die Graeber Auferstandener, eine Libelle verfolgt?

Gleichviel. Ich seh mehr als ihn, ich sehe sein Dasein, das damals die lange Liebe zu Gott begann, die stille, ziellose Arbeit. Denn ueber ihn, der sich fuer immer hatte verhalten wollen, kam noch einmal das anwachsende Nichtanderskoennen seines Herzens. Und diesmal hoffte er auf Erhoerung. Sein ganzes, im langen Alleinsein ahnend und unbeirrbar gewordenes Wesen versprach ihm, dass jener, den er jetzt meinte, zu lieben verstuende mit durchdringender, strahlender Liebe. Aber waehrend er sich sehnte, endlich so meisterhaft geliebt zu sein, begriff sein an Fernen gewohntes Gefuehl Gottes aeussersten Abstand. Naechte kamen, da er meinte, sich auf ihn zuzuwerfen in den Raum; Stunden voller Entdeckung, in denen er sich stark genug fuehlte, nach der Erde zu tauchen, um sie hinaufzureissen auf der Sturmflut seines Herzens. Er war wie einer, der eine herrliche Sprache hoert und fiebernd sich vornimmt, in ihr zu dichten. Noch stand ihm die Bestuerzung bevor, zu erfahren, wie schwer diese Sprache sei; er wollte es nicht glauben zuerst, dass ein langes Leben darueber hingehen koenne, die ersten, kurzen Scheinsaetze zu bilden, die ohne Sinn sind. Er stuerzte sich ins Erlernen wie ein Laeufer in die Wette; aber die Dichte dessen, was zu ueberwinden war, verlangsamte ihn. Es war nichts auszudenken, was demuetigender sein konnte als diese Anfaengerschaft. Er hatte den Stein der Weisen gefunden, und nun zwang man ihn, das rasch gemachte Gold seines Gluecks unaufhoerlich zu verwandeln in das klumpige Blei der Geduld. Er, der sich dem Raum angepasst hatte, zog wie ein Wurm krumme Gaenge ohne Ausgang und Richtung. Nun, da er so muehsam und kummervoll lieben lernte, wurde ihm gezeigt, wie nachlaessig und gering bisher alle Liebe gewesen war, die er zu leisten vermeinte. Wie aus keiner etwas hatte werden koennen, weil er nicht begonnen hatte, an ihr Arbeit zu tun und sie zu verwirklichen.

In diesen Jahren gingen in ihm die grossen Veraenderungen vor. Er vergass Gott beinah ueber der harten Arbeit, sich ihm zu naehern, und alles, was er mit der Zeit vielleicht bei ihm zu erreichen hoffte, war "sa patience de supporter une ame". Die Zufaelle des Schicksals, auf die die Menschen halten, waren schon laengst von ihm abgefallen, aber nun verlor, selbst was an Lust und Schmerz notwendig war, den gewuerzhaften Beigeschmack und wurde rein und nahrhaft fuer ihn. Aus den Wurzeln seines Seins entwickelte sich die feste, ueberwinternde Pflanze einer fruchtbaren Freudigkeit. Er ging ganz darin auf, zu bewaeltigen, was sein Binnenleben ausmachte, er wollte nichts ueberspringen, denn er zweifelte nicht, dass in alledem seine Liebe war und zunahm. Ja, seine innere Fassung ging so weit, dass er beschloss, das Wichtigste von dem, was er frueher nicht hatte leisten koennen, was einfach nur durchwartet worden war, nachzuholen. Er dachte vor allem an die Kindheit, sie kam ihm, je ruhiger er sich besann, desto ungetaner vor; alle ihre Erinnerungen hatten das Vage von Ahnungen an sich, und dass sie als vergangen galten, machte sie nahezu zukuenftig. Dies alles noch einmal und nun wirklich auf sich zu nehmen, war der Grund, weshalb der Entfremdete heimkehrte. Wir wissen nicht, ob er blieb; wir wissen nur, dass er wiederkam.

Die die Geschichte erzaehlt haben, versuchen es an dieser Stelle, uns an das Haus zu erinnern, wie es war; denn dort ist nur wenig Zeit vergangen, ein wenig gezaehlter Zeit, alle im Haus koennen sagen, wieviel. Die Hunde sind alt geworden, aber sie leben noch. Es wird berichtet, dass einer aufheulte. Eine Unterbrechung geht durch das ganze Tagwerk. Gesichter erscheinen an den Fenstern, gealterte und erwachsene Gesichter von ruehrender Aehnlichkeit. Und in einem ganz alten schlaegt ganz ploetzlich blass das Erkennen durch. Das Erkennen? Wirklich nur das Erkennen?—Das Verzeihen. Das Verzeihen wovon?—Die Liebe. Mein Gott: die Liebe.

Er, der Erkannte, er hatte daran nicht mehr gedacht, beschaeftigt wie er war: dass sie noch sein koenne. Es ist begreiflich, dass von allem, was nun geschah, nur noch dies ueberliefert ward: seine Gebaerde, die unerhoerte Gebaerde, die man nie vorher gesehen hatte; die Gebaerde des Flehens, mit der er sich an ihre Fuesse warf, sie beschwoerend, dass sie nicht liebten. Erschrocken und schwankend hoben sie ihn zu sich herauf. Sie legten sein Ungestuem nach ihrer Weise aus, indem sie verziehen. Es muss fuer ihn unbeschreiblich befrei end gewesen sein, dass ihn alle missverstanden, trotz der verzweifelten Eindeutigkeit seiner Haltung. Wahrscheinlich konnte er bleiben. Denn er erkannte von Tag zu Tag mehr, dass die Liebe ihn nicht betraf, auf die sie so eitel waren und zu der sie einander heimlich ermunterten. Fast musste er laecheln, wenn sie sich anstrengten, und es wurde klar, wie wenig sie ihn meinen konnten.

Was wussten sie, wer er war. Er war jetzt furchtbar schwer zu lieben, und er fuehlte, dass nur Einer dazu imstande sei. Der aber wollte noch nicht.

Related Resources

None available for this document.

Download Options


Title: Aufzeichnungen Des Malte Laurids Brigge

Select an option:

*Note: A download may not start for up to 60 seconds.

Email Options


Title: Aufzeichnungen Des Malte Laurids Brigge

Select an option:

Email addres:

*Note: It may take up to 60 seconds for for the email to be generated.

Chicago: Rainer Maria Rilke, Aufzeichnungen Des Malte Laurids Brigge in Aufzeichnungen Des Malte Laurids Brigge Original Sources, accessed April 25, 2024, http://www.originalsources.com/Document.aspx?DocID=V9RZZLBEKUCX1AY.

MLA: Rilke, Rainer Maria. Aufzeichnungen Des Malte Laurids Brigge, in Aufzeichnungen Des Malte Laurids Brigge, Original Sources. 25 Apr. 2024. http://www.originalsources.com/Document.aspx?DocID=V9RZZLBEKUCX1AY.

Harvard: Rilke, RM, Aufzeichnungen Des Malte Laurids Brigge. cited in , Aufzeichnungen Des Malte Laurids Brigge. Original Sources, retrieved 25 April 2024, from http://www.originalsources.com/Document.aspx?DocID=V9RZZLBEKUCX1AY.